МЕЖДУНАРОДНЫЕ ОТНОШЕНИЯ
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ПОЛИТИКА АЛЬЯНСА В СУЭЦКОМ КРИЗИСЕ 1956 ГОДА
Т. Фрайбергер
ALLIANZ POLITIK IN DER SUEZKRISE 1956 T. Freiberger
В статье анализируется проблема кризиса НАТО в ходе Суэцкого кризиса 1956 г. (военные действия Великобритании, Франции и Израиля против усиления роли Египта в зоне Суэцкого канала и угрозы контроля со стороны Египта над поставками нефти в Западную Европу).
Автор рассматривает позицию в конфликте ведущих стран НАТО - Великобритании, Франции и США, обстоятельства вовлечения в войну Израиля, а также влияние позиции Советского Союза, Варшавского пакта и возможности применения атомного оружия.
Особое внимание обращено на дезинтеграционную опасность внутри НАТО. Автор выявляет причины негативного отношения США к военной операции на Ближнем Востоке и их отказа от вступления в региональный альянс под британским руководством («Багдатский пакт»). Позиция США в Суэцком кризисе определялась боязнью, что в результате войны Ближний Восток будет охвачен антизападными протестами, дестабилизируется и окажется в руках Советского Союза. Вашингтон предлагал мирное разрешение конфликта, а Лондон и Париж стремились вовлечь США в интервенцию. Соединённым Штатам удалось добиться, чтобы НАТО как институт вплоть до высшей точки кризиса не играл какой-либо значимой роли. «Диалог глухонемых» во время кризиса вылился во время войны в тяжёлую размолвку между Соединёнными Штатами, с одной стороны, и Великобританией и Францией - с другой стороны. Президент Эйзенхауэр невольно поставил НАТО на грань распада. Однако всё это проходило за кулисами, и общественность не заметила, что во время Суэцкого кризиса НАТО пережила один из тяжелейших кризисов времён холодной войны.
The problem of NATO's crisis during the Suez crisis in 1956 (military intervention of Britain, France and Israel to prevent the strengthening of Egypt in the Suez Canal zone) is analyzed in the paper.
The author examines the position of the leading NATO countries - Britain, France and the USA - in the conflict, circumstances of involvement of Israel in the war, influence of the Soviet Union’s position and the Warsaw pact, and the possibility of using of nuclear weapons.
Special attention is paid to the danger of disintegration within NATO. The author ascertains reasons for the negative attitude of the USA to the military operation in the Middle East and their refusal to join the regional alliance under British leadership («the Baghdad Pact»). The USA position in the Suez crisis was conditioned by fear that as a result of the war the Middle East will be engulfed by anti-Western protests and it’ll be in the hands of the Soviet Union. Washington offered a peaceful resolution of the conflict, and London and Paris sought to involve the USA in this intervention. The United States were able to ensure that NATO had not played any significant role up to the highest point of the crisis. «Dialogue of deaf-mutes» during the crisis escalated in heavy quarrel between the United States, Britain and France during the war. President Eisenhower had unwittingly set NATO on the brink of collapse. However, all this was passing behind the scenes, and the public did not notice that during the Suez crisis, NATO experienced one of the worst crises of the Cold War.
Ключевые слова: Суэцкий кризис 1956 года, НАТО, Великобритания, Франция, США, Израиль, Советский Союз, военный конфликт, Ближний Восток, Эйзенхауэр, Иден, Ги Молле, Бен-Гурион, кризис в НАТО
Keywords: 1956 Suez crisis, NATO, Britain, France, the United States, Israel, the Soviet Union, military conflict, Middle East, Eisenhower, Eden and Guy Mollet, Ben-Gurion, NATO crisis.
Am 26. Juli 1956 verstaatlichte der agyptische Staatsprasident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal und loste damit eine der schwersten internationalen Krisen in den 1950er Jahren aus. Jener Coup war eine direkte Ant-wort Nassers auf die Verweigerung des anglo-amerikanischen Kredits fur den Bau des Assuanstaudam-mes am 19. Juli 1956. Dieser Akt markierte in den Augen der Kolonialmachte England und Frankreich den End-punkt einer Entwicklung, die mit dem Aufstieg Nassers im Jahr 1952 begonnen und sich zunehmend bedrohlicher entwickelt hatte. Nachdem es Nasser im Jahr 1955 gelun-gen war von Moskau - uber tschechische Schleichwege -Waffen zu beziehen, genet der agyptische Oberst unter Verdacht, in das sowjetische Lager abzudriften und damit zum trojanischen Pferd der Sowjetunion im Nahen Osten
zu werden, zudem drohte die agyptische Aufrustung das prekare strategische Gleichgewicht zwischen Israel und den arabischen Staaten zu gefahrden. Die Verstaatlichung des Suezkanals, dessen Betreibergesellschaft zum Grofi-teil im Besitz der englischen und franzosischen Regierung war, brachte das Fass schliefilich zum uberlaufen. Vor allem war nun die lebenswichtige Olversorgung Westeu-ropas durch den Suezkanal vollkommen vom guten Wil-len Nassers abhangig.
In der Folge des agyptischen fait accompli fanden im August und September nach amerikanischen Vermitt-lungsbemuhungen zwei international Konferenzen in London statt, die eine Internationalisierung der Betreibergesellschaft zum Ziel hatten. Diese diplomatischen Initia-tiven scheiterten jedoch. Nach dem Fehlschlagen dieser
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Konferenzen entschlossen sich Groftbritannien und Frank-reich am 14. Oktober zur Durchfuhrung eines konzertier-ten Militarschlags mit israelischer Beteiligung gegen Agypten. Ziel der Intervention war ein Regimewechsel in Agypten und die Besetzung der Kanalzone. Dementspre-chend legten Israelis, Briten und Franzosen zwischen dem
22. und 25. Oktober im franzosischen Sevres den militari-schen Ablauf der Strafaktion in einem Geheimabkommen fest. Am 29. Oktober drangen israelische Streitkrafte uber den Sinai bis zur Kanalzone vor und lieferten damit den regionalen Ordnungsmachten England und Frankreich -wie abgesprochen - den Vorwand fur eine militarische Intervention. Nach Ablauf eines unannehmbaren Ultimatums der beiden Westmachte, begannen franzosische und englische Streitkrafte mit der Bombardierung agyptischer Luftwaffenstutzpunkte. Wenige Tage spater begann die Besetzung des Hafens von Port Said und der Kanalzone.
Das Komplott des „alten Europas“ trug jedoch in mehrfacher Hinsicht den Keim des Scheiterns bereits von Anfang an in sich. Paris und London hatten die amerika-nische Regierung nicht nur nicht informiert, sondern auch noch bewusst hintergangen, obwohl der im Wahlkampf befindliche amerikanische Prasident mehrfach im Verlauf der Krise den Einsatz von Gewalt abgelehnt hatte. Im Einklang mit einer aufgebrachten Weltoffentlichkeit und dem Kreml bezog Washington in den Vereinten Nationen Stellung gegen Frankreich und Groftbritannien. Zusatzlich ubte Eisenhower massiven okonomischen Druck auf England aus, womit er schlieftlich den demutigenden Ruckzug der Kriegskoalition Anfang Dezember erzwang. Weniger ausschlaggebend durfte hingegen die spektakulare sowje-tische Drohung vom 6. November gewesen sein, wonach der Kreml den Einsatz von Atomwaffen androhte, falls London und Paris ihre militarische Operation nicht ein-stellen wurden. Diese ungluckliche Konstellation blieb nicht ohne Folgen, wenn auch die Regierungen in Frankreich und England recht unterschiedliche Schlusse aus dem Suez-Debakel zogen. London reagierte in der Folge mit einer entschiedenen Hinwendung zu den Vereinigten Staaten. Einem ungeschriebenen Gesetz gleich, beschloss man, sich nie wieder in einer Krisensituation gegen seinen groften Bruder zu stellen. An der Seine entschloss man sich einen franzosischen Eigenweg zu gehen. Den Rah-men dieser kunftigen Politik bildete die Schaffung einer unabhangigen eigenen nuklearen Streitmacht und die For-derung eines geeinten Europas - moglichst unter franzosi-scher Fuhrung. Die Vereinigten Staaten schlupften in der Folge der Suezkrise schneller als erwartet in die Rolle der regionalen Ordnungsmacht, da sie das britische Machtva-kuum fullen mussten. Wahrend die Suezkrise an sich gut erforscht ist, sind die bundnispolitischen Auswirkungen der Krise auf die NATO hingegen kaum erforscht. Daher steht nachfolgend die bundnispolitische Dimension der Suezkrise im Zentrum der Betrachtung [1, Zum For-schungstand siehe ebd., s. 15 - 27].
Allianzpolitik vor der Suezkrise [2, s. 45 - 237]
„Die Welt ist eine Buhne, doch das Stuck ist schlecht besetzt“ [3, s. 21]. Diese Feststellung Oscar Wildes trifft auf die amerikanischen und britischen Entscheidungstra-ger in der Suezkrise nicht zu. Im Gegenteil, Dwight D. Eisenhower, John Foster Dulles, Anthony Eden und Harold Macmillan verfugten uber ein ungewohnlich hohes
Maft an weltpolitischer Erfahrung, als die Suezkrise aus-brach. Hinzu kam, dass sich diese Manner alle aus der engen Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg kannten und miteinander befreundet waren. Dennoch kam es im Oktober und November 1956 zum bundnispolitischen Zerwurfnis. Die Ursachen dieses Zerwurfnisses sind in unterschiedlichen bundnispolitischen Vorstellungen und Interessenlagen zu suchen, die sich bereits im Vorfeld der Suezkrise erkennen lassen.
Sowohl bei Prasident Eisenhower als auch bei Auften-minister Dulles nahmen bundnispolitische Erwagungen einen hohen Rang in ihrem sicherheitspolitischen Denken ein. Fur sie besaft das transatlantische Bundnis einen Ei-genwert, der unter bestimmten Bedingungen samtliche nationale Interessen uberwog. Fur Eisenhower war die NATO „the last remaining chance for the survival of Western civilization“ [4, s. 1396]. Er war der festen Uberzeu-gung, dass die westliche Welt nur dann eine Uberlebens-chance im weltpolitischen Konflikt mit der Sowjetunion haben werde, wenn es der NATO, als dem entscheidenden transatlantischen Bindeglied nach Europa, gelingen wurde, zusammenzustehen. Dies war vor allem deswegen notwen-dig, weil Eisenhower bereits fruh begriff, dass die Heraus-forderung durch die Sowjetunion die USA und die westli-chen Staaten in einen langwierigen und militarisch kosten-intensiven weltpolitischen Konkurrenzkampf zwingen wurde. Um in diesem Wettstreit langfristig bestehen zu konnen, war eine kluge militarische Lastenteilung unum-ganglich, wollte man die okonomischen und ideellen Grundlagen der freien westlichen Welt nicht gefahrden. Eisenhower konnte dabei bundnispolitisch auf Erfahrungen zuruckgreifen, die er als Oberbefehlshaber der alliierten Streitmacht im Zweiten Weltkrieg und als erster NATO-Oberbefehlshaber gesammelt hatte.
Auch John Foster Dulles war der festen Uberzeu-gung, dass die USA im Kampf gegen die Sowjetunion dringend auf Verbundete angewiesen seien. Dulles kam jedoch aus eher pessimistischen Grunden zu dieser Schlussfolgerung, denn er sah den Westen gegenuber der Sowjetunion in der Defensive, aus der man nur zusammen mit den Bundnispartnern herauskommen konne. Eisenhower schatzte die Lage dagegen optimistisch ein und wahnte den Westen in der weltpolitischen Offensive, so-lange es gelange, das Bundnis zusammenzuhalten und eine okonomische Uberburdung der Wirtschaft durch Rustungsausgaben zu verhindern. Beide waren sich jedoch einig, dass die amerikanische Uberlegenheit im Be-reich der Nuklearwaffen ein Vorteil fur den Westen sei. Entsprechend dieser Voruberlegungen gestaltete sich schlieftlich auch die amerikanische Eindammungspolitik unter der Agide Eisenhowers.
Die amerikanische Containment-Politik sollte den USA langfristigen Schutz vor einem Angriff der Sowjet-union bieten und zugleich die wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Fundamente des „American way of life“ schutzen. Aus diesem Grund neigte Eisenhower zu einer fiskalisch konservativen Wirtschafts- und Rustungspoli-tik, die zu einer Betonung der vermeintlich kostengunsti-geren nuklearen Abschreckung fuhrte. Damit einherge-hend sollten die kostenintensiven konventionellen Streitkrafte reduziert werden. Diese Akzentverschiebung in der amerikanischen Eindammungspolitik firmierte schlieftlich unter dem Namen „New Look“. Da die Verteidigungsstra-
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tegie der NATO in groftter Abhangigkeit von der milita-risch omnipotenten Fuhrungsmacht des Bundnisses war, hatte jede Veranderung der amerikanischen Eindam-mungspolitik automatisch Auswirkungen auf die Bund-nisstrategie. So war es auch im Falle des „New Look“, der nun eine klare Lastenteilung im Bundnis vorsah. Die eu-ropaischen Alliierten sollten den konventionellen Schild der NATO bereithalten, wahrend die USA die Scharfung des nuklearen Schwertes ubernahmen. Im Verteidigungs-fall sollten die europaischen Streitkrafte den sowjetischen Vormarsch soweit ostlich wie moglich zum Stehen brin-gen, damit die USA umgehend mit massiven nuklearen Vergeltungsschlagen eingreifen konnen. Die amerikani-sche Eindammungspolitik und die NATO-Verteidigungs-strategie beruhten also in der Ara Eisenhower auf dem Konzept der massiven nuklearen Vergeltung. Diese Stra-tegie war im Kern eine Kriegsvermeidungsstrategie, da sie dem Gegner bei jeglichem Angriff einen erbarmungs-losen Vernichtungskrieg in Aussicht stellte.
Das Konzept der massiven Vergeltung fuhrte jedoch zu bundnispolitischen Differenzen zwischen Eisenhower und Dulles. In diesem Fall zeigt sich, dass Eisenhower mit Blick auf die Nuklearstrategie des Bundnisses der groftere strategische Denker war, wahrend Dulles auf-grund seines taglichen Umgangs mit den Alliierten ein grofteres Feingefuhl fur deren Angste und Sorgen besaft. Eisenhowers Strategie der massiven Vergeltung war ebenso brutal wie subtil. Eisenhower hatte fruh erkannt, dass es bei einem direkten Waffengang zwischen den Streitkraften der NATO und des Warschauer Paktes un-moglich sein wurde, diesen Konflikt auf sichere Art und Weise konventionell zu begrenzen. Da auf dem Schlacht-feld grundsatzlich ein Element der Unberechenbarkeit vorherrsche, konne man nie ausschlieften, dass eine Seite doch Nuklearwaffen einsetze, zumal wenn der Gegner mit dem Rucken an der Wand stehe. Daher kam Eisenhower zu dem Ergebnis, dass es im nuklearen Zeitalter zwischen der Sowjetunion und den USA nur noch um die Kriegs-vermeidung gehen konne, da die Verfechter der Moglich-keit eines konventionell begrenzten Krieges zwischen den beiden Armeen der Supermachte einer todlichen Illusion anhangen wurden. Folglich, so Eisenhower, musse jegli-cher Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion von Anfang an nuklear eskaliert werden.
Mit der intellektuellen Durchdringung dieser bruta-len, aber doch logischen Schlussfolgerung taten sich Dulles und so mancher europaische Verbundete schwer. So-wohl Dulles als auch einige Bundnispartner trieb die Sor-ge um, dass man sich damit auf eine gefahrliche Strategie des Alles oder Nichts stutze, die im schlimmsten Fall bei einem konventionellen Angriff des Warschauer Paktes nur die Wahl zwischen der Kapitulation und der nuklea-ren Vernichtung lasse. Sie erkannten nicht, dass es ange-sichts der konventionellen Uberlegenheit des Warschauer Paktes keine Alternative zu dieser Strategie gab. Dennoch sollte dieser Punkt die strategische Debatte innerhalb der NATO vor, wahrend und nach der Suezkrise dominieren.
John Foster Dulles sah in dieser Angst der Europaer vor einem nuklearen Vernichtungskrieg auf eigenem Ter-ritorium durchweg die starkste desintegrierende Kraft innerhalb des Bundnisses. Auch mit Blick auf die „big three“ im transatlantischen Bundnis machte er im Vorfeld der Suezkrise zahlreiche Erosionserscheinungen ausfin-
dig. Groftbritannien und Frankreich befanden sich nach Dulles‘ Meinung im weltpolitischen Abstieg. Die Zu-sammenarbeit mit Groftbritannien wurde durch regionale Interessengegensatze und unterschiedliche Bedrohungs-wahrnehmungen im Fernen und Nahen Osten erschwert. Noch groftere Sorge bereitete dem Auftenminister jedoch die politische Instabilitat der Vierten Republik im Zu-sammenspiel mit den kolonialpolitisch bedingten Proble-men in Indochina und Nordafrika. In den Augen des Au-ftenministers gehorte Frankreich daher bereits seit der Niederlage im Indochinakrieg im Jahr 1954 de facto nicht mehr zu den „big three“. Einzig Groftbritannien sei noch in der Lage, Fuhrungsaufgaben im Bundnis zu uberneh-men. Insgesamt zeigen diese Uberlegungen, dass das transatlantische Bundnis in den Kopfen von Eisenhower und Dulles einen Eigenwert besaft. Entsprechend hoch war der Aufwand an gesamtsystemischem Denken, den man in Washington auf die NATO verwandte.
Auf britischer Seite war das gesamtsystemische Den-ken in der Bundnispolitik nicht stark ausgepragt. Das hatte im Wesentlichen damit zu tun, dass vor allem Anthony Eden und Harold Macmillan die NATO ganz nuchtern als Instrument zur Durchsetzung britischer Interessen begrif-fen. Die transatlantische Allianz besaft also keinen Eigen-wert in ihrem Denken. Primar ging es darum, nach dem Zweiten Weltkrieg die eigene Weltmachtstellung und das Empire zu bewahren. Aufgrund der eklatanten Schwache Groftbritanniens nach dem Krieg zeigten Churchill, Eden und Macmillan daher nur an einem Bundnismitglied der NATO verstarktes Interesse: den USA. Alle drei konserva-tiven Premierminister wollten nach dem Krieg die „special relationship“der Kriegsjahre wiederbeleben. Ziel dieser engeren Alliierung innerhalb der NATO war ein so genann-tes „power by proxy“-Konzept [5, s. 178], wonach der weltpolitisch unerfahrene, aber wirtschaftlich und milita-risch potente Vetter jenseits des Atlantiks fur die Durchset-zung britischer Interessen in der Welt instrumentalisiert werden sollte. Vor allem Anthony Eden hoffte darauf, durch die engere Anlehnung an die USA fur Groftbritanni-en mehr auftenpolitische Bewegungsfreiheit gewinnen zu konnen. Dieses Konzept scheiterte jedoch unter Churchill und Eden daran, dass Eisenhower nicht bereit war, den Briten einen Sonderstatus im Bundnis zu gewahren und die „special relationship“ zu erneuern.
An einem weiteren Punkt wird deutlich, dass die Ent-scheidungstrager in Whitehall ihre Bundnispolitik klar nationalen Interessen unterordneten. Im Fruhjahr 1956 war Anthony Eden fest entschlossen, eine strikte Haus-haltskonsolidierungspolitik durchzufuhren, die auf massive Einsparungen setzte. Dabei sah Eden das groftte Ein-sparungspotential im traditionell hohen Verteidigungsetat. Im Rahmen einer „Defence Policy Review” entwarf die Regierung schlieftlich im Sommer eine britische Variante der „New Look“ -Strategie, die ebenfalls verstarkt auf Nuklearwaffen und zugleich auf die Verringerung der kostenintensiven konventionellen Streitkrafte setzte. Er-leichtert wurde der Eden-Regierung diese Entscheidung dadurch, dass man die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit der Sowjetunion aufgrund der ernormen thermonukle-aren Waffenarsenale auf beiden Seiten fur nahezu ausge-schlossen hielt. Aus britischer Sicht erzeugte das Vorhan-densein zahlreicher Nuklearwaffen also nicht mehr ein Gefuhl hilfloser Angst, sondern Sicherheit. Die angestreb-
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ten Truppenreduzierungen betrafen vor allem die in die NATO-Struktur eingebundenen Streitkrafte auf dem Kon-tinent. Da ein einseitiger Truppenabzug allein aus finanzi-ellen Grunden zu einem Affront in der NATO gefuhrt hatte, bediente sich die Regierung Eden einer raffinierten Strategie zur Durchsetzung ihrer Sparplane. Grobbritanni-en strebte eine Neuausrichtung der NATO-Verteidigun-gsstrategie an, die dann auf NATO-Ebene die Umstellun-gen im Verteidigungssektor notwendig machen wurde, die man zuvor schon beschlossen hatte. Die Idee war ebenso einfach wie brillant. Durch eine geschickte Manipulation der NATO sollte diese dazu gebracht werden, aus dem ursprunglichen Wunsch nach einer Umstrukturie-rung der eigenen Streitkrafte einen Sachzwang von auben zu machen. Dabei versuchten die Briten diesen Strategie-wechsel durch bilaterale Kontaktaufnahme mit den USA vorzubereiten und gleichzeitig bemuhte man sich, uber den stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Field Marshal Montgomery Einfluss auf die militarischen Planer zu nehmen. Vor Ausbruch der Suezkrise zeichnete sich ab, dass die USA dieses Vorhaben abblocken wur-den. Denn Grobbritanniens angestrebter Strategiewechsel hatte vermutlich zu Nachahmungstaten gefuhrt und die gesamte Lastenteilung innerhalb des Bundnisses auf den Kopf gestellt. Bis zum Ausbruch der Suezkrise sah es also nicht so aus, als wurden die Briten sich in dieser bundnis-politisch wichtigen Frage durchsetzen konnen.
Im Gegensatz zu den Entscheidungstragern in Washington und London lassen sich im Vorfeld keinerlei ver-lassliche Aussagen uber das bundnispolitische Denken von Ministerprasident Guy Mollet, Aubenminister Christian Pineau und Verteidigungsminister Maurice Bourges-Maunoury treffen, die Anfang des Jahres 1956 in Paris ihre Amter antraten. Zwar waren alle drei bereits vorher in der Politik aktiv gewesen, aber sie hatten keine auben-oder gar bundnispolitisch lesbaren Fubspuren in der Ge-schichte hinterlassen. In der Literatur finden sich daher auch meist nur mit Vorsicht zu geniebende Stereotype uber die Grundansichten dieser wichtigen Entscheidungs-trager. So galt Mollet als uberzeugter Atlantiker und Eu-ropaer und alle drei zusammen galten bei Amtsantritt auf-grund ihrer Tatigkeit in der Resistance wahrend des Zwei-ten Weltkriegs als proisraelisch. Bei genauerer Betrach-tung fuhren diese Etiketten jedoch in die Irre. Unbestreit-bar besaben alle drei Manner, besonders Bourges-Maunoury, eine affine Haltung gegenuber Israel, aber die Quellen zeigen, dass diesem Wohlwollen niemals natio-nale Interessen untergeordnet wurden. Als Guy Mollet und seine Minister ihre Amter antraten, bestimmte vor allem ein Problem die franzosische Aubenpolitik: der Algerienkrieg. Der Losung dieses Konfliktes galt nahezu die gesamte Aufmerksamkeit der franzosischen Regie-rung. Entsprechend wirr und konzeptionslos nahm sich die Aubenpolitik der Franzosen im Fruhjahr 1956 aus. In einem Akt der Verzweiflung wurden alle aubenpoliti-schen Grobkonzepte zur Anwendung gebracht, welche die franzosische Aubenpolitik im Arsenal hatte, um eine Ent-lastung in Algerien zu erreichen. So oszillierte die Auben-und Sicherheitspolitik der Regierung Mollet in ihrer sieb-zehnmonatigen Amtszeit zwischen drei Konzepten, die immer auch eine bundnispolitische Dimension besaben. Zunachst versuchte man nach Amtsantritt die eigene Stel-lung innerhalb der „big three“ aufzuwerten und den
Bundnispartner Zugestandnisse, vor allem in der Algeri-enfrage, abzutrotzen. Als dies nicht gelang, liebaugelte man in Paris im Mai 1956 mit dem alten Ost-West-Bruckenkonzept und sondierte bei einem Staatsbesuch in Moskau vergeblich die Moglichkeit eines franzosisch-sowjetischen Ausgleichs, in Form einer Neutralisierung der beiden deutschen Teilstaaten. Man hoffte, sich damit der Bedrohung im Osten zu entledigen und mehr Bewegungs-freiheit in anderen Regionen zu erlangen. Bundnispolitisch ist dabei vor allem entscheidend, dass Paris den Algerien-konflikt stets als bundnispolitisches Problem betrachtete, obwohl es sich bei diesem Kolonialkrieg nicht um einen Angriff von Auben auf das eigentliche Vertragsgebiets der NATO handelte. An dieser Haltung lasst sich sehr gut zei-gen, dass Allianzen immer Erwartungshaltungen erzeugen, die uber den eigentlichen Machtbereich des Bundnisses hinausreichen. Das franzosische Insistieren darauf, dass Algerien ein NATO-Problem sei und die Weigerung der Vereinigten Staaten dies anzuerkennen, entwickelte sich im Jahr 1956 zu einem Dauerproblem der NATO, das auf Sei-ten der franzosischen Regierung und auch auf Seiten eini-ger anderer europaischer Bundnispartner zu wachsendem Unmut fuhrte.
Am Ende waren es denn auch die unterschiedlichen In-teressen im Nahen Osten, die machtvoll auf die NATO zuruckschlugen. Die Eisenhower-Administration betrachte-te den Nahen Osten primar durch die Brille einer global orientierten Eindammungspolitik. Dabei befanden sich die USA in einem Dilemma, denn einerseits hatten sie auf-grund des eigenen antikolonialen Images kein Interesse daran, sich vor den kolonialpolitischen Karren der Briten oder der Franzosen spannen zu lassen. Andererseits war man im Rahmen der bundnispolitischen Lastenteilung froh, dass die beiden europaischen Bundnispartner in dieser Region die Rolle der Ordnungshuter ubernahmen. Dement-sprechend kooperierte Washington eng mit London bei der Suche nach einer friedlichen Losung des Nahostkonflikts, weigerte sich jedoch, einer regionalen Allianz unter briti-scher Fuhrung, dem so genannten Bagdad-Pakt, beizutre-ten. Weder wollte man in Washington das militarische Engagement in der Region vertiefen, noch wollte man die aufstrebenden nationalen Unabhangigkeitsbewegungen im Nahen Osten im ideologischen „Kampf um die Seele der Menschheit“ (George H.W. Bush) im Ost-West-Konflikt verprellen. Dies fuhrte Edens „power by proxy“-Konzept schlieblich in die Sackgasse und zu unuberwindbaren Mei-nungsverschiedenheiten in dieser Weltregion. Hinzu kam, dass sich die franzosisch-britischen Beziehungen vor der Suezkrise ebenfalls wegen Interessenkonflikten im Nahen Osten auf dem Nullpunkt befanden. Die Regierung Mollet versuchte namlich den zunehmenden eigenen Machtverlust in der Region - jenseits des Algerienkonfliktes - durch eine proarabische Politik entgegenzuwirken und torpedierte daher den bei den arabischen Staaten unbeliebten Bagdad-Pakt.
Die Grunde fur die ausbleibende Unterstutzung der USA im Algerienkrieg waren ahnlich wie diejenigen im Falle Grobbritanniens. Washington wollte nicht durch eine Unterstutzungsgeste die ubrigen arabischen Staaten gegen sich aufbringen. Stattdessen forderte man die Ent-scheidungstrager in Paris dazu auf, Zugestandnisse an die Unabhangigkeitsbewegung zu machen. Insgesamt muss-ten Eisenhower und Dulles mit Blick auf den Nahen Os-
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ten daher einen Drahtseilakt vollfuhren, denn sie wollten weder ihre europaischen Bundnispartner noch die aufstre-benden arabischen Staaten verprellen. Es war schlieblich der agyptische Staatsprasident Nasser, der mit seiner Schaukelpolitik zwischen Ost und West die bundnispoliti-sche Nagelprobe erzwang. Sein Pochen auf eine agyptische Fuhrungsrolle im Nahen Osten, in Nordafrika und der muslimischen Welt musste zwangslaufig mit briti-schen und franzosischen Vormachtanspruchen in der Region zusammenprallen. Als Nasser nach einem Waffen-kauf aus dem Ostblock im Herbst 1955 offenbar seine neutrale Haltung aufgab, ins sowjetische Lager abzudrif-ten drohte und die westlichen Machte immer weiter pro-vozierte, verlor man schlieblich im Marz 1956 auch in Washington die Geduld mit Nasser. In der Folge verwei-gerte man dem agyptischen Staatsprasidenten den Kredit fur sein spektakularstes Bauprojekt, den Assuan-Staudamm. Als Nasser daraufhin den Suezkanal am
26. Juli 1956 verstaatlichte, brachen schlieblich die Inte-ressengegensatze unter den „big three“ auf und verscharf-ten sich zu einer schweren Krise innerhalb der NATO.
Allianzpolitik in der Suezkrise [6, s. 239 - 482]
In Paris und London reagierte man von Anfang an anders auf die Verstaatlichung des Suezkanals als in Washington. Da Nasser die lebenswichtige Versorgung Grobbritanniens mit Ol gefahrdete und auch zuvor bereits die britische Nahostpolitik torpediert hatte, witterte man nun in London die einmalige Gelegenheit, das Problem „Nasser“ ein fur allemal zu beseitigen. Genauso verhielt es sich in Paris, wo Nasser der Regierung inzwischen ein Dorn im Auge war, weil er die algerischen Rebellen un-terstutzte. Daher beschloss man in London und Paris mili-tarisch einzugreifen, den Kanal zuruckzuerobern und ei-nen Regimewechsel in Agypten herbeizufuhren. Dieser gemeinsame Gegensatz zu Nasser fuhrte im Sommer 1956 zu einer kurzfristigen Wiederbelebung der „Entente Cordiale“, mit dem Ziel, nach dem Sturz der Regierung Nasser den Nahen Osten im Einvernehmen zu kontrollie-ren. Vom Sturz Nassers erhoffte man sich, dort ein pro-westliches, demokratisches Regime installieren zu kon-nen, das genugend Strahlkraft besab, um Nachahmungsta-ten zu fordern. Das alles waren hochfliegende Plane, aber im Sommer 1956 schimmerten sie den Entscheidungstra-gern in London und Paris als „golden opportunity“ [7] entgegen. Ganz anders sah man die Lage in Washington. Dort befurchtete man, dass ein Krieg einen antiwestlichen Flachenbrand im Nahen Osten auslosen konne, der die Region destabilisieren und die Staaten direkt in die Arme der Sowjetunion treiben wurde.
In der Folge entschied man sich in Washington, die Heibsporne an der Themse und der Seine von einem Waf-fengang abzuhalten, wahrend man dort auf die Unterstut-zung oder zumindest die wohlwollende Neutralitat der USA hoffte. Somit entfaltete bereits in den ersten Tagen der Krise das „alliance security dilemma“ [8, s. 180 -200] seine volle Wirkung. Eisenhower und Dulles ver-suchten Frankreich und Grobbritannien davon abzuhalten, die USA in einen Krieg zu verwickeln, den man nicht fuhren wollte, wahrend Eden und Mollet versuchten, die USA in einen Krieg hinein zu ziehen. In den „tripartite meetings“ in London Ende Juli wurde dieser Interessen-gegensatz mehr als deutlich, dennoch wollte man vor al-
lem in London nicht wahrhaben, dass die USA in dieser Frage zur Fundamentalopposition neigten. Dafur gab es zwei Grunde: Zum einen konnte man sich in London auf-grund des freundschaftlichen Verhaltnisses zu den Ent-scheidungstragern in Washington einfach nicht vorstellen, dass diese eine Haltung jenseits der wohlwollenden Neut-ralitat einnehmen wurden. Zum anderen bildete sich im Bann der gunstigen Gelegenheit im so genannten „Egypt Committee“, das die Politik in der Suezkrise plante, ein Tunnelblick heraus. Dies fuhrte dazu, dass die Entschei-dungstrager in Whitehall eine starke Tendenz entwickel-ten, widerspruchliche Informationen und warnende Aus-sagen auszublenden oder gar falsch in das eigene Wahr-nehmungsmuster einzuordnen. Hier fuhrten vor allem stereotype Bilder uber Eisenhower und Dulles, die in Londoner Regierungskreisen mit grober Uberheblichkeit gepflegt wurden, eine entscheidende Rolle. So wurde der verhasste Dulles als eigentlicher Architekt der amerikani-schen Aubenpolitik betrachtet, wahrend Eisenhower in die Schublade des nett lachelnden Golfspielers, der ei-gentlich an Politik gar nicht interessiert ist, gesteckt wurde. Dementsprechend nahm London die haufigen und deutlichen Warnungen von Prasident Eisenhower nicht so ernst, wie dies notig gewesen ware. Dieser Umstand brach der Regierung Eden schlieblich auf dem Hohepunkt der Krise das Genick.
In den ersten beiden Monaten der Krise kam auch zweimal die NATO als Institution ins Spiel. Eisenhower und Dulles spielten von Anfang an in der Krise auf Zeit, um die europaischen Bundnispartner von einer Intervention abzuhalten. In diesem Zusammenhang schlug Eisenhower die Beratung der Krise im NATO-Rat vor. Eden und Mollet lehnten diesen Vorschlag jedoch ab, denn sie sahen die NATO zu diesem Zeitpunkt nur als „weapon of power“, also als Kriegsinstrument an, das in dieser fruhen Phase der Krise, die noch eine Verhandlungsphase war, nicht angewendet werden konnte. Zudem befurchteten London und Paris zurecht, dass eine eingehende Diskus-sion der Krise im NATO-Rat ihre militarische Handlungs-freiheit einschranken konne. So beschrankten beide Lander die Diskussion im NATO-Rat auf einen Bericht uber die Ergebnisse der „tripartite meetings“ in London. Erst als die Beschlusse der ersten Londoner Konferenz vom
16.-23. August 1956 unter Teilnahme der wichtigsten Nutzerstaaten des Suezkanals keinen triftigen Grund fur eine militarische Intervention lieferten, entdeckte Eden die NATO als „tool of management [9, s. 227 - 262]. Da man sich von einer Anrufung des UN-Sicherheitsrates in London und Paris wenig versprach, wollte man Anfang September nun versuchen, im NATO-Rat Zuspruch fur eine Intervention zu erhalten. Damit hoffte man, das Legi-timitatsdefizit einer Intervention zu verringern, denn Nassers Akt der Verstaatlichung war unter volkerrechtlich einwandfreien Bedingungen durchgefuhrt worden. Dieses Unterfangen scheiterte jedoch auf ganzer Linie, weil die USA die NATO nun als „tool of managment“ benutzten. Hinter den Kulissen zog man alle erdenklichen Faden, da-mit die britischen und franzosischen Vorschlage im NATO-Rat nicht zu einer beschlussfahigen Diskussion gebracht wurden. Dies gelang auch, womit Washington im Bundnis eindrucksvoll seine Macht im Bereich des „agenda setting“ demonstrierte. Die NATO als Institution spielte fortan bis zum Hohepunkt der Krise keine Rolle mehr.
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МЕЖДУНАРОДНЫЕ ОТНОШЕНИЯ
Von September bis zum Oktober anderte sich an den unvereinbaren Grundeinstellungen Frankreichs und Grofi-britanniens auf der einen Seite und den USA auf der ande-ren Seite nichts. London und Paris trieben ihre inzwischen gemeinsamen militarischen Planungen weiter voran und begaben sich auf die Suche nach einem casus belli. Diese Suche nach einem Kriegsgrund war zermurbend und stell-te die anfanglich uberschwanglich begrufite Entente Cordiale mehrfach auf die Probe. Diplomatisch trat man zunehmend auf der Stelle und auch im Bereich der Kriegsplanung stellte sich heraus, dass Frankreichs und Grofibritanniens Streitkrafte zusammen nur mit grofiter Muhe in der Lage waren, jene Strafaktion durchzufuhren, die man von Anfang an anvisiert hatte. In Grofibritannien kippte zudem - anders als in Frankreich - binnen weniger Wochen die Zustimmung in der Opposition, der Presse und der Offentlichkeit fur einen Kriegskurs. Stattdessen wurden Forderungen nach einer Anrufung des UN-Sicherheitsrates laut. Auch innerhalb des britischen Kabi-netts tauchten vereinzelt Stimmen auf, die Zweifel an der harten Linie gegenuber Agypten aufierten. Gleichwohl bewies keiner dieser Minister den Mut, Eden offen entge-genzutreten und notfalls den Rucktritt in Kauf zu nehmen. Lediglich Verteidigungsminister Walter Monckton fasste diesen Entschluss und liefi sich Mitte Oktober von seinen amtlichen Verpflichtungen entbinden und ubernahm das Amt des Paymaster General. Fakt ist jedoch, dass bis in den Oktober hinein das Kabinett alle Entscheidungen in der Suezkrise mitgetragen hat. Erst als Ende Oktober die geheime Allianz mit Israel beschlossen wurde, verringerte sich die Zahl der Eingeweihten.
Die Erlosung aus dem diplomatischen Stillstand brachte schliefilich Israel, mit dem Frankreich bereits im Juni 1956 im Geheimen enge militarische Bande geknupft hatte. Im Vorfeld hatte Frankreich den Israelis heimlich Waffen geliefert und damit die vertraglichen Bindungen der „Tripartite-Declaration“ unterlaufen, wonach Waffen-lieferungen an Staaten im Nahen Osten nur nach vorheri-ger Absprache mit den USA und Grofibritannien erlaubt waren. Diese „French connection^ (Shimon Peres) basier-te auf stahlharten Interessen und keineswegs blofi auf Affinitaten der franzosischen Entscheidungstrager fur Israel. Beide Staaten hatten im Nahen Osten einen gemeinsamen Feind: Nasser. Was Israel nicht hatte, das waren genugend Waffen, um gegen das inzwischen von der Sowjetunion aufgerustete Agypten bestehen zu kon-nen. Was Frankreich nicht hatte, das waren verlassliche Geheimdienstinformationen uber Agypten. Es war also ein Geben und Nehmen, welches die Zusammenarbeit beider Staaten auf der geheimen Konferenz von Vermars im Juni 1956 besiegelte. Frankreich lieferte Waffen und Israel im Gegenzug die gewunschten Geheimdienstinfor-mationen. Ferner wurden in Vermars weitreichende mili-tarische und geheimdienstliche Kooperationsstrukturen geschaffen, die in einem Krieg einfach nur aktiviert und ausgebaut werden mussten.
In Israel waren die entscheidenden Protagonisten Mi-nisterprasident David Ben-Gurion, Generalstabschef Moshe Dayan und der Generaldirektor des Verteidigungs-ministerium Shimon Peres. Alle drei waren davon uber-zeugt, dass es nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948 unweigerlich zu einer „zweiten Runde“ kommen wurde, in der Israel um seine Existenz bangen musse. Aus
diesem Grund waren vor allem Ben-Gurion und Dayan der Uberzeugung, man musse dieser Gefahr durch einen sieg-reichen Praventivkrieg zuvorkommen. Nachdem Agypten im September 1955 grofie Waffenlieferungen aus dem Ost-block erhalten hatte, war das militarische Gleichgewicht in der Region zulasten Israels zerstort worden. Weder die USA noch Grofibritannien wollten Israel im gewunschten Umfang Waffen liefern. In dieser kritischen Phase gelang es Shimon Peres, enge Kontakte zum franzosischen Vertei-digungsminister Bourges-Maunoury zu knupfen, die schliefilich zu einer Rustungskooperation fuhrten. Gleich in den ersten Wochen der Suezkrise lotete Bourges-Maunoury daher die Bereitschaft der Israelis zu einem gemeinsamen Militarschlag gegen Nasser aus und erhielt grundsatzlich positive Signale.
In Frankreich setzte man bis zum Oktober noch auf eine militarische Zusammenarbeit mit Grofibritannien und hielt sich das Zusammengehen mit Israel als Option offen. Das hatte militarische Grunde, denn beide Lander besafien wichtige Einheiten, die der jeweils andere nicht besafi. Zudem war die gemeinsame militarische Planung im Ok-tober bereits so weit fortgeschritten, dass sie nur schwer aufzulosen war. Da die Franzosen in der Suezkrise die kaltblutigeren Protagonisten waren und immer schon starker auf eine militarische Losung gedrangt hatten als die Briten, war man im Oktober das britische Zaudern in der Krise leid und aktivierte die israelische Option. Man be-schloss jedoch, Israel an die gemeinsame britisch-franzosische Intervention anzukoppeln. Am 14. Oktober 1956 unterbreiteten die Entscheidungstrager in Paris Anthony Eden schliefilich das Angebot eines gemeinsamen Militarschlags mit Israel, dass Eden ohne Zogern annahm, denn die Gelegenheit war einfach zu verlockend.
Die militarische Kooperation mit Israel brachte grofie Schwierigkeiten mit sich, denn Grofibritannien, das einen Bundnisvertrag mit Jordanien unterhielt, war bundnispoli-tisch betrachtet ein Feind Israels im Nahen Osten. Im Jahr 1956 war es vermehrt zu schweren Gefechten an der israe-lisch-jordanischen Grenze gekommen, die nun im Oktober in einen Krieg umzuschlagen drohten. Im Kriegsfalle ware London also zur Unterstutzung Jordaniens verpflichtet ge-wesen. Hinzu kam, dass Ben-Gurion Anthony Eden nicht uber den Weg traute und sich nur unter grofien Vorbehalten auf den franzosischen Plan eingelassen hatte. Unter diesen schwierigen Umstanden erhielt Eden nun das Angebot zu einer militarischen Kooperation und nahm dieses auf der beruchtigten Geheimkonferenz von Sevres vom 22. bis zum 24. Oktober 1956 an. Diese Konferenz brachte einen der merkwurdigsten Kriegsplane der Geschichte hervor, wonach Israel sich zu einem Angriff des Sinais verpflichte-te, mit dem Ziel den Suezkanal zu bedrohen. Nach Ablauf eines franzosisch-britischen Ultimatums sollten dann die britischen und franzosischen Streitkrafte den Suezkanal sichern und die verfeindeten agyptischen und israelischen Streitkrafte trennen. Damit lieferte Israel endlich den heifi-ersehnten Kriegsgrund fur eine Intervention. Das Protokoll von Sevres war im Kern ein spektakulares regionales renversement des alliances, denn Israel und Grofibritannien kampften nun auf der gleichen Seite.
Von alledem wusste man in Washington nichts, auch wenn Ende Oktober die nachrichtendienstlichen Berichte andeuteten, dass ein Krieg ins Haus stand. Diese Information nutzte den Entscheidungstragern in Washington je-
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doch wenig, da man nicht erkennen konnte, wer gegen wen Krieg fuhren wurde. Als der Krieg schlieBlich am 29. Oktober 1956 begann und sich zwei Tage spater andeute-te, dass Frankreich und GroBbritannien mit Israel offenbar unter einer Decke steckten, war der Zorn bei Eisenhower groB, der nun in der Krise die Zugel der amerikanischen AuBenpolitik fest in die Hand nahm und seinen europai-schen Bundnispartnern eine Lektion in Sachen okonomi-scher Kriegfuhrung erteilte. So verweigerte Eisenhower Paris und London die dringend benotigten Olhilfsliefe-rungen nach der Blockade des Kanals und brachte die Weltoffentlichkeit in der Generalversammlung der Ver-einten Nationen gegen GroBbritannien und Frankreich in Stellung. Ausschlaggebend fur diese harte Reaktion wa-ren allerdings nicht wahltaktische Uberlegungen, weil Eisenhower nur wenige Tage vor seiner Wiederwahl stand, als die Krise in den Krieg umschlug. Es war viel-mehr personliche Enttauschung. In seinen Augen hatte vor allem England mit dieser spatkolonialen Strafexpedi-tion die gemeinsamen Werte verraten, und das zu einem Zeitpunkt, als die Sowjetunion den Ungarnaufstand brutal niederschlug. Kurz, Eisenhower war gekrankt und so zahlte er es seinen Bundnispartnern mit gleicher Munze heim, was sich spater als groBer Fehler erweisen sollte.
In London und Paris hatte man mit dieser harten Reak-tion aus Washington nicht gerechnet. Der wachsende Druck der Weltoffentlichkeit und die Verweigerung der rettenden Ollieferungen brachen GroBbritannien und Frankreich schlieBlich das kriegslogistische Ruckgrat. War es Eisenhower zuvor nicht moglich gewesen, maBigend auf seine Bundnispartner einzuwirken, so wusste er als erfah-rener Oberbefehlshaber um die Empfindlichkeit moderner Kriegslogistik. Erst im Krieg konnte er die volle Macht der USA ausspielen. GroBbritannien trafen diese MaBnahmen besonders hart, aufgrund der chronisch geringen Dollarre-serven, uber die man in London verfugen konnte. London war nun gezwungen, teures Ol auf dem Weltmarkt zu kau-fen und musste dafur seine Dollarreserven aufzehren. In der Folge sturzte das Pfund, beschleunigt durch einsetzende Wahrungsspekulationen, ins Bodenlose. Am 5. November beschloss die Eden-Regierung daher unilateral die Intervention abzubrechen. Frankreich hatte sich zwar besser auf diese Situation vorbereitet und vor Ausbruch der Krise einen Kredit aufgenommen, aber aufgrund der engen ope-rativen Verflechtung der beiden Streitkrafte konnten die Franzosen den Krieg nicht alleine fortsetzen. So mussten sie sich der britischen Entscheidung beugen.
Die sowjetischen Drohungen, London, Paris und Tel Aviv mit Atomraketen zu beschieBen, die der Kreml am
5. November lancierte, haben die Entscheidung zum Waf-fenstillstand nicht beeinflusst. Sowohl in London als auch in Paris hielt man Bulganins Drohbriefe, hinter denen Chruschtschow steckte, fur das, was sie in Wirklichkeit waren, einen groBen Bluff. In Washington entfaltete die Drohung vor dem Hintergrund der Niederschlagung des Ungarnaufstandes jedoch groBere Wirkung. Eisenhower, der ansonsten kuhle Praktiker der nuklearen Abschreckung, war sich nicht mehr sicher, ob die Kreml-Fuhrung, die un-ter dem Eindruck eines drohenden Zerfalls des eigenen Herrschaftsbereichs stand, ihre Entscheidungen noch rational traf. Sobald der Gegner Anzeichen irrationalen Han-delns erkennen lieB, brach fur Eisenhower die Logik der Abschreckung in sich zusammen. Daher entschied sich
Eisenhower in der Suezkrise auch gegen die Anwendung der Strategie der massiven Vergeltung, die der Sowjetunion eine massive Eskalation des Konfliktes hatte in Aussicht stellen mussen. Stattdessen traf Eisenhower alle Vor-sichtsmaBnahmen so unauffallig wie moglich, um die Sow-jetunion nicht zu provozieren. Die groBte Durchschlags-kraft entwickelten die Raketendrohungen in Israel. Nach-dem beide Supermachte massiven Druck auf Israel ausge-ubt hatten, sah Ben-Gurion den Staat Israel einer existenz-bedrohenden weltpolitischen Isolation ausgesetzt. In Mos-kau glaubte indessen Nikita Chruschtschow, dass seine Raketendrohungen uberaus erfolgreich waren, da der bri-tisch-franzosische Waffenstillstand unmittelbar nach den Drohungen verkundet worden war. Die falschen Lehren, die Chruschtschow aus der Suezkrise zog, sollten die Welt in den Kubakrise im Oktober 1962 in Atem halten.
Bundnispolitik nach der Suezkrise [10, s. 483 - 583]
Die bundnispolitischen Probleme, die sich aus der Suezkrise ergaben, wurden jedoch paradoxerweise erst nach der Einwilligung GroBbritanniens und Frankreichs in den Waffenstillstand durch das Verhalten der Vereinigten Staaten auf die Spitze getrieben. Als Anthony Eden und Guy Mollet nach dem Waffenstillstand um eine bundnis-politisch versohnliche Geste in Form eines „big three“ -Treffens in Washington baten, willigte Eisenhower zu-nachst ein und sagte dieses Treffen nach Rucksprache mit seinen Beratern dann gegen seine inneren Instinkte wieder ab. Nach der Suezkrise zeichnete sich in Washington auf der Ebene der Entscheidungstrager eine wichtige Macht-verschiebung ab. Hatte Eisenhower auf dem Hohepunkt der Krise noch die Zugel fest in der Hand, so wuchs nach dem Waffenstillstand der Einfluss von Dulles, obwohl dieser nach einer Krebsoperation noch im Krankenhaus lag, und von Finanzminister George Humphrey, die Eisenhower aus moralischen Erwagungen heraus drangten, GroBbritannien und Frankreich noch nicht die versohnen-de Hand zu reichen. In vielerlei Hinsicht spielten sich nun in Washington Szenen ab, die man zuvor spiegelverkehrt auf britischer und franzosischer Seite gesehen hatte. Sowohl Eisenhower als auch die Experten im State Department sahen, nachdem die Reputation der Vereinigten Staaten durch das moralisch integre Verhalten in der UN-Generalversammlung im Nahen Osten enorm angestiegen war, eine gunstige Gelegenheit den Nahen Osten fur sich gewinnen zu konnen. Zu diesem Zweck war Eisenhower, der anfanglich noch zogerte, nun auch bereit, notfalls die bundnispolitischen Beziehungen zu Frankreich und GroB-britannien zu beschadigen. Im State Department gab man sich geradezu berauscht von der eigen moralischen Integ-ritat in den Vereinten Nationen. Und so demutigte man die eigenen Bundnispartner bis Ende November weiter, in der Hoffnung, daraus im Nahen Osten Kapital schlagen zu konnen.
Dementsprechend verweigerte man den Briten und Franzosen weiterhin die dringend benotigten Ollieferun-gen aus zwei Grunden. Zum einen wollte man in der ara-bischen Welt nicht den Eindruck erwecken, man verbunde sich nun wieder mit den Aggressoren des Suezkrieges. Zum anderen wollte man die Briten und Franzosen zu einem bedingungslosen Abzug ihrer Truppen aus der Ka-nalzone zwingen. Auch dies sollte dem Erhalt der ameri-kanischen Glaubwurdigkeit gegenuber den arabischen
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Staaten dienen. Als sich Ende November zeigte, dass die arabischen Staaten, allen voran Agypten, sich nicht so verhielten, wie man sich das im State Department ausge-malt hatte, da hatte man die NATO - ohne es richtig zu bemerken - an den Rand des Zusammenbruchs getrieben. Von der Weltoffentlichkeit unbemerkt, spielte sich Ende November in Paris die bundnispolitisch dramatischste Szene der Suezkrise ab, als der NATO-Generalsekretar Lord Ismay unter Tranen und in Verteidigung seiner briti-schen Wurde Eisenhower mit seinem Rucktritt drohte, sollten die demutigenden Sanktionen gegen sein Land nicht aufgehoben werden. Mit einem langen Beschwichti-gungsbrief und der Aufhebung der Sanktionen wenige Tage spater, gelang es Eisenhower, Ismay von diesem Schritt abzuhalten. Ismays Rucktrittsdrohung war aller-dings nur die Spitze eines Eisberges, der nun durch die Gewasser des Bundnisses trieb.
Wahrend die politische Fuhrung in Washington un-mittelbar nach der Suezkrise uber die eigene moralische Reputation jubilierte, hatte sie nicht bemerkt, dass durch das eigene Verhalten in der Suezkrise die Reputation im Bundnis beschadigt worden war. Viele Bundnispartner wagten es zwar nicht, in der Offentlichkeit gegen die USA Stellung zu beziehen. Unter der Oberflache wurde jedoch wachsende Kritik am Verhalten der Fuhrungs-macht laut, die meist diskret gegenuber dem amerikani-schen NATO-Botschafter in Paris geauhert wurde. In Washington hatte man gehofft, dass das sowjetische Ver-halten in Ungarn die Angst vor der Sowjetunion bei den Bundnispartnern wieder erhoht und auch den letzten Ver-fechter der Ost-West-Entspannung von der Torheit seines Vorhabens uberzeugt habe. Doch so war es nicht. Die meisten Bundnispartner waren schockiert uber die stille Allianz der beiden Supermachte in der UN-Generalversam-mlung, die sich gegen Grohbritannien und Frankreich rich-tete. Ein weiterer Punkt, der einige Bundnispartner besorg-te, war, dass eine harte Verurteilung der sowjetischen Ra-ketendrohungen ausblieb, bis der Oberbefehlshaber der NATO-Streitkrafte in Europa, General Gruenther, am 14. November 1956 den Sowjets bei einem Angriff mit einem massiven nuklearen Vergeltungsschlag drohte. Die Grun-de dafur, warum Eisenhower die Kreml-Fuhrung auf dem Hohepunkt der Krise nicht unnotig provozieren wollte, sind dem Historiker heute bekannt, die europaischen Bundnispartner waren jedoch damals weitgehend ahnungs-los. Fur sie hatten sich die Amerikaner schlicht als bund-nispolitisch unsichere Kantonisten erwiesen.
Als im Dezember schliehlich die NATO-Ministerta-gung stattfand, brachen bei der Aussprache uber die Suezkrise alle Probleme, die zuvor lange unter der Ober-flache gebrodelt hatten, hervor und auch den USA wurden Vorwurfe gemacht. Als Dulles dem NATO-Rat das ame-rikanische Verhalten in der UN-Generalversammlung als moralische Sternstunde der westlichen Allianz verkaufen wollte, da machte ihm die Mehrheit der europaischen Bundnispartner klar, dass ihnen eine verlassliche Fuh-rungsmacht lieber sei als eine moralisch uberlegene, auf die man sich im Ernstfall nicht verlassen konne. Ferner beklagten die europaischen Bundnispartner den nachrich-tendienstlichen Blackout, der sich aufgrund der Zwistig-keiten zwischen den „big three“ auf dem Hohepunkt der Doppelkrise im November eingestellt hatte. So musste der neue NATO-Oberbefhelshaber in Europa General Lauris
Norstad eingestehen, dass die NATO einer der schwersten Krisen des fruhen Kalten Krieges praktisch im Blindflug uberstanden hatte. Es nutzt also nichts, als Fuhrungsmacht vermeintlich richtig zu handeln, wenn die anderen Bund-nispartner von diesen Vorgangen nur rudimentare Kennt-nisse besitzen. Noch eine weitere Tendenz wurde wah-rend der Tagung sichtbar. Nahezu alle Bundnismitglieder forderten kunftig die Aussprache uber Konflikte, die zwar auherhalb des Vertragsgebietes lagen, aber Bundnispartner betrafen. Dulles erteilte diesem Ansinnen eine Absa-ge. Die meisten Bundnispartner waren nicht der Auffas-sung, dass man NATO-Belange rein auf das Vertragsge-biet beschranken konne. In dieser Hinsicht konnten die Europaer im Mai 1957 bei der Verabschiedung der neuen NATO-Strategie einen kleinen Erfolg verbuchen, da in dem Strategiepapier erstmals „out-of-area“-Einsatze nicht mehr explizit ausgeschlossen wurden.
Die grohten Kontroversen loste schliehlich Grohbri-tanniens Ankundigung aus, die britische Truppenstarke auf dem Kontinent von knapp 80.000 Mann auf 50.000 zu reduzieren. Vor allem die geographisch nah am War-schauer Pakt gelegenen Staaten Deutschland, Frankreich und Holland protestierten massiv gegen die Ausdunnung des ohnehin schwachen konventionellen Schilds der NATO, befurchteten doch diese Staaten, man werde kunf-tig zum nuklearen Schlachtfeld innerhalb der NATO de-gradiert. Bereits Anfang Oktober hatte die Regierung in Washington beschlossen, Grohbritannien diese Streitkraf-tereduzierungen zu verweigern. So sprach sich Dulles auch auf der Tagung gegen das britische Anliegen aus. Als die Minister Paris verliehen, war die NATO immer noch in Unordnung.
In Grohbritannien hatte derweil die Suezkrise das An-sehen und die Gesundheit von Anthony Eden derart be-schadigt, dass er im Januar zurucktreten musste. Sein Nachfolger wurde Harold Macmillan, der zuvor mit Rab Butler aktiv auf Edens Sturz hingewirkt hatte. Nach einer Bestandsaufnahme der angloamerikanischen Beziehungen in London kam man zu dem Ergebnis, dass Grohbritanni-en trotz des Zerwurfnisses in der Suezkrise der „chosen ally“ [11] an der Seite Washingtons bleibe. London musse nur geduldig abwarten und Eisenhower den ersten Schritt tun lassen. Diese Rechnung ging schliehlich auf. Eisenhower hatte inzwischen realisiert, wie sehr er Grohbritan-nien gedemutigt und wirtschaftlich geschwacht hatte. Aus diesem Grund bot er seinem alten Freund Harold Macmillan zwei Wochen nach dessen Amtsantritt ein Gipfeltref-fen auf Bermuda im Marz 1957 an. Ein Gipfeltreffen mit den USA auf britischem Boden, das war genau jene bundnispolitische Geste, die Eisenhower zuvor Anthony Eden verweigert hatte, daher nahm Macmillan diese Ein-ladung dankbar an.
In den folgenden Wochen bis zum Zusammentreffen auf Bermuda schlug Macmillan geschickt politisches Ka-pital aus der wirtschaftlichen Schwache Grohbritanniens. Mit einer gekonnten Uberrumpelungsstrategie setzte er binnen weniger Wochen die britischen Streitkrafteredu-zierungen unilateral durch, ohne auf nennenswerte Opposition aus Washington zu stohen. Macmillan war dabei so erfolgreich, weil er zum einen sehr schnell handelte und die USA vor vollendete Tatsachen stellte. Zum anderen spielte er die durch die amerikanischen Sanktionen verur-sachte Schwache Grohbritanniens brillant gegen die USA
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aus. Er wusste genau, dass Eisenhower es so kurz nach der Suezkrise nicht noch einmal zu einem Zerwurfnis kommen lassen konnte. So gelang Macmillan aus einer Position der Schwache heraus in Windeseile, was seinem Vorganger aus einer starkeren Position nicht gelungen war. Wahrend des Gipfeltreffens auf Bermuda vermochte es Macmillan schlieblich, den USA die Stationierung von 60 Mittelstreckenraketen auf britischem Boden abzurin-gen, die nach einer bestimmten Zeit in die nationale Ver-fugungsgewalt der Briten ubergehen sollten. Damit hatte Macmillan Grobbritannien zum primus inter pares in der NATO gemacht. Daruber hinaus gluckte Macmillan in-nerhalb von drei Monaten, was seinen beiden Amtsvor-ganger verwehrt blieb: die Erneuerung der „special relationship^. Schlieblich konnte Macmillan auch die Streitkraftereduzierung gegen massive Widerstande in der NATO durchsetzen. Damit genet Washingtons geplante Lastenteilung im Bundnis vollig durcheinander. Ur-sprunglich hatte Washington die Modernisierung der ei-genen Streitkrafte auf dem europaischen Kontinent mit Nuklearwaffen vorgesehen, um die konventionellen Streitkrafte zu reduzieren. Nachdem Grobbritannien nun seine Streitkraftereduzierungen aufgrund der Schwachung durch die Suezkrise gegen jegliche Widerstande durchge-setzt hatte, war diese Option erst einmal fur die USA ver-baut.
Die groben bundnispolitischen Verlierer der Suezkrise sind demnach die USA und Frankreich gewesen. Die USA sind deswegen die Verlierer gewesen, weil sie fur die tiefe Demutigung Grobbritanniens anschliebend Kompensationsleistungen erbringen mussten, die weit uber das hinausgingen, was man den Briten unter norma-len Umstanden zugestanden hatte. Ganz anders verhielten sich die USA gegenuber Frankreich, denn hier blieben die Kompensationsleistungen aus. Hier spielte das Misstrauen Eisenhowers gegenuber den Franzosen eine grobe Rolle fur die Ungleichbehandlung Frankreichs nach der Suez-krise. So wollte Eisenhower auch nach der Suezkrise nie richtig wahrhaben, dass Grobbritannien voll an dem Kriegskomplott mit Israel beteiligt war, wahrend er von Frankreich und Israel nichts anderes erwartet hatte. Auf dem Hohepunkt der Krise wurde dann in verschiedenen Gesten deutlich, dass man Frankreich nun nicht mehr zu den „big three“ zahlte. Dies wurde auch an den Kommu-nikationsstrukturen deutlich. Eisenhower sprach immer nur mit Anthony Eden und wenn Guy Mollet etwas mit-geteilt werden sollte, dann musste Eden diesen Botengang ubernehmen. Dies waren die ersten Anzeichen fur die sich entwickelnde Dreiklassengesellschaft in der NATO. Auch nach der Krise geizte Washington mit versohnlichen Ges-ten. So beschlossen Dulles und Eisenhower kunftig keine „big three“ - Treffen mehr abzuhalten. Als Eisenhower dann im Januar auch Paris ein Zeichen der Versohnung gab, hatte dies einen ganz anderen Charakter als das Gip-feltreffen auf Bermuda. Mollet musste schlieblich nach Washington reisen und die dortigen Gesprache dauerten auch nur halb so lange wie diejenigen mit den Briten auf
Bermuda. Am Ende hatte Eisenhowers Zusammentreffen mit Mollet im Vergleich zu seiner Konferenz mit Macmillan ausschlieblich atmospharische Bedeutung. Frustriert uber diese Entwicklung hatte Frankreich bereits auf dem Hohepunkt der Krise die Entwicklung eigener Nuklear-waffen beschlossen, um kunftig weltpolitisch unabhangiger agieren zu konnen. Fur Frankreich begann somit nach der Suezkrise ein Prozess der wachsenden Entfremdung von den USA und der NATO. So bemuhte man sich in Paris kurzfristig im Rahmen der EURATOM darum, einen nuk-lear bewaffneten europaischen Pol in der NATO zu etablie-ren. Als dies aus Kostengrunden wieder verworfen wurde, bemuhte man sich in Washington um den Erwerb von Nuk-learwaffen, wie es Grobbritannien zuvor bereits gelungen war. Doch in Washington schlug man Frankreich die Tur vor der Nase zu. Als man sie ein Jahr spater wieder offnete, stand Charles de Gaulle davor, der jedoch keinen Fub mehr uber diese Schwelle setzen wollte und die systematische Ausgliederung der franzosischen Streitkrafte aus der inte-grierten Streitkraftestruktur betrieb.
Lost man den Blick von den „big three“ und nimmt die ubrigen NATO-Mitgliedstaaten in den Blick, dann hatten auch sie unter den Folgen der Suezkrise zu leiden. Die Verunsicherung uber das amerikanische Verhalten auf dem Hohepunkt der Suezkrise brannte sich tief in die Gedachtnisse ein. Daruber hinaus fuhrten die strategi-schen Implikationen der britischen Streitkraftereduzierun-gen zu Sorge und Frustration unter den Bundnispartnern. Denn letztlich hatten die britischen Streitkraftereduzie-rungen bei der Ausrichtung der NATO-Strategie den Ak-zent von der so genannten „forward strategy“ auf die „trip wire strategy“ verschoben. Zusammen mit der Stationie-rung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Grobbritan-nien, die mittelfristig in die nationale Verfugbarkeit uber-gehen sollten, war so de facto aus der Zweiklassengesell-schaft eine Dreiklassengesellschaft in der NATO gewor-den. Ob Grobbritannien dies alles ohne die hilfreiche Schwache infolge der Suezkrise gelungen ware, muss stark bezweifelt werden.
Auch wenn die Suezkrise haufig primar als Nahost-krise wahrgenommen wird, so spielten gegensatzliche ausgesprochene und unausgesprochene bundnispolitische Annahmen und Interessen von Anfang an eine grobe Rolle. Bereits die ersten Konsultationen der „big three“ zur Suezkrise gerieten deswegen zu einem bundnispolitischen Kommunikations-Desaster. Der Dialog der Taubstummen mundete schlieblich mit dem Kriegsausbruch Ende Okto-ber in einem schweren Zerwurfnis zwischen den USA einerseits und Grobbritannien und Frankreich anderer-seits. Als Prasident Eisenhower nach Beendigung der Kriegshandlungen sich dazu entschloss, seine Bundnis-partner fur ihr Verhalten zu bestrafen, fuhrte er die NATO ungewollt an den Rand des Zusammenbruchs. Das alles geschah weitgehend hinter den Kulissen, weshalb die Offentlichkeit auch nicht bemerkte, dass die NATO wah-rend der Suezkrise eine ihrer schwersten Krisen im Kalten Krieg durchlebte.
Литература
1. Die Ausfuhrungen basieren auf den Forschungsergebnissen meiner Dissertation. Vgl. Thomas Freiberger, Allianzpolitik in der Suezkrise, Gottingen 2013 [Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 11].
2. Siehe dazu ausfuhrlich Kapitel I, in: Thomas Freiberger, Allianzpolitik in der Suezkrise, Gottingen 2013, [Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 11].
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3. Oscar Wilde, Lord Arthur Saviles Verbrechen. Eine Studie uber Pflicht, in: Ders., Erzahlungen und Prosagedich-te, 2., neu durchg. Aufl., Zurich, 1999.
4. The Papers of Dwight D. Eisenhower, Vol. XI, Doc. 1050, Eisenhower to Hazlett, 1.11.1950.
5. David Reynolds, Britannia Overruled. British Policy and World Power in the Twentieth Century, London, New York 1991.
6. Siehe dazu ausfuhrlich Kapitel II, in: Thomas Freiberger, Allianzpolitik in der Suezkrise, Gottingen 2013, [Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 11].
7. The National Archives (Kew) PREM 11/1099, E.C. (56) 10, 7.8.1956, Cabinet Egypt Committee. France and the Middle East. Note by the Secretary of State for Foreign Affairs. Der Entwurf der Anweisung findet sich in PRO FO 371/119090, JE 14211/370/G, FO Minute Beeley, 8.8.1956.
8. Zum „Alliance Security Dilemma“ siehe Glenn H. Snyder, Alliance Politics, Ithaca, London 1997.
9. Zu den Begriffen siehe Paul W. Schroeder, Alliances 1815-1945: Weapons of Power and Tools of Management, in: Klaus Knorr (Hg.), Historical Dimensions of National Security Problems, Lawrence 1976.
10. Siehe dazu ausfuhrlich Kapitel III, in: Thomas Freiberger, Allianzpolitik in der Suezkrise, Gottingen 2013, [Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, Bd. 11].
11. The National Archives (Kew) PREM 11/2189, AU 1051/53, The Present State of Anglo-United Relations, 1.1.1957.
Информация об авторе:
Д-р Томас Фрайбергер - сотрудник кафедры профессора Й. Шолтисека отделения современной истории. Исторический институт. Философский факультет. Университет Бонна (Германия), Thomas.Freiberger@uni-bonn.de.
Dr. Thomas Freiberger - Mitarbeiter des Lehrstuhls Prof. Dr. Joachim Scholtyseck . Abteilung fur Geschichte der Neuzeit. Institut fur Geschichtswissenschaft. Universitat Bonn.
Dr. Thomas Freiberger - Department of Modern History, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck’s Chair, University of Bonn.
Статья поступила в редколлегию 31.07.2014 г.
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