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PHILOLOGIA CLASSICA VOL. 11 • FASC. 1. 2016
UDC 821.14+82-21+792
DIE ORESTIE DES AISCHYLOS AUF DER BÜHNE DER NEUZEIT Vortrag, gehalten an der Universität Trier am 15. Mai 2015
Hellmut Flashar
Ruhr-Universität Bochum, (Professor emeritus),
Universitätsstraße 150, 44801 Bochum, Deutschland; hellmutflashar@gmx.de
The scope of the following analysis (originally a presentation delivered at the University of Trier) is to investigate the reception of The Oresteia of Aeschylus on the modern stage, in Germany and beyond, starting from the first attempts in the 19th century up to the contemporary theatrical versions. The study based on archive documents, media reports, eye-witness accounts and personal spectator experience reveals the unique applicability of the Aeschylus plays to various ideological climates: capable of being differently, even contrarily interpreted, The Oresteia was equally welcomed on the 1936 Berlin stage and in post-soviet Moscow. Often enough the new interpretations proved to be just the opposite of what was intended by Aeschylus. However, the purpose of staging ancient plays in modern theater cannot be their historical or philological reconstruction; hence we only can hope that the new versions would not violate the original, but we can hardly give prescriptions either to the theater or to its public.
Keywords: Aeschylus, Oresteia, modern theater, reception of antiquity, staging ancient plays.
Als der 67-jährige Aischylos auf den Dionysien des Jahres 458 mit der Orestie, seiner letzten Trilogie, mit den Stücken Agamemnon, Choephoren und Eumeniden also, gesiegt hatte, ist dies sogleich als ein außerordentliches Ereignis empfunden worden. Seinen äußeren Ausdruck fand dieser Erfolg in der seltenen Ehre der Zulassung einer sonst im 5. Jahrhundert im allgemeinen gemiedenen Wiederaufführung. Die Wirkung muss gewaltig gewesen sein, sind doch alle Kühnheiten der Neuerungen des Dichters hier versammelt: die Einführung des dritten Schauspielers, die eine komplexe Handlung erst ermöglicht, die enorme Spannweite der religiösen Anschauungen von dem tief empfundenen Zeus-hymnos im Agamemnon bis zur Götterburleske in den Eumeniden, der kühne Wechsel des Schauplatzes in den Eumeniden (Delphi, Athenatempel in Athen, Gerichtsstätte des Areopag), die schrecklichen Erinyen, die den Chor bilden, bei deren Anblick Frauen (die demnach im Theater zugelassen waren) vor Schreck Fehlgeburten erlitten haben sollen. Mag dies antike Legende sein, so lassen doch Aussagen im Text wie: Sie erbrechen schwarzen Schaum, speien Blutklumpen und gehören dahin, wo man Köpfe abschlägt, Augen aussticht, Menschen schlachtet und junge Männer kastriert, an Drastik nichts zu wün-
© St. Petersburg State University, 2016
sehen übrig. Und dann das ständige Ineinander von Mythos und Gegenwart, — Anspielungen auf Gegenwärtiges nicht nur in der Hülle des Mythos, sondern so direkte Mahnungen an die Bürger Athens und Lobpreisungen der Stadt, dass man neuerdings eine allzu kantonale Aktualität dem Dichter geradezu zum Vorwurf gemacht hat. Und über allem als Grundgedanke die Überwindung des alten Racheprinzips durch die Implantierung rechtsstattlicher Verhältnisse in das alte mythische Geschehen mit den demokratischen Errungenschaften der Gegenwart des Dichters: Gericht, Abstimmung, geheime Abstimmung sogar (damals etwas Neues), Respektieren des Abstimmungsergebnisses, in dubio pro reo bei Stimmengleichheit.
Da ist es kein Wunder, dass die Orestie den Weg auf die Bühne erst spät, jedenfalls nicht im 19. Jahrhundert finden konnte. Das 19. Jahrhundert war in seiner ersten Hälfte das Zeitalter der Übersetzungen. Erst jetzt lagen alle griechischen Dramen in Übersetzung vor, erst jetzt waren also die Voraussetzungen für Aufführungen der Stücke in einer zuverlässigen Übersetzung, nicht in beliebigen Bearbeitungen, gegeben. So gelangte 1841 mit der Antigone erstmals eine griechische Tragödie in werkgetreuer Übersetzung auf die öffentliche Bühne; es folgten im Laufe des Jahrhunderts die beiden Oedipus-Dra-men, Elektra, kaum die euripideische und überhaupt nicht die aischyleische Tragödie. Die Orestie indessen sprengt alle Vorstellungen, die man sich von einem klassischen Drama mit den (vermeintlichen) drei Einheiten von Handlung, Ort und Zeit machte.
Und doch erregte Aischylos — und gerade die Orestie — das lebhafteste Interesse. Wilhelm von Humboldt hatte 1807 nach zehnjähriger Arbeit seine metrische Übersetzung des Agamemnon abgeschlossen und mit seiner berühmt gewordenen Vorrede versehen, in der die damals auch sonst beliebte Übersetzung „im Versmaß der Urschrift" mit der Überlegung begründet wird, dass so etwas vom Nationalgeist eines Volkes in ein anderes, hier also vom Griechischen ins Deutsche, übergehen könne. Entsprechend hat der Stuttgarter Gymnasialdirektor Johann Jakob Donner alle griechischen Tragödien — und dabei auch die Orestie — ins Deutsche übersetzt. Im Jahre 1832 erschien die Übersetzung der Tragödien des Aischylos von Johann Gustav Droysen, dem Historiker des Hellenismus und der Geschichte der preußischen Politik auf der Basis eines politischen Liberalismus. Ein Jahr später brachte der Göttinger Altertumswissenschaftler Karl Otfried Müller eine zweisprachige Ausgabe nur der Eumeniden heraus, die in den „erläuternden Abhandlungen" auch Angaben über die antiken Bühnenverhältnisse enthielt, wodurch immerhin der Gedanke an eine Aufführung angeregt sein könnte. Und in der Tat wäre es fast zu einer Aufführung gekommen. Als am 18. August 1843 das Königliche Opernhaus in Berlin bis auf die Grundmauern abbrannte, verfügte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. den sofortigen Wiederaufbau, und er wollte das Haus nach rascher Wiederherstellung im Dezember 1844 tatsächlich mit einer Aufführung der Eumeniden des Aischylos wiedereröffnen. Der Gedanke ist überaus kühn. Die Eumeniden auf der Bühne mit der Einsetzung des Areopag als Gerichtshof, mit der Rechtsprechung durch ein Gremium von Bürgern — das wäre ein Fanal an Liberalität gewesen, an dem dem König zumindest in seinen ersten Regierungsjahren auch gelegen war. Wie der König zu den Eumeniden kam, lässt sich nachweisen. Carl Otfried Müller hat seine zweisprachige Ausgabe an den ihm bekannten Dichter und Theatermann Ludwig Tieck gesandt. Tieck war Vertrauter und Berater des Königs in Theaterfragen, insbesondere was Shakespeare und die griechische Tragödie betrifft. Er war verantwortlich für die aufsehenerregende Aufführung der Antigone von 1841 mit der Bühnenmusik von Felix Mendelssohn Bartholdy,
und so wurde auch jetzt Mendelssohn gefragt, ob er die Chöre der Eumeniden vertonen könne. Mendelssohn musste absagen. Der daraufhin gefasste Gedanke, die ganze Orestie mit einer von Mendelssohn zu komponierenden Bühnenmusik aufzuführen (wozu Tieck eine verkürzte Textvorlage erstellt hat) führte abermals zu einer Absage Mendelssohns: „Ich wage zu behaupten", so schrieb er, „dass hier jetzt kein lebender Musiker im Stande sei, diese Riesenaufgabe gewissenhaft zu erfüllen". Dann wurde Giacomo Meyerbeer, immerhin preußischer Generalmusikdirektor, gefragt, der ebenfalls absagte, unter Hinweis darauf, dass „der hellenische Götterkultus keinen Genuss gewähren könne". Eröffnet wurde das Königliche Opernhaus mit der Oper Ein Feldlager in Schlesien von Meyerbeer, die bald zur preußischen Nationaloper avancierte, — das Preußenlager, bunte Uniformen und Fahnen, Kanonen und Pferde, der Dessauer Marsch, ungeheure Tonmassen, allein drei Bühnenorchester.
Die Orestie gelangte also noch nicht auf die Bühne. Sie war indirekt präsent vor allem im Bühnenwerk Richard Wagners, dessen Ring sehr bewusst an die trilogische Komposition der Orestie anknüpft, wie überhaupt Wagner sich immer wieder mit Aischylos auseinandergesetzt hat (Wolfgang Schadewaldt hat das im einzelnen gezeigt) bis hin zu der denkwürdigen Lesung der Orestie, die Wagner im Januar des Jahres 1880 an drei aufeinander folgenden Abenden in der Villa Angri bei Neapel veranstaltet hat. Und wenn Cosima Wagner von dieser Lesung schreibt: „Erhabener kann eine Aufführung nicht gewirkt haben als diese Vorführung", dann liegt der Gedanke an eine wirkliche Aufführung sozusagen in der Luft.
Erst mit dem neuen Jahrhundert, dann aber gleich im Jahre 1900 ist die Orestie auf die Bühne gelangt, und zwar gleich mehrfach. Den Anfang bildete eine Aufführung, die noch etwas außerhalb des normalen Theaterbetriebs stand. Sie wurde, gewiss mit professionellen Kräften und hervorragenden Darstellern wie Luise Dumont als Klytaimest-ra, Rosa Bertens als Kassandra und Eduard von Winterstein als Aigisth veranstaltet vom „Akademischen Verein für Kunst und Literatur", dessen Gründer, Hans Oberländer, Regie führte. Das war ein hervorragender Theatermann, der später zu einem der engsten Mitarbeiter des berühmten Max Reinhardt werden sollte. Nun war gerade die Übersetzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff erschienen, die zugrunde gelegt wurde. Über die Übersetzungen von Wilamowitz ist viel geschrieben worden; ihr Grundprinzip ist das Gegenteil einer Verfremdung, vielmehr die Transposition des alten Textes in das Sprachgewand der Gegenwart, einer — so muss man hinzufügen — jeweiligen, epochenbedingten Gegenwart. Wie das klingt, mag der Anfang des berühmten Zeushymnos im Agamemnon illustrieren: „Zeus, Zeus" (im griechischen Text steht nur einmal Zeus), „mit diesem Namen ruf ich ihn, mit jedem, den er hören mag. Und ob ich alles wäge, zu leicht befind ich alles. Von Sorgen und von Sinnen und Zweifeln löst das Herze mir Zeus allein".
Es ist wohl nicht übertrieben, wenn wir hier eher an ein protestantisches Kirchenlied (Paul Gerhard) als an einen attischen Bürgerchor denken. Auf dieser Stilebene also wurde die Orestie gesprochen. Es gab auch eine Bühnenmusik, von Max von Schillings, einem damals bedeutenden, heute weitgehend vergessenen Komponisten, Musiklehrer, Dirigenten und Intendanten, befreundet mit Richard Strauss und immerhin der Lehrer von Wilhelm Furtwängler. Nur seine Oper Mona Lisa wird heute gelegentlich noch aufgeführt. Er starb 1933 — man möchte meinen: zum Glück, denn als glühender Nationalsozialist und Präsident der Preußischen Akademie der Künste (seit 1932) hätte er noch manches Unheil anrichten können. Seine Musik zur Orestie ist seit 1900 nie wieder auf-
geführt worden (mit einer Ausnahme). Ich habe die Partitur aus dem Max von SchillingsArchiv in Düren im Rheinland (dem Geburtsort Schillings) aufgespürt und konnte vor genau 30 Jahren (als ich noch Professor in Bochum war) Chor und Orchester der RuhrUniversität dazu überreden, diese Musik einmal aufzuführen. Es gibt zu jeder der drei Tragödien eine musikalische Einleitung, eine Opfermusik, Zwischenmusiken, während der Text auch der Chorlieder unisono gesprochen wurde, aber mit Musik untermalt war, wodurch die neue Gattung des Chormelodrams geschaffen wurde. Nur die Exodos der Eumeniden war ein opernhaft durchkomponierter Chorgesang (Sopran, Alt, Tenor, Bass), eine epigonale Mixtur von Richard Wagner und Richard Strauss. Es ist überhaupt interessant zu beobachten, dass in der älteren Zeit die Schauspielmusik als eigenes Genos eine größere Rolle spielt als heute, wo sie meist durch bloße Geräusche ersetzt wird, die nicht den Status von Musik haben. Die Berliner Aufführung war nun durchaus ein Erfolg. Es wurde umsichtig gekürzt, auf Stunden Spieldauer. Die Problematik kam klar zum Ausdruck. Keinerlei Aktualisierungen, emotionsgeladene Schauspielerleistungen, großes illusionistisches Theater für das Bildungsbürgertum des Jahrhundertbeginns.
Nur 12 Tage nach der Berliner Premiere stand die Orestie in der Übersetzung von Wi-lamowitz, aber ohne die Bühnenmusik von Max von Schillings auf der Bühne des Burgtheaters in Wien (am 6.12.1900). Die Bedeutung dieser Wiener Aufführung lag darin, dass nun die Orestie in das etablierte Theater Einzug hielt und sich inmitten eines vielfältigen Spielplans durchsetzen musste. Entsprechend formulierte der Direktor des Burgtheaters, Paul Schlenther: „Das mächtige Werk des mächtigsten Dramatikers der Griechen soll dort Bürgerrecht und Heimatland erwerben, wo Shakespeares Hamlet, Lessings Nathan, Goethes Faust und Schillers Wallenstein unsterblich hausen".
Jetzt ist die Orestie im Repertoire der Bühnen angelangt. Die Wiener Aufführung war durch starke Kürzungen auf eine Spieldauer von gut zwei Stunden begrenzt und durch einen platten Realismus unter völligem Verlust der religiösen Dimension gekennzeichnet. Bezeichnend dafür ist die große Zahl von Komparsen und Requisiten. Das (erhaltene) Regiebuch notiert, dass Agamemnon im Triumphwagen mit zwei veritablen Schimmeln einzieht, die in weißes Geschirr gespannt waren, wobei im Wagen ein Polstersitz für Kassandra vorgesehen war. Wörtlich heißt es im Regiebuch: „Die Jubelrufe: Heil dem König! Heil Agamemnon! ertönen hinter der Szene stärker und näher, der Marsch erklingt forte. Der Einzug Agamemnons wird sichtbar. Durch das Thor links kommen durch die Straße von links hinter dem Herold Volk: 10 Bürger, 1 Weib mit einem kleinen Kinde auf dem Arm, 2 Mädchen nach links hinten zurückwinkend und jubelnd, dann vor dem Wagen gehend: 2 Krieger mit dem Helm und dem Schild Agamemnons, hierauf der Siegeswagen von zwei Schimmeln mit gestutzten, aufrecht stehenden Mähnenkämmen, rechts und links pferdeführend ein Pferdewärter, ein Pferdeausspanner, und ein Diener hinter und neben dem Wagen, auf welchem, mit der Linken aufgestützt und hochaufgerichtet Agamemnon steht. Kassandra mit der Binde im Haar, den Prophetenstab in der Hand, sitzt zu Füßen Agamemnons. Dem Wagen folgen 6 gefangene Troerinnen, 2 Diener, 12 Krieger des Agamemnon, die sich mit Helm und Schildträger in zwei Längsreihen an das Thor links stellen, dahinter 8 Krieger des Aigisthos innerhalb des Thores links gegen die Straße links zu, Volk verschiedenen Alters und Geschlechtes kommt nach und gruppiert sich hinter dem Wagen von der Mitte der Mittelstufen an bis außen an das Thor links in die Straße links hinein. Der Wagen bleibt links Mitte stehen, genau in der Richtung des Thores rechts. Die Bürger, welche schon früher auf der Szene standen, eilen unter
fortwährenden Jubelrufen: Heil, heil dem König, heil Agamemnon! dem Zuge entgegen und decken in der Mitte vor Wagen und Pferden im Vereine mit den mitgekommenen 10 Bürgern, dem Weibe mit dem Kinde und den 2 Mädchen das Ausspannen der Pferde. Die 2 Pferdewärter halten die Pferde fest, der Wagenausspanner hebt die Deichsel und geht, diese haltend, hinter den Pferden".
Diese minutiösen Regieanweisungen mögen einen Eindruck davon geben, dass hier der tragische Gehalt des antiken Dramas in den Hintergrund gedrängt wird durch ein prachtvolles Spektakel mit opernhaftem Prunk zur Befriedigung der Schaulust der dafür empfänglichen Wiener. Aber bei allen Einschränkungen: Die Orestie war nun im Theater so etabliert, dass weitere Inszenierungen nicht mehr ausbleiben konnten.
Dies führt zu den beiden Inszenierungen der Orestie von Max Reinhardt zunächst 1911/12 in München und Berlin und dann mit etwas geändertem Konzept nach dem 1. Weltkrieg im Jahre 1919 zur Einweihung des aus dem Umbau des Zirkus Schumann hervorgegangenen, 3500 Plätze fassenden Großen Schauspielhauses in Berlin. Reinhardt wollte etwas ganz anderes als Oberländer, Wilamowitz und Schlenther. Er wollte in einem ästhetischen Hedonismus den Zuschauer weg von der ihm gewohnten Realität auf eine andere Ebene ziehen und ihm dabei das Theater nicht als Bildungserlebnis, sondern als Raum einer festlich überhöhten, totalen Illusion vermitteln. Die durch die Sprengung der Guckkastenbühne entstandene Großraumdimension sollte eben dieses Großraumpublikum zugleich in die Illusion einer Gemeinsamkeit zwischen Publikum und Bühnengeschehen versetzen. Daher war ,Volk' auf der Bühne; etwa 1000 Statisten wurden in der Orestie beschäftigt, die in sich überscheidenden An- und Abschwellen, in kanonartigem Refrain, in Schreien und Rufen diese atmosphärische Illusion in den Raum projizieren und auf den Zuschauer übertragen sollten. Alles war gewaltig: allein die Bühnenöffnung war 20 m breit, riesige Bauten türmten sich auf der Bühne, moderne Lichtanlagen und Toneffekte kamen hinzu. Die Gemeinsamkeit von Bühne und Publikum wurde auch dadurch unterstrichen, dass alle Bühnenfiguren militärischen Charakters Stahlhelme der deutschen Reichswehr trugen.
Selbstverständlich konnte Reinhardt für eine solche Konzeption die Übersetzung von Wilamowitz nicht gebrauchen. Er legte die eigens für seine Inszenierung angefertigte Übersetzung von Karl Gustav Vollmöller zugrunde. Vollmöller hatte in Berlin Klassische Philologie studiert, dann Archäologie in Bonn, wo er auch 1901 mit einer Dissertation über euböische Kammergräber promovierte und danach sogar an Ausgrabungen in Griechenland teilnahm. Die Übersetzung ist also aus dem griechischen Text philologisch kompetent gemacht. Sie ist derjenigen von Wilamowitz weit überlegen. Vollmöller war einer der vielseitigsten, interessantesten, schillernden Gestalten des 20. Jhdts. Er war reich, besaß einen Palazzo in Venedig direkt am Canale Grande, dazu ein Haus in Basel direkt am Rhein, in beiden Häusern Gemälde- und Teppichsammlungen. Er schrieb lyrische Gedichte und Dramen; er war ein in Hollywood anerkannter Filmemacher, er nahm an Autorennen schon vor dem 1. Weltkrieg teil und konstruierte ein Flugzeug, das im Jahre 1910 von Stuttgart zum Bodensee flog und sich heute im Deutschen Museum in München befindet. Er starb 1948 in einem Hotel in Hollywood.
Seine Übersetzung der Orestie legte Reinhardt zugrunde. Er hat sie allerdings stark gekürzt, besonders in den lyrischen Partien. Von dem Zeushymnos im Agamemnon blieben nur die Worte: „Zeus, Zeus!" übrig. Besonders stark wurden die Eumeniden beschnitten. Die Gerichtsverhandlung wurde ganz gestrichen, auch die Verwandlung der Erynien in
Eumeniden und damit etwas für Aischylos ganz Wesentliches fand nicht statt. Am Schluss ruft Orest: „Heil dir, Apollon und Du, Volk der Stadt!" Reinhardt ließ alles Retardierende weg und wollte die handlungsgeladenen Szenen herauspräparieren und ein Höchstmaß an Spannung gewinnen. Dabei war der Text für Reinhardt nur Grundlage für das dynamische Bewegungsspiel, wie es in faszinierender Eindringlichkeit vor allem der berühmte Alexander von Moissi als Orest vorführte. In dieser Inszenierung war zum ersten Mal der uns heute allenthalben begegnende Anspruch verwirklicht, die Inszenierung als ein von der Literatur unabhängiges Kunstwerk zu begreifen. Der Erfolg war ungeheuer. Die Orestie wurde in der Spielzeit 1919/20 73mal gegeben. Sie stellte alle Bemühungen nicht nur um diese Trilogie des Aischylos, sondern um die antike Tragödie insgesamt auf der Bühne in den Schatten. Aber es wird jetzt überall, auch im internationalen Rahmen, antike Tragödie und dabei wiederholt auch die Orestie gespielt. Unmöglich, alle Inszenierungen hier auch nur zu erwähnen. Wir fragen: Was ist symptomatisch für die zwanziger Jahre?
Das ist eine Inszenierung von Johannes Tralow in Frankfurt/M. Tralow war ein interessanter Theatermann, der als junger Mensch 5 Jahre in Ägypten gelebt und dort eine Osmanische Tetralogie, später auch Romane und Dramen (z. B. Das Gastmahl zu Pavia) geschrieben hat. Er lebte zuletzt in der DDR (in der auch eine Briefmarke mit seinem Kopf erschien) und ist 1968 hochbetagt gestorben. Seine Orestie von 1923 (die Textvorlage stammt von ihm selbst) wendet sich gegen „philiströsen Unsinn" von Klassikeraufführungen als Bildungsinstitution (also gegen Wilamowitz/Oberländer), ebenso aber auch gegen eine Orestie als „Festspiel, bei dem die Gestalt des Orest zuletzt in einem staatsreligiösen Festakt untergehen kann" (also wohl gegen Reinhardt). Tralow formuliert: „Was bleibt, ist der Mensch und sein Schicksal". So wird der Text reduziert auf den menschlichen Kern der Aktionen, Reaktionen, wobei alles spezifisch antike, die religiöse Dimension vor allem, wegfällt. Ganz eigenwillig ist der Schluss. Das Tribunal des Areopag mit dem Freispruch für Orest erscheint nur als Traumvision des Orest. In Wirklichkeit lehnt Orest sich selber gegen das Schicksal auf und wird in seiner Selbstbefreiung zu einer Art Prometheus. Der Mensch, der sich gegen sein Schicksal auflehnt, — das ist das Thema.
Ich komme jetzt zu einem heiklen, schwierigen Thema, das eine differenzierte Behandlung erfordert. Die Orestie ist zur Eröffnung der olympischen Spiele 1936 in Berlin aufgeführt und eindeutig für die Ziele des Nationalsozialismus in Anspruch genommen worden. Der „Völkische Beobachter" vom 3.8.1936 berichtet hymnisch, dass bei der Premiere in Form einer nicht-öffentlichen Festveranstaltung im staatlichen Schauspielhaus (Intendant: Gustav Gründgens) die Nazigrößen anwesend waren: Göring, Goebbels, Himmler, Baldur von Schirach (offenbar nicht Hitler), mehrere Minister, aber auch die Spitzen des olympischen Komitees und die Botschafter von 22 Ländern, darunter Frankreichs, Englands und der Sowjetunion.
Der renommierte Regisseur Lothar Müthel hatte die besten Schauspieler zur Verfügung: Paul Bildt, Hans-Georg Laubenthal, Pamela Wedekind, Erich Schellow. Man hatte sich für die Übersetzung von Wilamowitz entschieden, an dessen internationale Reputation und nationale Gesinnung man anknüpfen wollte. Das Programmheft enthält Auszüge aus einer Rede, die Wilamowitz zum Geburtstag des Kaisers 1898 mit dem Thema: „Volk, Staat, Sprache" gehalten hat. Darin heißt es: „Die Politik muss den ganzen Erdball im Auge behalten, wenn sie für die Heimat, für den Frieden und das Gedeihen sorgen soll, und es sollte keines Wortes bedürfen, dass sie Organe haben muss, um ihrem Willen Ausdruck und Nachdruck zu geben". Gegen einen Bezug dieser Worte auf den Nationalsozia-
lismus konnte sich Wilamowitz nicht mehr wehren; er war 1931 gestorben. Aber auch die Worte chairete, chairete durch: "Ich ruf' Euch Heil, Heil und aber Heil zum Gruß!"(Eum. 1014) waren damals willkommen.
Im Übrigen hat Müthel die Übersetzung auf die Spieldauer von 4 Stunden gekürzt, aber nicht verändert. (Das Handexemplar von Müthel mit den Strichen ist in Berlin erhalten). In der Inszenierung ist offenbar im Agamemnon und in den Choephoren das Dunkle, Schaurige, Düstere herausgearbeitet, während in den Eumeniden kristallklare Helle herrscht und eine strahlende Athena über allem waltete. Der „Völkische Beobachter" sah darin „die herrliche nordische Göttin... eine Welt neuen Mutes und aufschauender Hoffnung". Das Erlösende des Neuen, die Verwandlung des Chaos (Weimarer Republik) in Kosmos, neue Formen des staatlichen Lebens, — das sollte zum Ausdruck kommen. Dem dienten auch die monumentalen Bühnenbilder von Traugott Müller. Es waren den Repräsentationsbauten des Nationalsozialismus ähnliche Riesenbauten und vor allem in den Eumeniden eine Riesenstatue der Athena, vor der die agierenden Gestalten winzig wirkten. Ob sich die Mitwirkenden dieses Kontextes voll bewusst waren, ob man unbewusst einem Zeitgeist verfallen war, ob es ein Balanceakt zwischen Kunst und Anpassung im Überleben hinter einer Kulturfassade war, — wir wissen es nicht und sollten mit dem Urteil aus der sicheren Position der Betrachtung von hinten vorsichtig sein.
Nach dem Kriege kam die Orestie nur zögernd wieder auf die Bühne, in Deutschland zuerst inszeniert von Gustav Rudolf Sellner 1952 in Hamburg, in der alten Übersetzung von Droysen, mit der erklärten Absicht, nach dem Wesen des Menschen zu suchen. Sell-ner formuliert: „Und nach dem Krieg? Was war zunächst wichtiger als die Suche nach dem Wesen des Menschen, nach dem verloren gegangenen Menschenbild? ... Wenn irgendwo, so war es in der antiken Tragödie zu finden". Doch blieb die Suche nach dem Menschen, jedenfalls was diese Orestie-Inszenierung betrifft, relativ folgenlos.
Die aufregenderen Orestie-Inszenierungen fanden nach dem Kriege in Italien statt. Neben einer ganzen Reihe von Inszenierungen ragt diejenige von Vittorio Gasman 1960 im Teatro Greco in Syrakus heraus. Ihre geistesgeschichtliche Bedeutung gewinnt diese Inszenierung — die Übersetzung schuf der Dichter und Filmemacher Pasolini — dadurch, dass hier konsequent die anthropologisch-marxistische Interpretation des englischen Altertumswissenschaftlers George Thomsen umgesetzt wurde, die dieser in seinem schon 1941 in London, 1949 in italienischer Übersetzung erschienenen Buch „Aeschylus and Athens" dargelegt hatte. Danach wiederholt die Orestie die Menschheitsentwicklung von einer primitiven Stammesordnung matriarchalischer Prägung, symbolisiert durch die Er-inyen, über eine monarchisch-aristokratische Stufe (Agamemnon) und eine tyrannische Stufe (Mord an Aigisth und Klytaimestra) zu einer offenen Demokratie in den Eume-niden, wobei Apollon nochmals eine aristokratische Zwischenstufe widerspiegelt. Dieses höchst umstrittene Modell war prägend für die Inszenierung Gasmans. Im Agamemnon tritt die atavistische Atmosphäre der Stammesgesellschaft durch wilde Tänze und dumpfes Urwaldgetrommel hervor. Agamemnon selbst (nach Thomsen die Zwischenstufe, die überwunden werden muss) ist ein von vornherein geschlagener Held mit gedämpfter Stimme, begleitet von verwundeten Soldaten, als Lebender fast schon tot, mit der Folge, dass die faktische Ermordung nicht mehr im Mittelpunkt steht.
Die Ermordung von Aigisth und Klytaimestra wurde im Sinne einer marxistisch orientierten Revolution von einem gewaltigen Volksaufstand begleitet. In den Eumeniden blieben die beiden Götter Apoll und Athena eher im Hintergrund; sie spielen ihre Rollen
monoton in Alltagskleidung. Die Menschen sollten die neue Ordnung herbeiführen. Entsprechend gingen die Stufen des Areopag in den Zuschauerraum über: Die Zuschauer sollten symbolisch an dem Entscheidungsprozess teilnehmen. Immerhin gibt die Göttin Athena — in Abwandlung des überlieferten Textes — ein rauschendes Volksfest, zu dem ein Ballett mit kreolischen Tänzern und Tänzerinnen auftrat. Es war die optimistische Vision einer demokratischen, sozial gerechten Zukunft, die doch ihre ursprünglichen Bindungen nicht verleugnet. Das einseitig überzeichnete marxistische Modell Thomsen's ist in der Übertragung auf die Bühne gewiss problematisch, doch konnte dabei die Inszenierung im Zusammentreffen des Alten mit dem Neuen die soziale Situation Italiens reflektieren, gekennzeichnet durch eine Kluft zwischen einer hochentwickelten Industriegesellschaft im Norden und Überresten einer archaisch anmutenden, noch in einer Vendetta-Mentalität befangenen Gesellschaft im Süden. Diese Orestie wurde — jedenfalls in der italienischen Gesellschaft — zu einem Denkmodell, auch in der Hoffnung, das Alte, Rückständige in einem umfassenden Staatsgebilde integriert zu sehen.
Im deutschen Sprachraum ist es dann erst wieder die inzwischen legendäre Orestie-Inszenierung von Peter Stein an der Berliner Schaubühne 1980, zunächst noch am Hallischen Ufer, dann 1981 als Eröffnungspremiere für das neue Haus am Lehniner Platz übernommen. Ich habe die Aufführung (sie dauerte von 14-23.00 Uhr) noch am Hallischen Ufer gesehen und dabei zunächst bemerkt, wie ein vorwiegend junges, nicht theaterspezifisches Publikum dem langen Spiel mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit folgte, obwohl die Sitze herausgenommen waren und man auf Stufen oder auf dem Boden kauerte. Was war das Geheimnis des Erfolges dieser in Berlin über Jahre gegebenen Orestie mit anschließenden Gastspielen in der halben Welt? Es kommen mehrere Komponenten zusammen. Zunächst der Text. Stein selber erstellte eine Prosafassung unter Benutzung verschiedener Übersetzungen, die klar, verständlich, in der Theatertauglichkeit allen anderen Übersetzungen weit überlegen ist. Alle Bilder, Sprachelemente, Argumentationsketten des Originals bleiben bewahrt. Nichts wird gestrichen, Manches paraphra-sierend wiederholt — daher die Länge der Aufführung. Stein ist in seiner Berliner FaustInszenierung ähnlich verfahren.
Alle Einzelheiten von Text und Inszenierung sind in einer 1/-jährigen Vorbereitungszeit mit dem Ensemble diskutiert; es gibt Berge von Probenprotokollen. Die Konzeption ist in sich stimmig. Sie verzichtet auf uneinsehbare Regiegags, ist aber durchaus modernes Regietheater. Im Einzelnen: Der Chor im Agamemnon besteht aus den alten, nicht nach Troia eingezogenen, einfachen Männern, die in abgewetzten Sonntagsanzügen das Tagesgeschehen kommentieren, — kein donnernder Chor, der unisono hohe Worte predigte, sondern in reflektierender Distanz dadurch, dass die alten Männer den Text nachdenklich, fast fragend, gelegentlich zögernd in den Mund nehmen. Im Gegensatz dazu wurde die Drastik der Mordszenen beängstigend ausgespielt und dann wieder durch die Klage- und Opfergesten des Chores in den Choephoren eine archaische Unheimlichkeit evoziert. In den Eumeniden legt Stein großen Wert auf die Abstimmungszeremonie des von Athena eingesetzten Gerichtshofes, des Areopag. Dabei ändert er ein einziges Mal den Text so, dass schon die irdischen Richter (es sind bei Stein 12) Stimmengleichheit (also ohne die Stimme der Athena) erzielen. Die Sache ist früher auch philologisch sehr umstritten gewesen, aber es dürfte klar sein, dass erst mit der Stimme der Athena das Unentschieden erreicht ist, es also 11 Richter waren (Aischylos nennt ihre Zahl nicht). Der Effekt ist nun bei Stein, dass die Bürger den Übergang zur Rechtstaatlichkeit als mündige
Demokraten selber schaffen, während bei Aischylos die Menschen der Hilfe der Göttin bedürfen und allein das alte Blutracheprinzip nicht hätten beseitigen können. Der Unterschied ist nicht gering. Nur mit der Textänderung Steins liegt darin ein uneingeschränkter Preis der Demokratie und entsprechend lässt Stein die Abstimmung durch die Richter in einer Endlosschleife mehrfach wiederholen. Was damit ausgedrückt werden sollte, bleibt offen, — ein Bekenntnis zum demokratischen Rechtstaat oder ein zum Ritual erstarrter Abstimmungsvorgang.
Deutlicher wird Stein in der Neuinszenierung in Moskau 1994, mit russischen Schauspielern in einer leicht modifizierten Fassung, aufgeführt in dem 1200 Plätze fassenden, in Form eines Sowjetsternes gebauten Theater der russischen Armee. Die Atmosphäre war gespannt; Russland in einer Umbruchsituation. Das Alte stand gegen das Neue und sollte in das Neue integriert werden, ganz analog zur Grundsituation der Orestie. Die Er-inyen sind jetzt nicht ekelhafte Vampire (wie in Berlin), sondern alte Weiber in abgetragenen Militärmänteln. Die Richter sind sorgfältig gekleidete Herren, die jedoch nach der Abstimmung mit dem Ergebnis der Stimmengleichheit in eine tumultartige Schlägerei geraten unter Zuhilfenahme von Stühlen, — etwa wie es kurz zuvor bei der Eröffnung der Duma, des russischen Parlamentes, der Fall gewesen ist, wie man im Fernsehen beobachten konnte. Die Einführung der Demokratie gestaltete sich so zu einem mühsam zu erlernenden Prozess. Die Orestie traf die Lage genau. Kriege, Machtkämpfe, Verrat und Mord, Ablösung des Alten durch ein noch unerprobtes Neue, — das war im Gewande der Dichtung des Aischylos ein Beunruhigungspotential von existentieller Dimension. Der Erfolg der Aufführungen war gewaltig; die Orestie ist in Moskau 41mal gespielt worden; es folgten Gastspiele in Sankt-Petersburg, dann in Griechenland, England, Deutschland und Sibirien.
Steins Inszenierung der Orestie wirft bis heute lange Schatten. In den Folgejahren hat sich kaum eine Bühne von Rang an die Orestie gewagt, jedenfalls im deutschen Sprachbereich. Neben weiteren Inszenierungen in Italien und in England hat internationales Aufsehen erregt die in dreijähriger Arbeit zusammengewachsene Atridentetra-logie (Les Atrides) von Arianne Mnouchkine in Paris mit Gastspielen auch in Deutschland. Das ist kein Sprechtheater, sondern visuelles Theater, ein Spiel in farbenprächtigen Kostümen tanzender und schwebender Gestalten. Der Chor bildet den Mittelpunkt; es wird viel getanzt. Selbst die Alten, die im Agamemnon den Chor bilden, tanzen, wenn auch gemächlich und zitternd. Alles vollzieht sich in Bewegung und Körpersprache. Die Erinyen in den Eumeniden sind in zwei Teilchöre aufgespalten, einen menschlichen als aschgraue Nomadinnen, die mehr taumeln als tanzen, und in schnaubende fabeltierartige Affenlöwenhunde, die meist müde am Boden liegen. Der ganze Text wird gespielt, die Aufführung dauert nahezu 10 Stunden. Am Schluss Trommelwirbel, Geigen-, Zither-, Flöten- und Gambentöne: Athena hebt die Hand, alles erstarrt, die Erinyentiere sind gebannt. Es ist ein offener Schluss, den man als Zweifel deuten kann, ob die neu gewonnene Ordnung von Dauer sein kann. Der visuelle Eindruck war überwältigend, aber doch weit weg vom eigentlichen Gehalt der Orestie.
Im deutschen Sprachbereich kommt dann etwa mit der Jahrtausendwende verstärkt die Orestie wieder auf die Bühne. Es ist geradezu ein Boom, der bis heute anhält und die sonst so beliebte Antigone von der Bühne nahezu verdrängt hat. Dieser Sachverhalt bedarf einer Erklärung. Sie liegt, so seltsam das auf den ersten Blick scheint, in der Nahostkriese, insbesondere in dem amerikanischen Engagement in Nahost. In einer Orestie in Hanno-
ver (2000) erscheint Agamemnon in abgeschabter US-Uniform; bei seiner Rückkehr wird ein Basketballspiel eingelegt, was wohl die Verwechslung von Krieg mit Sport andeuten soll. Die Züricher Inszenierung von 2004 spielt auf einem dem oval office des Weißen Hauses nachempfundenen Platz. Die orakelhaften Prophezeihungen Kassandras kommen per Video, als wäre es eine Botschaft Bin Ladens. In den Choephoren ist die Kulisse ein amerikanischer Bungalow mit hot-dog-Stand; Klytaimestra und Aigisth kneipen in einem Brunnen, der Chor spielt Golf. In den Eumeniden trägt die Gerichtsverhandlung Züge des Suprime Court mit 12 Geschworenen. Die US-Fahne steht am Rand es wird ein goldverzierter Spruch: „In Gods (!) we trust" sichtbar.
Bei Inszenierungen mit derartigen politischen Analogien liegt indessen der Hauptakzent auf dem Agamemnon. Besonders deutlich wird dies in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg an den Münchner Kammerspielen (2002). Gleich zu Beginn befinden sich zahlreiche Personen auf der Bühne, die bei Aischylos nicht vorkommen. Unter den mehrfach wiederholten Rufen: „Der Sieg ist unser" pinnen sie Vermisstenanzeigen und Photos an eine große Holzwand, auf der das Wort „Stadt" steht. Der verlustreiche Sieg ist es, der zum Ausdruck kommen soll, vom Text her übrigens durchaus berechtigt, wenn auch die Analogie mit der amerikanischen Situation in Nahost höchst fragwürdig ist. Aber: Agamemnon ist mit 100 Schiffen nach Troia gezogen und kommt mit einem Schiff wieder. Mit Beginn des Spiels in München stehen alle Gestalten knöcheltief im Wasser. Es wird viel Bier und Benzin vergossen, Wasser fließt aus Eimern und Schläuchen. Klytaimestra begrüßt den zurückgekehrten Agamemnon mit den Worten: „Na, wieder da?" Der antwortet: „Hallo, wenigstens bin ich nicht dicker geworden". In einer Einlage treten dann, mitten im Agamemnon, Präsident Bush und die damaligen Verteidigungsminister Struck und Rumsfield auf, kenntlich an Porträtmasken aus Photopapier. Bush fährt Struck an: „Shut up!" Struck reagiert devot. Bush tötet mit einem Baseballschläger Kassandra, die in einer Tonne mit der Aufschrift „Restmüll" über die Wasserlachen der Bühne gerollt wird. Mehr als 50 % des Textes ist hinzuerfunden. Nicht wenige Zuschauer haben nach dem Agamemnon den Saal verlassen.
Aber auch auf andere politische Situationen wird die Orestie bezogen. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Leipziger Orestie (2006). Hier versammeln sich die Schauspieler um einen runden Tisch, analog zu dem runden Tisch in Leipzig 1989, der in der Endphase der DDR eine wichtige Station auf dem Wege zur Demokratie war. Es ist dies eine Analogie, die auch nicht ganz aufgeht, aber doch einleuchtender ist als der Vergleich der Griechen vor Troia mit der Streitmacht der USA im Irak. Es ist ein ganz ruhiges Spiel in Leipzig, nachvollziehbares Sprechtheater. Das Publikum darf, wie auch in einer Ulmer Inszenierung (ebenfalls 2006) über Orest mit abstimmen („Wir sind das Volk"), mit vorprogrammiertem Ergebnis natürlich, während in der Frankfurter Orestie des gleichen Jahres das Abstimmungsergebnis im verschlossenen Umschlag der Seherin Pythia überreicht wird, die wie eine Fernsehmoderatorin agiert und die Auftritte von Apoll und Athena ansagt. Der Freispruch für Orest ist dann wie ein Megalos der Fernsehlotterie.
Die meisten neueren Orestie-Inszenierungen verwenden übrigens die Übersetzung von Stein — gegen dessen Absicht, hat Stein doch ausdrücklich erklärt, dass seine Übertragung „nicht fürs Theater allgemein, sondern für eine spezielle Aufführung angefertigt wurde". Aber es gibt im Grunde heute keine bessere, gut spielbare und zugleich philologisch einigermaßen einwandfreie Übersetzung. Mit der Übernahme der Steinschen Fassung wird aber überall auch die Textänderung Steins mit übernommen, wonach 12 irdi-
sche Richter allein schon — ohne das Votum der Göttin — das Unentschieden herbeiführen, ohne dass die damit verbundenen Konsequenzen bedacht würden. Ich habe nach der Leipziger Aufführung mit dem Regisseur Wolfgang Engel gesprochen und er sagte mir: Wir haben das einfach übernommen, ohne darüber nachzudenken.
Von den 4 Inszenierungen der Orestie im Jahre 2006 allein an deutschen Theatern gehe ich jetzt nur noch kurz auf die Inszenierung von Michael Thalheimer ein, die am Deutschen Theater in Berlin repräsentativer Bestandteil eines Antikenzyklus zusammen mit den Persern und der Medea bildete. Auch hier ist die Übersetzung von Stein verwendet, aber radikal auf 100 Minuten zusammengestrichen. Ein Bühnenbild gibt es nicht. Die Bühne ist mit blutbeschmierten Sperrholzplatten vernagelt. Prolog und erstes Chorlied sind gestrichen. Klytaimestra betritt halbnackt die Bühne; sie kippt sich einen Kanister Blut über den fröstelnden Körper. Dass das das Blut der geopferten Iphigenie sein soll, kann nur der des Mythos Kundige erahnen. Sie erwartet bibbernd und ängstlich mit Dosenbier und Zigarette die Ankunft Agamemnons, ganz anders als die triumphiernde Härte der Gestalt bei Aischylos. Es wird viel Blut verspritzt, weshalb die Zuschauer der ersten Reihe zum Schutz für ihre Kleidung Plastikumhänge erhalten. Der zurückgekehrte Agamemnon praktiziert mit Klytaimestra auf offener Bühne einen brutalen Sexualakt („Quickie"). Nach seiner Ermordung verschwindet er keineswegs, sondern robbt während der ganzen Aufführung zentimeterweise in einer riesigen Blutlache quer über die Bühne. Orest wird als erbärmlicher Feigling dargestellt; es gibt keine liebevolle Begegnung mit Elektra. Orest macht sich vor lauter Angst in die Hose; er muss sich fast übergeben. Er ist nicht rehabitabel. Entsprechend sind die Eumeniden fast ganz gestrichen (auf 5 Minuten reduziert). Es fehlen die Erinyen, es gibt keine Gerichtsverhandlung, keine Abstimmung, keinen Freispruch für Orest. Am Schluss kauert Orest einsam am Boden mit dem Hilferuf: „Athena, hilf!" Es antwortet der 40 Personen starke (gemischte) Chor (es ist für alle 3 Stücke der Trilogie der gleiche) vom zweiten Rang aus mit den mehrfach wiederholten (nicht im Text stehenden) Worten: „Frieden für immer!"
Was Thalheimer zeigen will, ist: Verlorenheit des Menschen, Fatalismus, die Menschheit eine Blutbande, Unfähigkeit der Demokratie zur Konfliktlösung, vergebliche Hoffnung, in allem also das Gegenteil der Intention des Aischylos in der Orestie. Der Schritt von Barbarei zur Demokratie wird verweigert und damit wird die entscheidende Dimension der Orestie unterschlagen. Zurück bleiben in Blut getauchte, abstoßende Bilder von Angst und Gewalt als anthropologischer Konstante. Nicht: „Durch Leiden Lernen", sondern Leiden ohne Lernen. Eine Orestie ohne Götter. Diese Inszenierung, in einer Pressekritik als „grandios" bezeichnet, wurde als besonders herausragend zum Berliner Theatertreffen 2007 eingeladen. Das ist die Wertschätzung einer Regieleistung, die die Dichtung in ihr Gegenteil verkehrt und für die der Text nur noch fragmentarische Resonanz ist.
Und nun die Würzburger Aufführung. Es ist der durchweg auch gelungene Versuch, diese gewaltige Trilogie unter weitgehendem Verzicht auf uneinsehbare Regiegags mit behutsamen Kürzungen als ganze ohne Indienstnahme für eine aktuelle Tendenz auf die Bühne zu bringen. Die Leistung ist außerordentlich, gerade auch in der Einbeziehung eines Bürgerchores, der antiken Tradition folgend. Was der Chor an Sprechkultur, Körperhaltung und Mimik in kurzer Zeit gelernt hat, ist sehr eindrucksvoll. Die Aufteilung auf drei verschiedene Regisseure und Übersetzungen ist interessant, vielleicht angeregt durch die Stuttgarter Aufführung des Wagnerschen Rings, deren einzelne Teile in ähnlicher Weise verschiedene Regisseure hatten. Erstaunt hat mich, wie poetisch doch die alte Überset-
zung von Donner aus dem Jahre 1854 mit ihrer Beibehaltung des antiken Metrums wirkt, wenn sie gut gesprochen wird. Wilamowitz sprach einst abschätzig von „Donners Hobelbank". Natürlich muss an den riesigen Chorpartien gekürzt werden. Aber dass man gerade den für die religiöse Dimension des Stückes zentralen Zeushymnos weggelassen hat, ist doch schade. Denn nun fehlt das Schlüsselwort der ganzen Trilogie: „Durch Leiden Lernen". Stattdessen sind die Worte: „Tun, leiden, lernen" als Motto des Ganzen und auch der heutigen Tagung, die nirgends bei Aischylos stehen, an den Schluss der Choephoren gestellt. Es handelt sich um einen der vielen Zusätze in der Übersetzung Peter Steins. Dort heißt es: „Durch Leiden lernen". Das ist Übersetzung des Textes aus dem Zeushymnos im Agamemnon. Dann aber fügt Stein von sich aus hinzu: „Tun, Leiden, Lernen". Das steht nicht im griechischen Text. Auf der anderen Seite sind die Worte Klytaimestras, „Steig herab vom Wagen" beibehalten, obwohl Agamemnon hier ohne Wagen gekommen ist. Es wird durchweg gut gesprochen, besonders von Maria Brendel als Klytaimestra. Anne Simmering als Kassandra beginnt verhalten, steigert sich dann aber zu einem gewaltigen Crescendo. Die hünenhafte Gestalt Klaus Müller-Becks steht glaubhaft auf der Bühne. Regie und Bühnenbild ähneln derjenigen von Peter Stein: eine Wand, aus der Ausschnitte für das Spiel geöffnet werden.
Dass in den Choephoren die ganz andersartige Übertragung Peter Steins verwendet wird, leuchtet ein. Sie ist für das Mittelstück der Trilogie in der Tat besser als für die beiden anderen Dramen. Aber der jetzt 50 Frauen starke Chor — im Agamemnon waren es 15 Männer — ist zu groß, zum Schaden für die Verständlichkeit. 50 troische kriegsgefangene Frauen, die alle in dem einen Schiff mitgekommen sein müssen, im Dienste des Königshauses, — das ist doch etwas viel, auch wenn man so realistisch nicht rechnen darf. Im Übrigen ist der Regiestil Bernhard Stengeles dem Stephan Suschkes sehr ähnlich, so dass keinerlei Bruch entsteht.
Einen deutlich anderen Stil glaubt man in der Regie Hermann Schneiders bei den Eumeniden zu erkennen. Die Verwendung der Übersetzung von Vollmoeller, die seit Reinhardt, soweit ich sehe, nirgends verwendet wurde, kommt einer Entdeckung gleich, zumal die Übersetzung heute kaum noch greifbar ist. (Ich besitze sowohl die Ausgabe von 1908 als auch diejenige von 1920 mit den eindrucksvollen Federzeichnungen von Fritz Stern; natürlich nicht identisch mit dem erst 1926 geborenen, in den USA lebenden Historiker gleichen Namens). Im Vorwort der Übersetzung von 1908 heißt es: Die Bestimmung der Aufführung „ist Aufführung, ihr Charakter Compromiss". Aber ob diese Übersetzung mit dem Regiestil Schneiders kompatibel ist, scheint mir fraglich. Es bleiben auch sonst einige Fragezeichen hinsichtlich der eingesetzten Regiemittel. Der riesige, durchsichtige Zylinder scheint zunächst den Tempel Apollons anzudeuten; vielleicht aber auch die Grenzen anzuzeigen, in denen die Menschen gefangen sind. Dass Athena mit umgehängtem Sturmgewehr auftritt, soll wohl die männliche Seite dieser Göttin andeuten. Und dass Apollon sich ausgiebig und andauernd mit Wasser aus einem Plastikkanister wäscht, habe ich verstanden als eine rituelle Reinigung von der Mitschuld am Muttermord Orests. Der Bürgerchor ist inzwischen (wenn ich richtig gezählt habe) auf 56 Personen angewachsen. Bei Aischylos wird der Chor von den Erinyen gebildet. Dass sind die Würzburger Choreuten natürlich nicht. Vielmehr schälen sich aus diesem Chor vier Erynien heraus, die sich in ihrer Gewandung nur unwesentlich von den weiß gekleideten, eher wie Krankenpfleger wirkenden Chormitgliedern unterscheiden. Diese vier Erynien sind denn auch nicht im entferntesten so grässlich und bedrohlich anzusehen, wie sie bei Aischylos geschildert
werden. Möglicherweise soll der große Chor auch das Volk von Athen repräsentieren, das zu Beginn der Gerichtsverhandlung als anwesend gedacht wird. (Athena: „Hört denn die Satzung, Bürger Attikas".) Aus dieser Chormasse grenzen sich dann auch die von Athena ausgewählten Richter aus. Dass es in dieser Inszenierung sieben sind, ist ein Unicum in der Aufführungsgeschichte der Orestie. Richtig daran ist die ungerade Zahl, denn es muss ja mit der Stimme Athenas eine Stimmengleichheit herauskommen. Der Schluss bleibt in dieser Inszenierung offen, nicht nur, weil die letzten 80 Verse gestrichen, die Segenswünsche für die neue Ordnung also eher etwas abgemildert sind. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass diese Würzburger Orestie in der Geschichte der Aufführungen dieser Trilogie einen bedeutenden Platz einnimmt.
Wir sind aber noch nicht ganz am Ende. Was ist das Resumee? Die Orestie, relativ spät erst auf die Bühne gekommen, hat in neuester Zeit fast die sonst so beliebte Antigone verdrängt. Die dichte Folge der Inszenierungen in den letzten Jahren zeigt die Aktualität der alten Dichtung in zumeist erschreckender Weise. Der Gegensatz von Alt und Neu, zwischen archaischen Formen des Racheprinzips und einer sich auf Rechtsnormen berufende Demokratie erweist sich in der dichterischen Gestaltung und dabei in dem Ineinander von Fiktionalität und Wirklichkeit als ein Modell, in dem moderne Regisseure Bruchstellen suchen und daraus teils affirmative, teils skeptische Lösungen finden, teils alles offen lassen. Dass dies in Verantwortung der alten Dichtung gegenüber geschieht, wollen wir wünschen und hoffen. Aber Vorschriften können wir dem Theater nicht machen.
For citation: Flashar H. Die Orestie des Aischylos auf der Bühne der Neuzeit. Philologia Qassica 2016, 11(1), 64-76. DOI: 10.21638/11701/spbu20.2016.106
«ОРЕСТЕЯ» ЭСХИЛА НА СОВРЕМЕННОЙ СЦЕНЕ
Гельмут Фласхар
В настоящей статье (возникшей как продолжение доклада, прочитаного в Трирском Университете) исследуется рецепция «Орестеи» Эсхила театром Нового Времени, начиная с первых попыток середины XIX века и до современных сценических версий. Анализ основан преимущественно на немецком материале, хотя привлекаются и наиболее известные и характерные французские, и некоторые американские постановки. Архивные документы, статьи в прессе, свидетельства очевидцев и богатый зрительский опыт самого автора обнаруживают способность «Орестеи» адаптироваться к любому идейному климату: с равным восхищением пьесу Эсхила принимает берлинская публика в 1936 году и московский зритель постсоветского времени. Разнящиеся друг с другом, интерпретации театральных режиссеров нередко противоположны и тому, что задумывалось античным драматургом. Ученый зритель может лишь надеяться, что театральная постановка передаст пафос оригинала; диктовать театру законы мы не вправе.
Ключевые слова: Эсхил, Орестея, история театра, сценическая рецепция античности.
Received: 14.02.2016 Final version received: 19.05.2016