Erziehung durch Theater und im Theater: die Pädagogik der antiken Bühne
(Vorwort der Chefredakteurin)
In dieser Lieferung der Zeitschrift wird die Reihenfolge jährlicher thematischer Materialien zur Geschichte der alten pädagogischen Kultur fortgesetzt. Wie auch die vorhergehende Lieferung enthält sie originale Forschungen und Übersetzungen fremdsprachiger wissenschaftlicher Schriften. Das ermöglicht dem Leser eine breite Palette an Meinungen von Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Schulen und Richtungen sowie ein interdisziplinäres Feld für wissenschaftliche Diskussionen zu schaffen. Das Thema der Lieferung heißt Erziehung durch Theater und im Theater: die Pädagogik der antiken Bühne. Dieser Titel kann aber umstritten werden. Er ist in erster Linie nicht so sehr darauf abgezielt, eine weite wissenschaftliche Problematik widerzugeben, sondern vielmehr die Einheitlichkeit des Autorenkollektivs bei der Wahl akademischer Traditionen festzulegen, die Merkmale der Pädagogik der antiken Bühne zu forschen. Der Leser kann hier etwa eineinhalb Dutzend moderne Forschungen finden, deren Autoren bestrebt waren, die zu erforschenden Probleme möglichst gründlich darzustellen. Das Ergebnis solcher Bestrebungen hätte eine Veröffentlichung von höchst widerspruchsvollem Inhalt werden können; aber alles geschah ganz anders: jeder Artikel wurde zum organischen Bestandteil einer Kollektivmonografie.
Wenn man von einigen Problemen der antiken pädagogischen Kultur sagen kann, dass sie ihren heuristischen Wert für den Forscher nicht verloren haben, so scheint das Thema der vorliegenden Sammlung noch nicht völlig aktuell. In Vielem ist es damit verbunden, dass die Quellen, die eine Vorstellung vom antiken Theater ermöglichen, vielfältig sind und ihrem Umfang nach sehr unterschiedlich. Einerseits sind es nur allgemeine Entwürfe des Theaterspieles, andererseits genaue Beschreibungen von Bühnenausstattung, Bühnenmasken, Bühnenlautung. Das Besondere besteht darin, dass trotz wenigen Tatsachen sehr viele Beweise für entgegengesetzte Hypothesen geliefert werden, deren keine von beruflichen Forschern auf dem Gebiet der Pädagogik oder Bildungsgeschichte aufgestellt wären. Die Werke der alten Dramatiker, die antiken Schriften zur Theorie und Geschichte des Dramas, die Arbeiten von Philosophen und Schriftstellern, die sich mit der Pädagogik der Bühne auseinandergesetzt haben, die Werke von enzyklopädischem, biografischem und historiogra-phischem Charakter, Diskalien (die Aufschriften mit den Resultaten dra-
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matischer Wettbewerbe), der Briefwechsel u.ä. werden traditionsgemäß aufgefasst als Quellen der materiellen Ausstattung einer antiken Aufführung. Damit sind viele Forschungsprobleme der Pädagogik der antiken Bühne im Rahmen der allgemeinen Kulturgeschichte verbunden. Immer zahlreicher werden die Werke, in denen Theateraufführungen als die wichtigsten Ereignisse im intellektuellen Leben der antiken Stadt aufgefasst werden, aber alle Zusammenhänge von pädagogischer Tradition und Praxis bleiben dabei außer Acht. In den meisten Fällen wird das antike Theater als Raum für eine offene Unterhaltung der Bürger über dringende Angelegenheiten dargestellt. Unbeachtet aber bleibt dabei, dass die Einbeziehung in diese Unterhaltung und deren vollwertiger Ablauf nur in dem Falle möglich waren, wenn das Theater als ein spezieller Bildungsraum mit seinen eigenen Gesetzen und Regeln auftrat.
Die alte Kultur wurde gekennzeichnet durch eine Liebe zu den Theaterschauspielen, die ihre Zuschauer immer wieder fesselten und mit ihrer Größe, ihrer Ritualität, ihrer Fähigkeit, in der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu kommen, einen großen erzieherischen Einfluss auf das Publikum ausübten. In den Schriften der alten Denker aus verschiedenen Abschnitten antiker Zeit wird zum ersten Male betont, dass das Theater eine Schule für Erwachsene und Heranwachsende ist, wo die Zuschauer in der richtigen Interpretation des Lebens am Vorbild gutgeheißener Denk- und Handlungstypen angewiesen werden. Die Werke der antiken Dramatiker spiegelten nicht nur ihre kritischen Ansichten über das zeitgenössische Bildungssystem wider, sondern enthielten auch Versuche, eine ideale Bildungs- und Erziehungspraxis darzustellen. Demnach ist der pädagogische Diskurs des antiken Theaters ein Phänomen, das die Entstehung fundamentaler Bildungsideale und deren Auffassung in verschiedenen historischen Epochen wesentlich beeinflusst hat. Eine eingehende Untersuchung des Textkorpus, wo die Dramatiker als Erzieher, die Zuschauer als Zöglinge und das Theater selbst als Bildungsraum auftreten, macht es möglich, das antike Theater als Bildungsraum und Erzeuger pädagogischen Diskurs jener Zeit aufzufassen.
Mit allen Fragen nach der Bereitstellung von Materialien, Vorbereitung weiterer Bände sowie mit Kommentaren und Vorschlägen wenden Sie sich bitte an die Chefredakteurin Victoria K(onstantiniwna) Pitschugina, E-mail-adresse: Pichugina_V@mail.ru.
Mit bestem Dank an den stellvertretenden Chefredakteur A.Yu. Mos-chaysky und die Schlussredakteurin Ya.A. Volkova.