5.St.-Petersburger Filiale der Russischen Akademie der Wissenschfaten [Electronic resource]. - URL : http://ranar.spb.ru/, свободный. - Загл. с экрана. (дата обращения: 11.11.2013).
Найдич Лариса Эриковна
Кандидат филологических наук, старший научный сотрудник The Hebrew University of Jerusalem Светозарова Наталия Дмитриевна
Доктор филологических наук, профессор, главный научный сотрудник кафедры фонетики и методики преподавания иностранных языков С.-Петербургского государственного университета, г. Санкт-Петербург, Россия
УДК 81 ББК 81.00
ИССЛЕДОВАНИЕ ЛЕКСИЧЕСКОГО СОСТАВА НЕМЕЦКИХ ОСТРОВНЫХ ДИАЛЕКТОВ РОССИИ В.М. ЖИРМУНСКИМ
И ЕГО СОТРУДНИКАМИ1
В диалектологических исследованиях В.М. Жирмунского немалую роль играло изучение лексики. Об этом свидетельствуют как его публикации, так и материалы, находящиеся в личном архиве ученого. Жирмунский и его сотрудники занимались в 20-е гг. XX века интенсивным сбором материала, в том числе лексического, в немецких колониях Причерноморья, Ленинградской и Новгородской областей. При этом ставились теоретические проблемы: 1) изучение словарного состава диалекта в связи с традиционной культурой; 2) изучение заимствований из русского и украинского языков и причин этого явления; 3) особенности фонетико-фонологического состава заимствованных слов как отражение языковых контактов.
Ключевые слова: Немецкие диалекты; островные диалекты; словарный состав; российские немцы; германистика в России.
V. ZHIRMUNSKIS STUDY OF THE DIALECTAL LEXICON IN GERMAN INSULAR DIALECTS OF RUSSIA
In dialectological studies by Victor Zhirmunski the collection and description of dialectal lexicon was important. His publications as well as collected materials, now filed in his archive, show us that. During the research of German colonies in Russia in the 1920ies Zhirmunski and his students collected a vast lexical material that was published only partly - the rest is now in the archive of the Academy of Sciences in
1 Исследование выполнено при финансовой поддержке РГНФ проекта проведения научных исследований («Германистические архивы в Санкт-Петербурге. Научная обработка архива В.М. Жирмунского в СПФ АРАН»), проект № 13-04-00369.
St. Petersburg. In this research Zhirmunski raises the following theoretical issues: 1) study of the dialect's vocabulary in connection with the traditional culture; 2) the loanwords in Russian German dialects from Russian and Ukrainian, reasons for this; 3) phonetic-phonological structure of the loanwords as a reflection of linguistic contacts.
Key words: German dialects; insular dialects; vocabulary; Russian Germans; Germanistics in Russia.
DIE ERFORSCHUNG DES WORTSCHATZES DER DEUTSCHEN SPRACHINSELN IN RUSSLAND VON VIKTOR MAKSIMOVIC SCHIRMUNSKI UND SEINEN MITARBEITERN1
In den dialektologischen Studien von Viktor Schirmunski spielt die Erforschung des Wortschatzes eine bedeutende Rolle. Davon zeugen sowohl seine Schriften, als auch Dokumente, die in seinem persönlichen Archiv aufbewahrt werden. Schirmunski und seine Mitarbeiter beschäftigten sich in den 20er Jahren des XX. Jahrhunderts mit der Sammlung des mundartlichen Materials, darunter auch Lexik, in den deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet, im Leningrader und Nowgoroder Gebiet. Dabei wurden theoretische Probleme gestellt: 1) die Erforschung der Lexik in Verbindung mit der traditionellen Kultur; 2) die Erforschung der Entlehnungen aus dem Russischen und dem Ukrainischen, sowohl ihre Gründe; 3) Besonderheiten der pho-nologischen Struktur der Entlehnungen als Widerspiegelung der Sprachkontakte.
Schlüsselwörter: deutsche Mundarten; Inselmundarten; Lexik; Russlanddeutsche; Germanistik in Russland.
Der wissenschaftliche Nachlass des hervorragenden Germanisten V. M. Schirmunski (1891-1971) wird seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts neu bearbeitet und erforscht, wobei sowohl publizierte als auch noch nicht veröffentlichte und sich im Archiv befindende Quellen in Betracht gezogen werden. Im Verlag Peter Lang wurde im Jahre 2010 «Die deutsche Mundartkunde» von Schirmunski neu herausgegeben. Das Buch, das zu den Klassikern der Germanistik gehört, wurde mit neuen Kommentaren von Larissa Naiditsch (unter der Mitarbeit von Peter Wiesinger) versehen; das Vorwort zu dieser Ausgabe enthält die Beschreibung des Lebens und der Forschung von diesem großen Gelehrten. Als Ergebnis der deutsch-russischen Projekte, an denen Natalija Svetozarova und Larisa Puzeikina (Universität St. Petersburg) und Eckhard John (Volksliedarchiv Freiburg/Breisgau) teilnahmen, wurde die Bestandsaufnahme und die Aufarbeitung des Volksliedarchivs von Schirmunski in St. Petersburg unternommen. Dagegen sind Schirmunskis Forschungen zur Inseldialektologie, die im Archiv geblieben sind, noch nicht vollkommen untersucht und publiziert.
1 Diese Studie wurde durchgeführt mit finanzieller Unterstützung des Russischen Fondes für die wissenschaftlichen Untersuchngen („Germanistische Archive in St. Petersburg. Wisenschaftliche Bearbeitung des Nachlasses von V.Schirmunski in der St. Petersburger Filiale des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften"), Projekt № 13-04-00369.
In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wandte sich der junge Professor Viktor Schirmunski der Erforschung der Volksdichtung und der Dialekte der Russlanddeutschen zu. Zu dieser Zeit hat er sich als Autor zahlreicher Publikationen über die deutsche und englische Literaturgeschichte, vor allem über die deutsche Romantik, wie auch über die zeitgenössische russische Dichtung den Namen gemacht. Er beschäftigte sich auch mit Poetik, was mit den Interessen der russischen Formalisten im Zusammenhang stand. Als in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die Hetze der offiziellen Literaturwissenschaft gegen den Formalismus begann, wurde die Beschäftigung mit der Poetik unmöglich, ja gefährlich. Das Thema Russlanddeutsche begann damals ins Interessenfeld des Wissenschaftlers zu rücken: eine Zeit lang unterrichtete Schirmunski in Saratow an der Wolga, wo die Erforschung der Wolgakolonien bereits begonnen war (Georg Dinges). Für Schirmunski wurde die Untersuchung der Volkslieder und der Mundarten der deutschen Kolonisten in Russland eine neue und interessante Arbeitsrichtung, eine spannende Aufgabe, an die er mit großer Begeisterung heranging. Nach seiner Initiative wurden in Leningrad ein Seminar und später eine Arbeitsgruppe zur Erforschung der deutschen Kolonien in Russland eingerichtet. Zuerst befassten sich die Mitarbeiter dieser Gruppe mit dem Volkslied der Russlanddeutschen. Seine Schüler regten Schirmunski aber mit ihren Fragen an, sich auch mit der Inseldialektologie zu befassen. Schirmunskis Mitarbeiter Alfred Ström begann bald darauf, Dialektaufzeichnungen der Russlanddeutschen, die in Leningrad studierten, zu machen.
Die dialektologischen Forschungen waren für Schirmunski ein unabdingbarer Teil der Germanistik; Dialekte betrachtete er als Ergebnis der Entwicklungsprozesse, die er aufzudecken versuchte. Andererseits waren in den 20er Jahren in der russischen Sprachwissenschaft die Fragen der Soziolinguistik lebhaft diskutiert. Somit kam Schirmunski in die deutsche Dialektologie als ein Forscher mit großen Kenntnissen und breit gefächerten wissenschaftlichen Interessen: Die Beschreibung der Sprachentwicklung im Sinne der Junggrammatiker hielt er nach seinen eigenen Worten für das «philologische Einmaleins». Die theoretischen Fragen der Inseldialektologie, die der Gelehrte im Auge hatte, schlossen die Möglichkeit der Heimatbestimmung der Mundartträger auf der Grundlage rein linguistischer Merkmale und die Fragen der Gesetzmäßigkeiten von Sprach- und Dialektmischung sowie der Archaismen und Innovationen in den Inselmundarten ein. Schirmunski und seine Mitarbeiter hatten zum Ziel, alle Aspekte der Sprache und Kultur der Russlanddeutschen zu erforschen.
Im Großen und Ganzen plädierte Schirmunski in seinen früheren, wie auch späteren Arbeiten für ein Verständnis des Dialekts als eines einheitlichen Systems, das durch die Gesamtheit aller phonologischen, morphologischen und lexikalischen Merkmale zu charakterisieren ist. Somit vereinigen seine dialektologischen Forschungen die Ansätze der Marburger Dialektgeographie mit denen von Karl Haag und teilweise auch der Wiener Schule.
In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Sowjetunion, an der Wolga und im Schwarzmeergebiet, in der Ukraine, im Nordkaukasus, in Wolhynien, in der Umgebung von Leningrad / St. Petersburg und selbst in Sibirien und in Turkestan deutsche Siedlungen. Die rund 2000 deutschen Dörfer hatten insgesamt etwa 1,5
Millionen Einwohner. Die ältesten von ihnen waren in den 1760er Jahren unter der Zarin Katharina II. gegründet. Schirmunski und seine Mitarbeiter bereisten zwischen 1926 und 1930 zahlreiche deutsche Siedlungen in den Gebieten von Leningrad und Novgorod, in der Ukraine, auf der Krim und in Transkaukasien; nur die WolgaGebiete ließen sie aus, da diese von den Germanisten aus Saratow untersucht wurden. Die Forschungsreisen wurden zweimal pro Jahr im Sommer und im Winter, während der vorlesungsfreien Zeit unternommen. Die ersten Aufzeichnungen wurden bereits 1924 in den Kolonien bei Leningrad gemacht.
Anfangs wurde die Erforschung der deutschen Siedlungen in der Sowjetunion auch offiziell unterstützt, da sie mit der proklamierten Nationalitätenpolitik der Sowjetunion im Einklang stand. Im Februar 1924 wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen gegründet; außerdem wurden 17 deutsche Bezirke (Rayons) mit den deutschen Verwaltungsämtern geschaffen. Im Rahmen der Kulturautonomie wurden Bücher, Zeitschriften und Zeitungen auf Deutsch herausgegeben; zahlreiche deutsche Mittel- und Fachschulen, eine pädagogische Hochschule in Pokrovsk an der Wolga und eine deutsche Abteilung an der pädagogischen Hochschule in Odessa wurden eröffnet. Die wissenschaftlichen Arbeiten Schirmunskis sollten somit nicht nur mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Theorie beitragen, sondern ebenfalls der Vorbereitung der Deutschlehrer dienen. Daher wurden sie durch das Kommissariat für Bildungswesen der RSFSR (der Russischen Sowjetischen Föderativen Sozialistischen Republik) unterstützt. Die Germanisten selbst betrachteten die Hilfe bei der Erarbeitung der Methoden des Deutschunterrichts bei den deutschen Mundartsprechern als eine wichtige Aufgabe. Schirmunski betont im Vorwort zu seinem Buch «Die deutschen Kolonien in der Ukraine» (Moskau, 1928), dass er sich mit diesem Werk «in erster Linie an die Lehrer der Arbeitsschulen in den Kolonien» wendet, denn: «Der Dorfschullehrer ist durch seine professionelle Stellung zum Mittler zwischen dem Bauernvolke und der Wissenschaft berufen». Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang Lehrer und Schriftsteller Hermann Bachmann betrachtet werden, der an den Forschungsreisen von Schirmunski teilnahm und sie in seinem Buch «Durch die deutschen Kolonien des Beresaner Gebiets» beschrieben hat.
In den Jahren 1925 bis 1927 wurde Schirmunski nach Deutschland geschickt, wo er Forschungsstellen für deutsche Mundartkunde und Folkloristik besuchte. Während dieser Forschungsaufenthalte traf er sich mit Ferdinand Wrede in Marburg, mit Theodor Frings in Bonn und mit John Meier in Freiburg im Breisgau.
Als Grundlage der dialektologischen Aufzeichnungen gebrauchte Schirmunski Wenkers Sätze, denen er noch 200 Wörter und Wendungen beigefügt hat. In der Dialektbeschreibung waren damals immer Phonetik und Grammatik im Vordergrund. Trotzdem war auch der Wortschatz der Mundarten von Schirmunski und seinen Mitarbeitern nicht vernachlässigt. Von dem Interesse für dieses Thema zeugt die Überschau der dialektalen Wörterbücher, die er in seinem Artikel über die Methoden der Sozialgeographie (1932) zusammengestellt hat [Zirmunskij, 1976]. Die Arbeit am Wortschatz war in der deutschen Dialektologie erst am Beginn. Schirmunski schrieb in seinem Aufsatz über eine bairische Inselmundart: «Da über die wortgeographi-
schen verhältnisse in Bayern in neuster zeit nur weniges veröffentlicht ist, beziehe ich mich auf die angaben von J. A. Schmeller (Bayer. Wb. 1.2), gelegentlich auf die feststellungen von P. Kretschmer (Wortgeographie der hd. umgangassprache, 1918) und die wortkarten von B. Martin (im Teuthonista)» [Schirmunski, 1931: 271]. Es wurde geplant, ein Wörterbuch der Bauernwirtschaft in den Kolonien zusammenzustellen, wobei Wörter und Sachen erforscht werden sollten [Schirmunski, 1925]. Dieses Projekt von Schirmunski wurde nicht in Erfüllung gesetzt, weil man gezwungen war, die Arbeit zu unterbrechen. Heute können wir trotzdem manche wertvolle Notizen und Aufzeichnungen über die Dialektlexik von Schirmunski in seinen Publikationen und in Archivmaterialien finden. So ist die Kartei der Mitarbeiterin von Schirmunski Ellinor Johannson, wo die Materialien, die in den deutschen Kolonien auf der Krim gesammelt worden waren, zum Glück erhalten geblieben. Sie wird noch aufgearbeitet werden. Einen großen wissenschaftlichen Wert hat die sich im Archiv Schirmunski (in der Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg) befindende Kartei der Benennungen der Haustiere, Insekten und Vögel in den südlichen Kolonien. Sie wurde von Schirmunskis Schüler Lev Sinder zusammengestellt und enthält die entsprechende Lexik: von Ameise bis Ziege. L. Sinder selbst hielt diese Kartei für verloren.
In der Erforschung des Wortschatzes interessierten Schirmunski und seine Mitarbeiter folgende Probleme: 1) regional gebundener Wortschatz, Spuren der Dialektmischung; 2) Wortschatz in seinem Zusammenhang mit der traditionellen Kultur und Lebensweise (Bauernwirtschaft, Sitten, Bräuche); 3) Entlehnungen aus der russischen und der ukrainischen Sprache und ihre Ursachen; 4) phonetisch-phonologische Struktur der Lehnwörter als Widerspiegelung der Sprachkontakte, morphologische Integration des Lehnwortes.
Bei der Heimatbestimmung der Kolonisten wurde Schirmunski auf einzelne «norddeutsche Einschläge» in einigen oberdeutschen kolonialen Mundarten (Maa) aufmerksam. So fand L. Sinder in der oberdeutschen Kolonie Mühlhausendorf am Dnjepr folgende Wörter niederdeutschen Ursprungs: erpel ,Enterich', gender Gänserich', bol ,Zuchtstier', bollich ,brünstig von einer Kuh', hacke ,Ferse'* [Schirmunski, 1930: 64]. Spuren der Dialektmischung wurden auch in der Phonetik dieser Mundart festgestellt. Bei der Erforschung der Dialekte der ehemaligen Kolonien bei St. Petersburg, die Larissa Naiditsch in den 90er Jahren durchgeführt hat, fielen auch einzelne norddeutsche Wörter, die in diesen oberdeutschen Mundarten gefunden wurden, auf. Besonders bezeichnend ist das Wort Boll, das sowohl bei Schirmunski, als auch in den wolgadeutschen Maa zu finden war (Wolgadeutscher Sprachatlas, Karte 206) [Berend, 1996]. Man kann nur annehmen, dass es sehr früh durch die Dialektinterferenz in mehrere koloniale Mundarten eindrang. Dabei gab es bei Petersburg noch ein Wort für Ochse (Zuchtstier) - Hommel. Die Dialektmischung begann wahrscheinlich bereits während der langen Reise der Kolonisten aus Deutschland nach Russland.
Die Dorfanlage, das Kolonistenhaus und der Kolonistenhof erforschte Schir-munski gleichzeitig mit ihren Benennungen. So schreibt er über die Häuser der Kolonisten in der Südukraine: «das Haus ist dreiteilig, in der Mitte die Küche mit einer Vorstube (in der Ukraine Vorderstub, Vorderkich, Hausern oder auch Hausder ge-
nannt) [...], unter dem Dache befindet sich der Speicher (in der Ukraine auch Bühne oder Owwenuf genannt)» [Schirmunski, 1930: 75]. Diese Wörter sind in der deutschen Dialektologie bekannt: So ist der 2. Teil des Wortes Hausern - Ern, in einigen Maa, z. B. in der Vorderpfalz verbreitet, mhd. ern, eren 'Fußboden, Tenne'. Das Wort Owwenuf bedeutet eigentlich 'obenauf; dieses Adverb wurde substantiviert und als Bezeichnung des Dachbodens in einigen ober- und mitteldeutschen Maa gebraucht. In den Maa bei Petersburg war ein ähnliches Wort - Owwedrowwe 'Gaupe, Aufbau' registriert. Die Substantive Owwenuff und Owwedrowwe sind heute in der Ma. von Östringen im Kraichgau erhalten geblieben, wovon das Wörterbuch dieses Dialekts zeugt [Dischinger, o.J.]. Die Teile des Hauses, die auf die russische Art gebaut wurden, wurden durch Lehnwörter benannt. So hieß das Vorhaus in vielen russlanddeutschen Maa. Kriletz (aus russ. крыльцо - kryl 'co) [Schirmunski, 1928: 117].
«Der Einfluß des Russischen auf die deutschen Siedlungsmundarten macht sich vor allem auf lexikalischem Gebiet bemerkbar: Gegenstände und Begriffe der neuen [...] Umgebung bekommen eine russische Bezeichnung», schrieb Schirmunski [Schirmunski, 1930: 59]. Er führte folgende Beispiele aus dem Schwarzmeergebiet an: arbuse 'Wassermelone', borsch 'russische Rübensuppe', lapke 'Bauernschuhe aus Birkenbast', russ. lapti, lafke 'Verkaufsladen', nach der Revolution predsedatel 'Vorsitzender des Bauernrates, Dorfschulze' u. a. Einige dieser Worte sind in den Kolonistenliedern zu finden, d. h. in denjenigen, die in Russland entstanden sind.
Darüber hinaus ging Leo Sinder dem Problem der phonologischen Anpassung der Lehnwörter an das Lautsystem des Dialekts nach. Er stellte fest, dass in den Wörtern des ukrainischen Ursprungs stimmhafte Konsonanten vorkommen, wobei die beschriebene oberhessische koloniale Ma. die stimmhaften und stimmlosen Konsonanten nicht unterscheidet: buyai 'Zuchtstier' (ukr. бугай, bugaj), baran 'Schafsbock' (ббаран, baran), djm (Ukr. диня, din'a) 'Melone'. Es gibt aber zwei Ausnahmen: pdlemes der Name der Kolonie Belowesch und purakd 'rote Rübe', in denen der ukrainische stimmhafte Konsonant durch den stimmlosen wiedergegeben wird. Sie zeugen davon, dass das Auftreten der Stimmhaftigkeit in dieser Ma unter der Wirkung des Ukrainischen verhältnismäßig neu ist. Die phonologische Beschreibung des Dialekts in dem Aufsatz von Sinder und Sokolskaja (1930) ist zweifellos eine Pionierarbeit in der Dialektologie; im theoretischen Teil des Aufsatzes weisen die Verfasser auf die Theorie der primären und sekundären Merkmale von Schirmunski und auf die Ansätze von F. de Saussure, Baudouin de Courtenay und L. V. Scerba hin** [Sokolskaja, Sinder, 1930, 351-353].
Später wurden die russischen Einflechtungen in den Kolonistenmundarten noch zahlreicher. Dort, wo die russlanddeutschen Maa in den Nachkriegsjahren erhalten geblieben sind, werden die russischen Lexeme aktiv in die deutsche Rede eingeflochten; dabei entsteht die Frage nach der Unterscheidung zwischen der Wortentlehnung und der Kode-Umschaltung. Die phonologische Integration des Lehngutes in das phonologische System des Dialekts blieb auch in der Nachkriegszeit im Interessenkreis der russischen Germanistik (z. B. in den Forschungen von Viktor Donhauser und von Viktor Heinz). Was die morphologische Intergration des Lehnworts betrifft, so führt Schirmunski interessante Beispiele der hybriden Wörter an, in welchen eine
ukrainische Wortwurzel von dem deutschen Suffix gefolgt wird: katscherich, ketscherich oder ketschert ,Hausenterich' von Katsch ,Hausente' aus ukr. katschka.
So wie es oft bei der Wortentlehnung der Fall ist, wird die Bedeutung des entlehnten Worts manchmal eingeschränkt, somit findet die semantische Spezialisierung eines Lexems statt: «So bezeichnet man vielfach in der Ukraine die wilde Birne (Holzbirne) bir, ber, dagegen gebraucht man für die Kulturbirne das ukrainische Lehnwort dule. Eine Schaukel heißt gewöhnlich gauntsch (gangsch u. ä.), dagegen behält das für die russischen Dörfer charakteristische hängende Schaukelbrett seinen russischen Namen katschell» [Schirmunski, 1930: 59].
Ähnliche Fälle der Bedeutungs-Peripherisierung bei der Entlehnung wurden in den 90er Jahren bei den Mundartsprechern aus den Kolonien Neu-Saratowka, Kolpi-no und Obuchowo bei St. Petersburg aufgezeichnet: Pirokke ,nicht süßer Kuchen' im Unterschied zu Kuche ,süßer Kuchen' - russ. пирог, pirog 'Kuchen', Schtie 'die Suppe aus fein gehacktem, breiartigem Sauerkraut' vs Krautsupp 'Suppe aus Kohl' -russ. щи, sei, ,Krautsuppe' [Najdic, 1997]. Vgl. analoge Beispiele aus den anderen russlanddeutschen Maa.: Kamm (der Kamm für Frauen) - Rastscheske (für Männer), otwetschajen - verantwortlich sein vs antworten ,antworten' (russ. отвечать für beides) (Kasachstan, Gebiet Koktschetaw) [Kirschner, 1981: 20].
Die Erforschung der russlanddeutschen Mundarten setzten Viktor Schirmunski und seine Schüler bis Anfang der dreißiger Jahre fort. Zwei letzte Studienreisen wurden zwischen Juni und September 1930 durchgeführt. Es wurde jedoch immer deutlicher, dass Stalins Terror sich auch gegen Minoritäten, darunter die Sowjetdeutschen, wandte. Ihre kulturelle und politische Autonomie wurde zunehmend eingeschränkt bis hin zur völligen Auflösung der Kolonien und der Deportation der Russlanddeutschen nach Sibirien und Kasachstan in den Jahren 1941/42. Auch Schirmunski und seine Schüler und Mitarbeiter wurden den Repressalien ausgesetzt. Ellinor Johannson wurde erschossen, Alfred Ström in Stalinschen Lagern umgekommen. Schirmunski selbst wurde als angeblicher deutscher Spion in den Jahren 1933-1941 dreimal verhaftet und nur dank den Bemühungen seiner Kollegen und seiner Familie freigelassen.
Somit wurde die Arbeit an den russlanddeutschen Mundarten in den 30er Jahren zwangsläufig eingestellt. Schirmunski hat diese Hetze mutig überstanden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befasste er sich mit der Sprach- und Literaturgeschichte, mit der Epenforschung; auf dem Gebiet der Germanistik hauptsächlich mit der vergleichenden Laut- und Formenlehre, wobei ihm seine Erfahrungen in der Mundartkunde halfen. Auch in schweren Lebenssituationen gab er dem Druck nicht nach und unterbrach seine Forschungen nicht. Manchmal wurde er aber gezwungen, das Thema seiner Arbeit zu modifizieren. Das sich im Archiv befindende Material zeugt davon, dass Schirmunskis Beitrag zur Dialektlexikologie auch beträchtlich war. Besonders jetzt, da die Arbeit an großen Dialektwörterbüchern schon beendet oder fast beendet ist und manche lexikologische Materialien digitalisiert wurden, müssen diese Forschungsergebnisse in das Blickfeld der Germanistik rücken.
Примечания
* S. auch: Archiv Schirmunski. St. Petersburg. Mappe A 403.
** Dieser Artikel entstand auf der Grundlage der Diplomarbeiten von Tatiana Sokolskaja und Leo Sinder (beide unter der wissenschaftlichen Betreuung von V. M. Schirmunski). Die Diplomarbeit von L. R. Sinder wurde in seinem Hausarchiv gefunden und vor kurzem veröffentlicht [Sinder 1928/2006]. Die Diplomarbeit von Valentina Pogorelskaja war der Lexik derselben Kolonie gewidmet. Sie ist leider bis jetzt nicht gefunden.
Literaturverzeichniss
1. Dischinger, H. Eeschdringä Wäddabuuch (Östringer Wörterbuch. Mundart einer Kraichgaugemeinde). 1. Ausgabe. Verlag: Östringen, Selbstverlag, ohne Jahr.
2. Kirschner, V. Slovarnye zaimstvovanija iz slavjanskich jazykov v verchnen-emeckom govore Kokchetavskoj oblasti Kazachskoj SSR (Wortentlehnungen aus slawischen Sprachen in einer oberdeutschen Mundart des Gebiets Kokt-schetaw der Kasachischen SSR) [Text] / Avtoreferat kandidatskoj dissertacii. - Lvov 1981.
3. Najdic, L. Deutsche Bauern bei St. Petersburg-Leningrad. Dialekte - Brauchtum - Folklore [Text] // Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik-Beihefte 94. - Stuttgart : Franz Steiner Verlag. - 1997.
4. Sinder, L. Opisatel'naja grammatika sovremennogo govora nemeckoj kolonii Belye Vezi (Beschreibende Grammatik der modernen Mundart der deutschen kolonie Belye Vezy). Diplomarbeit 1928 [Text] / Hrsg. von Larissa Naiditch und Natalija Svetozarova // Acta Linguistica Petropolitana. Transactions of Institute for Linguistic Studies. - 2006. - Vol II. Part I. Ed. By N.N.Kazansky.
5. Schirmunski, V. Studien zur Volkskunde der deutschen Kolonien [Text]. -Zur neuen Schule : 14-15. - 1925. - S. 45-57.
6. Schirmunski, V. Die deutschen Kolonien in der Ukraine. [Text]. - Moskau : Zentral-Völkerverlag der Sowjet-Union, 1928.
7. Schirmunski, V. Die nordbairische Mundart von Jamburg am Dnjepr (Ukraine) [Text]. - PBB. - 1931. - Bd. 55. - H. 1-2. - S.243-282.
8. Schirmunski, V. Volkskundliche Forschungen in den deutschen Siedlungen der Sowjet-Union : Deutsche Volkskunde im ausserdeutschen Osten : vier Vortrage [Text]. - Berlin : Walter de Gruyter, 1930. S. 52-81.
9. Sokolskaja, T, L. Sinder. Eine oberhessische Sprachinsel in der Nordukraine. [Text]. - PBB. - 1930. - Bd. 54. - H. 3. - S. 334-355.
10. Wolgadeutscher Sprachatlas [Text] // Hrsg. von Nina Berend : Francke. -Tübingen/Basel. - 1996.
11. Zirmunskij, V.M. Obscee i germanskoe jazykoznanie. (Allgemeine und germanische Sprachwissenschaft) [Text]. - Leningrad : Nauka. - 1976. - P. 426429.