2. Художник и культурное пространство. Региональные исследования в литературоведении
UWE TIMM: JOHANNISNACHT
Als Uwe Timm den Roman Johannisnacht veröffentlichte, zählte er bereits zu den profiliertesten Prosaschriftstellern der deutschen Gegenwartsliteratur. Im Jahr 1940 in Hamburg geboren, legte er einen langen Weg zurück, bevor er Schriftsteller wurde: Er lernte das Kürschner-Handwerk, übte es auch viele Jahre im kleinen Familienbetrieb aus und kam erst spät zum Studium der Philosophie und Germanistik. So geriet er als Student in die aufgeregten Jahre, die 1967 begannen und nicht nur die Universitäten veränderten. Als Außenseiter der sogenannten 68er-Generation begann er zu schreiben, indem er zunächst im Roman Heißer Sommer (1974) die Erfahrungen dieser turbulenten Zeit verarbeitete. Die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen jener Revolte, mit der Vergeblichkeit der von der politisierten Jugend angestellten Versuche, die Welt zum Besseren zu verändern, bleib lange Zeit ein Thema von Timms Prosa. Im Lauf der nächsten beiden Jahrzehnte erschloss der Erzähler sich eine große Bandbreite von Themen und literarischen Techniken. Die Stoffe, die er bearbeitet, reichen von der Geschichte des Kolonialismus in Afrika über die postkolonialen Gesellschaften in Lateinamerika bis zu den Verwerfungen, welche die Vereinigung Deutschlands hervorrief; in diesen Kontext gehört außer dem Roman Johannisnacht auch der Roman Rot (2000). Großes Aufsehen erregte die autobiografische Schrift Am Beispiel meines Bruders (2003). Darin versucht Timm, die Geschichte seines Bruders, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 in Russland fiel, zu begreifen und behutsam, aber ohne moralische Kompromisse aufzuarbeiten. Die jüngste Veröffentlichung ist wieder ein Roman, der, wie Johannisnacht, sein geografi-sches Zentrum in Berlin hat. Er erschien 2009
Bernhard Spies
Статья посвящена исследованию романа немецкого писателя Уве Тимма (р. 1940) «Ночь чудес» (1996). Особое внимание уделено вопросу о политическом и социокультурном контекстах романа, проблеме повседневности и способам её преодоления, а также размышлениям писателя о смысле бытия и удивительных приключениях, способных изменить восприятие жизни.
Ключевые слова: Уве Тимм, «поколение 68», объединённая Германия, «упакованный Рейхстаг», Берлин, ночь св. Иоганна (Ивана Купалы), фантастические приключения, юмористическое начало, человек и его настоящее.
unter dem Titel Halbschatten und kann wie eine Summe aller bisherigen Schriften dieses Autors gelesen werden, sowohl im Hinblick auf die äußerst elaborierte Polyfonie des Erzählens wie auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Deutschlands, die im Invaliden-Friedhof in der Mitte von Berlin manifest wird [1].
Sommernachtstraum ist von den Arbeiten Timms - wenn man von den Kinderbüchern absieht [2] - die unbeschwerteste, bunteste und humorvollste Erzählung. Das deutet schon der Titel an, der auf Shakespeares berühmte Komödie anspielt. In Shakespeares Drama Sommer-
nachtstraum wird die Erinnerung an den Unterschied der Stände und Geschlechter, der Schauplätze und Personen, von Mensch und Tier, überhaupt von Wirklichkeit und Illusion dazu benutzt, um das gegenwärtige Bewusstsein zu betrügen und die Gewissheit solcher Unterschiede aufzulösen. Man sollte glauben, dass ein solch fantastisches Spiel der Verwechslungen nicht im Stande sei, einen realen Zustand der Welt zu identifizieren. Identifizieren soll hier heißen: am besagten Zustand das erfassen, was ihn ausmacht, unabhängig vom Wandel der Außenseite und der zufälligen Anblicke, die sie bieten mag. Diese Annahme ist sicher nicht ohne Grund. Andererseits gibt es ganz reale Umstände und Zustände, die mit der Verrücktheit einer Johannisnacht nicht nur gut zu beschreiben sind, die umgekehrt mit Kategorien der Normalität völlig verfehlt würden. Es ist dann so, als würde ein normaler Spiegel alles verzerren, während der Zerrspiegel den einzigen unverstellten Blick auf die Dinge ermöglichte. In diesem Sinn muss man den Roman Johannisnacht von Uwe Timm lesen. Er spielt in Berlin im Juni des Jahres 1995, also in der neuen Hauptstadt des vereinigten Deutschland, dessen Mitte aus etlichen Baugruben enormen Ausmaßes sowie einem Reichstag besteht, der in den Tagen vom 20. bis zum 23. Juni unter der Regie von Christo und Saint-Claude verhüllt wird. Dieses Berlin ist so eine reale Absurdität, der nur die Groteske ,bei-kommt', wie Dürrenmatt es ausdrücken würde [Dürrenmatt 1980: 62].
Dabei fängt die Geschichte ganz alltäglich an. Der Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller, dem seit Wochen für eine neue Geschichte kein Anfang einfällt; so nimmt er den Auftrag an, gegen ein gutes Honorar einen Artikel über die „Peru-Preu-ßen-Connection" [Timm 1996: 7] zu schreiben, im Klartext: über die Kartoffel. Ein Bekannter in Berlin bietet ihm an, die Verbindung zu einem ausgefuchsten Kartoffelforscher im Osten der Stadt herzustellen. So fliegt der Erzähler nach Berlin. Der Roman endet damit, dass er drei Tage und drei Nächte später Berlin fluchtartig verlässt. Was in der Zwischenzeit geschieht, lässt sich durchweg nach dem Muster wiedergeben: Immerfort sucht der Erzähler jemanden und immerfort trifft er auf jemanden, und fast immer ist es eine andere Person, eine andere als zu erwarten war oder die gleiche Person, aber anders als beim letzten Treffen, und stets ist es eine andere
Welt als er erwartet. Den Agrarwissenschaftler Rogler, so heißt die Kartoffel-Koryphäe, trifft er nie, denn der ist mittlerweile verstorben. Stattdessen findet er in dem Haus, in dem Rogler wohnte, einen anderen abgewickelten Akademiewissenschaftler, der jetzt die Bilder russischer Konstruktivisten fälscht und Schnittblumen für die Straßenverkäufer präpariert, was ungefähr auf das Gleiche hinausläuft. Im nämlichen Haus stößt er auf einen heruntergekommenen alten Mann, der glaubhaft versichert, Honeckers Privatfriseur gewesen zu sein, und dem Erzähler, der nicht Nein sagen kann, für 20 DM einen Haarschnitt verpasst. Der sieht von vorne ganz proper aus, weist aber am Hinterkopf drei schräge Schneisen im Haar auf, so dass alle lachen müssen, die den Erzähler von hinten sehen. Den Ausgleich für diese Ostberliner Gehässigkeit sucht er bei einem Westberliner Modefriseur, der nicht minder heftig philosophiert und psychologisiert als der Ossi, dabei aber in einer ganz anderen Vorstellungswelt schwebt. Der, voller Mitgefühl für das Opfer, macht für 120 DM die Haarschneisen am Hinterkopf quasi unsichtbar, indem er drei grüne Strähnen hineinfärbt, womit er die Verstümmelung vollendet. Ein waschechter Italiener verkauft dem Erzähler, der nächtens frierend vor dem fast verhüllten Reichstag steht, für einen sehr günstigen Preis eine warme Lederjacke, die sich beim ersten Regen in stinkende Pappe auflöst. Der Erzähler argwöhnt in dieser Episode immerfort, dass er betrogen werde, erliegt aber zugleich dem Charme des Mannes, der dem Klischee so ähnlich sieht, dass er schon wieder authentisch wirkt. Zweifellos authentisch sind die - vermutlich bulgarischen - Waffenhändler, an die der Erzähler gerät, weil er das Kästchen mit Roglers Kartoffelkatalog wieder haben will. Dieses Kästchen hatte er bei seinem Besuch in der Wohngemeinschaft des Bilderund des Frisurenfälschers mitnehmen dürfen, aber er gerät in Streit mit dem Taxifahrer, so dass der ihn und sein Gepäck buchstäblich auf die Straße schmeißt, wobei das Kästchen mit dem Katalog verschwindet. Auf dem Fundbüro erhält er nicht das Kästchen, wohl aber einen guten Rat:
«Sie gab mir die Telefonnummern von Tagesspiegel und der Berliner Zeitung, die eine für den Westen der Stadt, die andere für den Osten. Sie schob mir einen Block hin.
Ich schrieb: Biedermeierkästchen mit Kartoffelkatalog im Taxi verloren. Wissenschaftliches Werk. Gegen gute Belohnung abzugeben. Dann das Telefon der Pension.
Könn Se kürzen, sagte die Frau, sparn Se Geld. Schreibn Se einfach: Suche Kartoffelkatalog. Biedermeierkästchen. Gute Belohnung. Und wissenschaftlich können Se ganz weglassn. Glaubt doch niemand, dass es dann ne Belohnung gibt» [Timm 1996: 82].
die Nichteigentümer, die Mieter, gehen. Logistisch hochinteressant. Da haben Umzugsfirmen gute Chancen. Hab sofort einen Kredit bekommen von der Bank. Und das Geschäft geht gut, sehr gut sogar. Ich bin froh über den Wechsel, bin jetzt mein eigner Herr. Da, das sind meine Leute, alles Polen, gute, fleißige Arbeiter. Sie werden es vielleicht nicht glauben, ich bin zufrieden. Umzüge zu organisieren macht Spaß» [Timm 1996: 85].
Diese Annonce bringt dem Erzähler eine Verabredung ein, und zwar, wie er leider zu spät feststellt, mit besagten Waffenhändlern, die sich angesprochen fühlen, weil «Kartoffeln» in ihrem Jargon «Landminen» bedeutet [Timm 1996: 207]. Mit ihnen ist nicht gut Kirschen essen, weil sie im Erzähler, der an den ihm offerierten Katalogen von Minen aller Art kein Interesse hat, sofort einen Spitzel wittern. Seitdem ist dieser friedliche Mensch immer auf der Hut und am Ende des Romans regelrecht auf der Flucht.
Die Liste der kleineren und größeren Verwechslungen und Vertauschungen, der ungewollten wie der absichtlichen, ist lang. Fast allen dieser Episoden sind erhebliche reale Nöte anzusehen. Fantastisch sind sie zunächst einmal nur in einem Sinn: Ein halbes Jahrzehnt vor der Reichstagsverhüllung hätte niemand im Ernst das für möglich gehalten, was 1995 Alltag war. Das Unglaubliche der Veränderungen zeigt sich nicht zuletzt an denen, die sich nicht darüber beschweren. Ein kurzer Dialog zwischen dem Erzähler und einem Mann, der eine Spedition und ein Möbellager betreibt. Es liegt inmitten der alte Grenzanlagen in einer Halle «aus Betonfertigteilen von rücksichtsloser Hässlichkeit» [Timm 1996: 84].
«Ich fragte ihn, wie lang er dieses Möbellager hier habe.
Kurz nach der Wende. Ich hab den Komplex gekauft, fürn Appel und n Ei.
Sind Sie Betriebswirt?
Der Mann, der wie ein Tabakspflanzer aussah, lachte: Nein. Oberstleutnant.
Oberstleutnant?
Ja. Nationale Volksarmee. Nach der Wende war der Traum aus, musste das Ehrenkleid an den Nagel hängen. Hab dann die Umzugsfirma gegründet. War mir gleich klar, die Wiedervereinigung bringt hier einiges in Bewegung, Alteigentümer und Neueigentümer kommen, und
Was die Leute sind, wollen und tun, gerät aus den Fugen, bis sie kaum wiederzuerkennen sind. In Johannisnacht trifft der Erzähler lauter Leute, die gerade umdefiniert werden und aus diesem Grunde sich selber umdefinieren. Das gilt für die Angepassten wie für die mangels Erfolg weniger oder anders Angepassten, die es im Westen wie Osten gibt, auch wenn sie hier mehr auffallen. Alle halten ihr Wissen und ihre Tugenden fest, sofern sie auch unter den geänderten Verhältnissen nützlich sind - als Beispiel möge der bereits zitierte NVA-Offizier dienen -, und daneben und zugleich stellen sie sich bereitwillig um, oft ohne zu wissen, worauf sie sich eigentlich einstellen.
Auf diese Weise enthüllt der Roman Härten, die man durchaus als solche wahrnehmen soll. Andererseits ist der Verweis auf Not und Scheitern nie das letzte Wort. Die vielen Geschichten, aus denen der Roman zusammengesetzt ist, demonstrieren, dass ungeachtet der Beschädigungen und mitten in allen möglichen Niedergängen und schrägen Aufstiegen die meisten Leute sich nicht verlieren, zumindest nicht ganz. Sie behalten etwas ihnen Eigentümliches, durch das sie sich von den Umständen, die sie definieren, zugleich auch unterscheiden, so dass sie nicht nur das Produkt ihrer Umstände sind, sondern sich über ihre Bedingungen zugleich erheben. Vielleicht darf ich mir an dieser Stelle einen theoretischen Einordnungsgedanken gestatten: Johannisnacht gibt mit seinem ungeschminkten Bild sozialer und psychologischer Zustände in der frisch vereinigten Hauptstadt nicht nur mancher politischen Kritik recht, sondern zugleich der postmodernen Auffassung vom Ende des Subjekts sowie dem Lebensgefühl aller verlorenen Generationen des 20. Jahrhunderts: «Gesellschaft null, Zukunft ebenfalls zero», sagt der Beerdigungsredner, den der Erzähler nachts an einer Currywurst-Bude trifft [Timm 1996: 224]. Zugleich formuliert der Roman einen
Einspruch dagegen: Sofern Individuen eine eigene Lebensgeschichte haben, gibt es noch Restbestände von Identität und eine Art von Sinn, sprich: von innerer Zusammengehörigkeit eines Menschen mit den Umständen und Wechselfällen seines Lebens, und dadurch kann das Individuum mehr sein als die Resultante aller Abhängigkeiten. Die Trauer über die Verluste und die Kritik an ihren Ursachen werden verkehrt und in ein positives Verständnis von Vertauschen und Täuschung gewendet. Diese Wende wird explizit zum Beispiel in einer Überlegung über die Verhüllung des Reichstags, die von einem Gast in der Pension geäußert wird:
«Danach wird etwas anders sein, ich bin überzeugt, dass diese Verhüllung etwas verändert. Das Geheimnis liegt darin, dass etwas anders sein könnte. Übrigens ist keinem dieser Kunstkritiker aufgefallen, dass die Verhüllung am 23. Juni vollendet wird, also der Mittsommernacht, Mittsommernacht, in der es ja kunterbunt zugeht, Verwechslungen, Verkleidungen, Vertauschungen sozusagen zur Tagesordnung gehören. Es ist die ästhetischste Nacht des Jahres. Die Dinge zeigen sich von einer anderen Seite, wie auch die Menschen» [Timm 1996: 193].
Nimmt man sie von der ästhetischen Seite, und das tut Johannisnacht genüsslich, dann zeigen Verkennung und Verkleidung etwas Produktives am Menschen, durch das er sich in allen Beschädigungen erhält, gerade dann, wenn er eine Maske anlegt, die von keiner wahren Identität mehr zu unterscheiden ist. Der Roman kennt zwei Hauptelemente dieses Positivums: die Erotik und das Erzählen von Geschichten. Diese beiden Elemente werden auf eine sehr komische Weise miteinander verwoben.
Die Verquickung geschieht keineswegs nur, aber vor allem durch die Figur einer jungen Frau namens Angerbach, die der Erzähler schon am ersten Tag seines Berlinaufenthalts ausfindig macht. Sie hat ihr Germanistikstudium mit einer Magisterarbeit über die Kartoffel in der Nachkriegsliteratur abgeschlossen; bei deren Abfassung hatte sie Roglers Unterstützung, und der Erzähler hofft seinerseits auf ihre Unterstützung bei seiner Aufgabe [Timm 1996: 94]. Schon beim ersten Anruf ahnt der Erzähler, was die Angerufene beim folgenden Treffen bestätigt: Sie verdient ihr Geld mittlerweile mit Telefonsex.
«Aber mir macht es Spaß, und die Kohle stimmt. Absolut clean, keine Berührung, und
man kann und muss spontan reagieren. Nicht so stupid, wie es die meisten machen [...] Einfach peinlich, das ist etwas für die akustischen Analphabeten. Nein, ich lass Geschichten entstehen, Möglichkeiten, es entsteht was im Kopf, wie beim Lesen. Insofern hat mir auch das Studium geholfen. Erzählen ist total erotisch. Bekommen die heimlichen Wünsche etwas Luft unter die Flügel» [Timm 1996: 102].
Der Erzähler lässt sich auf eine vereinbarte Probe ein. Er ruft sie an, lässt sich nach vielen telefontechnischen Präliminarien die Geschichte einer leidenschaftlichen Affäre der jungen Frau mit einem älteren Mann erzählen, die darin kulminiert, dass die beiden in einer Umkleidekabine des Schwimmbads übereinander herfallen. Das Telefonat schließt damit, dass die Erzählerin der Telefongeschichte und der Erzähler des Romans sich für den gleichen Abend in eben jenem Berliner Schwimmbad verabreden, und dass der zweite feststellen muss, wie hoch die Telefonkosten dieses guten Gesprächs sind: genau 1001 DM. Auf der finanziellen Seite hält er sich einen Tag später schadlos, indem er einen sogenannten Bumerang-Call lanciert [Timm 1996: 136, 199], wodurch er die märchenhafte Summe wieder auf das Konto der Pension zurückbucht. In erotischer Hinsicht gelingt der Ausgleich von Betrug und Gegenbetrug nicht gleichermaßen. Der Erzähler begibt sich wirklich zum umgehend zum Schwimmbad, trifft im Schwimmbecken aber keine junge Frau, sondern etliche, die noch deutlich älter sind als er. Beim Verlassen des vergeblich aufgesuchten Bads erblickt er dann das Schild: «Heute extra warm. Senioren-Abend» [Timm 1996: 127].
An dieser Episode lässt sich vielleicht konkretisieren, was bei Uwe Timm mit dem Ausdruck «Erzählen» alles gemeint ist. Der Erzähler beschönigt keineswegs, dass ein übles Spiel mit ihm gespielt wurde; er ist es ja, der es berichtet, aber er berichtet es so, dass er von der erfahrenen Beschädigung und Herabsetzung zugleich Abstand nimmt. Dieser Abstand wird stilistisch eingerichtet durch den Humor der sprachlichen Vergegenwärtigung. Humor heißt aber hier etwas ganz anderes als die populäre Definition besagt, Humor sei, wenn man trotzdem lacht. Hier ist es durchweg so, dass der Erzähler sich den Ereignissen, die ihm offenkundig nicht angenehm sein können, dennoch ein Stück weit überlässt, in neugieriger Erwartung, was die sich
gerade zutragende Geschichte noch alles zutage fördern werde an nicht erwarteten Blicken auf die Welt und ihren Betrachter. Einem der vielen Unbekannten, die er trifft, erläutert der Erzähler seine abenteuerliche Frisur mit folgender Bemerkung:
«Ich wollte was über die Kartoffel recherchierten, habe inzwischen viele merkwürdige Geschichten erlebt. Man fängt mit der Kartoffel an und landet ganz woanders und ist dabei selbst auch ein anderer geworden, sieht man ja am Kopf.
Er lachte. Gute Geschichten sind wie Labyrinthe.
Ja, sagte ich, inzwischen habe ich allerdings den Faden verloren» [Timm 1996: 197].
Zu diesem Humor gehört, dass man bereit ist, eigene Blamagen und eigenes Scheitern einzugestehen, statt sie zu verleugnen, indem man sie als in einem höheren Sinn wertvoll und bereichernd umdeutet. Es ist kein großer, sondern ein bescheidener, kleiner Sinn, den Johannisnacht für ästhetisch produktiv erklärt. Dieser ,kleine' Sinn besteht in der Annahme, dass jeder Mensch eine eigene Lebensgeschichte hat, in der auf irgend eine Weise das Individuum und seine Welt zusammenpassen. Das lässt sich der Erzähler von einem Beerdigungsredner erklären, mit dem zusammen er mitten in der Nacht vor dem Bahnhof Zoo eine Currywurst isst. Von diesem Beerdigungsredner stammt die bereits zitierte Äußerung: «Gesellschaft null, Zukunft ebenfalls zero». Aus dieser Feststellung schließt er allerdings: „Bleibt immer nur wieder der Blick in die
Biographie des Verstorbenen." [Timm 1996: 224] In diesem Blick liegt dann doch immer ein eigenes Leben mit einem diesem besonderen Menschen eigentümlichen Profil, zu dem alles, was ihm widerfuhr, als Beitrag aufgefasst werden kann. Ob dieser Blick den individuellen Sinn dieses Lebens hervorbringt oder nur auffindet, bleibt in Johannisnacht offen. Nur so viel sei noch bemerkt, dass der besagte Beerdigungsredner die Hauptfigur von Uwe Timms nächstem Roman mit dem Titel Rot abgibt. Aber diese Erfindung eines eigenen Lebens steht auf einem anderen Blatt.
Literatur
Dürrenmatt F. Theaterprobleme (1954) // Dürrenmatt F. Theater. Essays und Reden. Werkausgabe in dreißig Bänden. Bd. 24. Zürich: Diogenes, 1980. S. 62.
Timm U. Johannisnacht. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1996, S. 7.
1. Den bislang umfassendsten Überblick über Uwe Timms literarisches und essayistisches Werk bietet die Werkbiografie von Martin Hielscher: Uwe Timm, München 2007.
2. Timm veröffentlichte drei Kinderbücher. Das erste davon - Rennschwein Rudi Rüssel (1989) - wurde zu einem Dauererfolg. Es liegt mittlerweile in 23. Auflage beim Deutschen Taschenbuchverlag vor.