HORIZON 8 (1) 2019 : Research : M. Hähnel : 123-139
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
ФИЛОСОФИЯ ПРИРОДЫ PHILOSOPHY OF NATURE
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2019-8-l-123-139
DER VORRANG DER VORGÄNGE. HARTMANN, WHITEHEAD UND ARISTOTELES ÜBER WERDEN UND VERGEHEN
MARTIN HÄHNEL
PhD in Philosophy, Post-Doc. Catholic University Eichstätt-Ingolstadt. 85072 Eichstätt, Germany. E-mail: m.haehnel@ku.de
THE PRIORITY OF PROCESSES. HARTMANN, WHITEHEAD AND ARISTOTLE ON THE PHENOMENA OF GENERATION AND CORRUPTION
The following paper presents the three most powerful approaches to the metaphysical phenomena of generation and corruption stemming from Aristotle, Alfred North Whitehead and Nicolai Hartmann. After starting with a general overview of the historical developments of philosophical concepts on the issue of generation and corruption, the article sheds light on different criticisms evaluating the classical Aristotelian account of substance. Thereafter, I refer to the work of Nicolai Hartmann whose aim is to ontologize the fundamental processes of coming-into-being and passing away while his contemporary A. N. Whitehead sets up a certain process philosophy conceptually refraining from an Aristotelian conception of substance. In my view, both approaches require an overall re-examination of Aristotelian metaphysics. In his rediscovered and attention-getting work De generatione et corruptione Aristotle gives an impressive account on how to understand substance out of the processes of coming-into-be-ing and passing-away. Against this backdrop, I finally argue that Aristotle's conception of becoming is closer to Whitehead's process philosophy than to Hartmann's positivistic ontology because in De generatione et corruptione the self-standing character of substance emerges as a subsequent moment of an encompassing processuality (described as a teleological alternation of generation and corruption). In contrast, Hartmann claims that the process itself has to be taken as a self-standing substance.
Key words: Ontology, phenomena of generation and corruption, substance, Hartmann, Whitehead, Aristotle, metaphysics, process philosophy.
© MARTIN HÄHNEL, 2019
ПЕРВИЧНОСТЬ ПРОЦЕССОВ: ГАРТМАН, УАЙТХЕД И АРИСТОТЕЛЬ О ВОЗНИКНОВЕНИИ И УНИЧТОЖЕНИИ
МАРТИН ХЭНЕЛЬ
Доктор философии, постдок.
Католический университет Айхштетта-Ингольштадта. 85072 Айхштетт, Германия. E-mail: m.haehnel@ku.de
Настоящая статья представляет три наиболее влиятельных подхода к осмыслению феноменов возникновения и уничтожения, идущие от Аристотеля, А. Н. Уайтхеда и Н. Гартмана. Статья открывается рассмотрением исторического развития философских понятий, связанных с проблемой возникновения и уничтожения. Далее, в ней освещаются различные направления в критике аристотелевской трактовки субстанции. Далее я обращаюсь к трудам Н. Гартмана, который предпринимает попытку онтологизировать процессы вхождения-в-бытие и ухода-из-бытия, в то время как А. Н. Уайтхед, его современник, разрабатывает своего рода философию процесса, в концептуальном плане дистанцируясь от аристотелевской концепции субстанции. На мой взгляд, оба подхода требуют полного пересмотра метафизики Аристотеля. В его открытом заново и привлекающим все большее внимание труде De generatione et corruptione Аристотель дает впечатляющее решение проблемы того, как субстанция может быть понята вне процессов вхожде-ния-в-бытие и ухода-из-бытия. В этом контексте я показываю, что аристотелевская концепция становления более близка философии процесса Уайтхеда, нежели позитивистской онтологии Гартмана, поскольку в работе De generatione et corruptione самостоятельный характер субстанции обнаруживает себя в качестве момента общей процессуальности (описанной как телеологическое изменение возникновения и уничтожения). В противоположность этому, Гартман считает, что сам процесс должен быть рассмотрен в качестве самостоятельной субстанции.
Ключевые слова: Онтология, феномены возникновения и уничтожения, субстанция, Гартман, Уайтхед, Аристотель, метафизика, философия процесса.
1. THEMATISCHE HINFÜHRUNG
Die Frage nach dem Werden und Vergehen ist so alt wie die Philosophie selbst. Als Urvater einer Philosophie des Werdens gilt bekanntlich Heraklit, dessen Sätze „Alles fließt!", panta rhei, oder „Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluß" zu populären Schlagwörtern und Redensarten geworden sind, die eine philosophische Auseinandersetzung mit den Phänomenen von Werden und Vergehen seit jeher begleiten. Allerdings ist nach vielen Jahrhunderten, in denen sich Denker im Rahmen einer Metaphysik des Seiendes hauptsächlich den vielfältigen Implikationen der Seinsfrage auf platonisch-parmenideischer Grundlage zugewandt haben1, die Frage nach
1 Nach platonisch-parmenideischer Auffassung existiert nur Seiendes. Nichtseiendes oder Noch-Nicht-Seiendes kann demzufolge nicht existieren, was den Gedanken des Werdens, also einer Entstehung von Neuem, d.h. von etwas, das vorher noch nicht da war, unmöglich macht.
dem Werden in philosophisch einträglicher Weise erst wieder in der Neuzeit, namentlich mit Henri Bergson und Alfred North Whitehead, gestellt worden. Für Whitehe-ad, der seine Theorie in unmittelbarer Nachbarschaft zu den wissenschaftlichen Entwicklungen und Entdeckungen seiner Zeit konzipiert hat, ist die Natur der zentrale Ort, an dem wirkliches Werden auftritt. So schreibt er: „Die Natur ist ein Schauplatz für die Wechselwirkungen von Aktivitäten. Alle Dinge sind im Wandel, die Aktivitäten und die Wechselbeziehungen" (Whitehead, 2001, 191). Erstmals versucht hier ein neuzeitlicher Denker, moderne Naturwissenschaft und klassische Naturphilo-so-phie wieder neu miteinander ins Gespräch zu bringen, allerdings um den Preis, dass Whitehead damit einige seit Aristoteles bekannten klassischen naturphilosophischen Prämissen aufgibt. Denn Whitehead zufolge besteht der von Aristoteles eigenführte und sich fortschreibende Kardinalfehler einer nicht-revisionären Naturphilosophie in der Konzipierung einer Metaphysik, die auf dem Substanzbegriff fußt und die Natur als „eine öde Sache, tonlos, geruchlos und farblos" betrachtet, welche „nur das Hasten von Stoff, endlos und ohne Sinn" (Whitehead, 1988, 70) im Blick hat. Whiteheads fundamentale Kritik an der klassischen Metaphysik kreist dabei insbesondere um das Problem, dass ihr zufolge die Selbstständigkeit der Substanz Aspekte eines Werdens nur im Sinne der Veränderung an einer irreduziblen, in sich „werdelosen" Substanz thematisieren kann. Whitehead möchte im Gegensatz zur aristotelischen Tradition ferner „den relationalen Charakter der actual entity gegenüber der Selbstständigkeit der Substanz" (Böhme, 1970, 548, herv. M. H.) betonen. Wie in seinen Arbeiten auch deutlich werden soll, muss der aristotelische Elementarbegriff der Substanz durch den Begriff der actual entity, welche „nichts Selbstständiges [ist], sondern im Gegenteil das Produkt ihrer Bezogenheit auf andere actual entities" (Böhme, 1970, 553), ersetzt werden. Daraus folgt der Umstand, dass nicht die Substanz als solche, sondern lediglich deren Eigenschaft, selbstständig zu sein, die Möglichkeit eines genuinen Werdens ausschließt.
Es soll nun im Folgenden meine Aufgabe sein, diese Kritik erneut zu prüfen und sowohl Whiteheads Prozessphilosophie als auch die aristotelische Theorie des Werdens unter Bezugnahme auf eine bestimmte Deutung des aristotelischen Substanzbegriffes vorzustellen und miteinander zu vergleichen. Als weiteren wichtigen Vergleichsmaßstab werde ich die Arbeit von Nicolai Hartmann heranziehen, welche die Kritik von Whitehead an Aristoteles umkehrt und den Selbststandcharakter der Substanz zum entscheidenden Kriterium für den konsistenten Aufbau einer Ontologie macht. Vor dem Hintergrund der jüngst von Thomas Buchheim neu edierten und kommentierten Ausgabe des aristotelischen Werkes Über Werden und Vergehen (lat. De generatione et corruptione (GC)), deren Untersuchung als Ergebnis eine Erweiter-
ung des aristotelischen Substanzverständnisses nahe zu legen scheint, soll schließlich deutlich werden, dass sowohl die Kritik Whiteheads an Aristoteles als auch Hartmanns Reduzierung des Substanzbegriffes auf seinen Substratcharakter der aristotelischen Substanzontologie nicht gerecht werden, sondern dass alle drei Denker auf je eigene Weise eine Theorie des Werdens entwickeln, die sich in manchen Aspekten an Aristoteles anlehnt, sich in anderen Hinsichten aber wieder von ihm entfernt.
Betrachten wir zunächst die Analyse des Substanzbegriffes durch Whitehead, so fällt unter anderem auf, dass dieser in der definitorischen Bestimmung dessen, was eine Substanz ist, nicht auf Aristoteles und seine Aussagen zur Substanz in der Kategorienschrift rekurriert2, sondern vielmehr auf die klassische Definition von Descartes zurückgreift, der zufolge Substanz dasjenige sei, was in keinem anderen ist bzw. keines anderen zu seiner Existenz bedarf (cf. Descartes, 2005, 51). Anders als einige Theoretiker der späteren Neuscholastik meinen3, bietet diese negative, eher konstatierende Definition von Descartes noch keinen expliziten Anlass für die Ausarbeitung einer positiven Bestimmung der Substanz. Vielmehr stellt sie einen Legitimationsgrund dafür dar, um im Sinne Whiteheads, der auf die zeitgenössischen Entwicklungen der empirischen Wissenschaften, sprich der Quanten- und Relativitätstheorie eingeht, eine systematische Alternative zu klassischen substanzphilosophischen Ontolo-gien einführen zu können.
Während bestimmte Ansätze einer positivistischen Metaphysik, vor allem derjenige von Nicolai Hartmann, auf den ich gleich zu sprechen komme, bis heute immer wieder auf das In-sich-selbst-Sein, d.h. jenen Selbststandcharakter der Materie zu rekurrieren versuchen und sich damit auch genötigt sehen, ein irgendwie Beharrendes einzuführen, versucht Whitehead mit seiner Idee der actual entity dieses Postulat der Selbstständigkeit zugunsten jener Beziehungen zu anderen Entitäten, die sich ständig neu verbinden und damit jeder Dingkonstitution vorausliegen, aufzugeben.
Demnach ist ,Substanz' dasjenige, was Gegenstände prädiziert, von dem aber selbst nichts ausgesagt werden kann (cf. Aristoteles, 1995, 3-10).
Hier ist auffällig, dass der psychologistische Substanzbegriff, wie in Brentano konzipiert hat, ebenfalls in dieses Schema passt. Brentano ersetzt nämlich die Substantialität durch eine irreduzible Vorstellung, die ich von ihr, der Substanz, habe und nennt diese Vorstellung ,Seele' (cf. Brentano, 1862). Es ist übrigens nachweisbar, dass Hartmanns ontologische Einsichten (mehr noch als Brentanos Arbeiten, die vor allem Eindruck auf die spätere Phänomenologie ausüben sollte) einen großen Einfluss auf die neuscholastische Philosophie ausgeübt haben und damit auch (vor allem im deutschen Sprachraum) das moderne Verständnis der Philosophie von Thomas von Aquin geprägt haben (cf. Hähnel, 2013).
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2. NICOLAI HARTMANNS POSITIVISTISCHE METAPHYSIK DES WERDENS
An dieser Stelle muss es uns erlaubt sein, einen Denker ins Zentrum zu stellen, der wie kaum ein anderer vor ihm klassische Themen der Metaphysik in Form einer positivistischen Ontologie neu aufbereitet hat: Nicolai Hartmann. Neben Whitehead und Bergson hat sich auch Hartmann mit dem Thema des Werdens vor allem im Rahmen einer elaborierten Naturphilosophie auseinandergesetzt. Ebenso wie Whitehead war er bestrebt, die klassische Metaphysik und Ontologie zu erneuern, allerdings nicht mit dem Ziel, den Substantialismus als solches zu verabschieden, sondern diesen um willen einer Neubestimmung der Substanz als eines Prozesses, der nicht nur Seiendes, sondern auch Nicht-seiendes in sich aufzunehmen in der Lage ist, zu revidieren. Anders als bei Whitehead ist das Werden für Hartmann dabei nicht als ein neues Sein zu verstehen, welches auf dem Begriff der aktualen Entität beruht, sondern das Werden selbst ist die höchste Form des Seins (Hartmann, 1950, 261), das sich in verschiedenen Modi erklärt, aber als es selbst unveränderlich bleibt. Diese Ontologisierung des Werdens, die als eine ,Parmenideisierung Heraklits' beschrieben werden könnte, stellt im Grunde genommen die Idee eines ,schlichten Werdens', von dem Aristoteles in GC spricht, endgültig in Abrede. Indem auf diese Weise das Werden umstandslos mit dem Sein identifiziert bzw. konfundiert wird, können Entstehen und Vergehen nicht mehr als distinkte Prozessarten begriffen werden. Vielmehr werden sie zu unterschiedslosen Momenten innerhalb eines ebenso gestaltlosen Nexus herabgestuft. Hierzu bemerkt Nicolai Hartmann: „Das Auftauchen und Verschwinden vielmehr, indem es aus Seiendem kommt, und in Seiendes weitergeht, bildet einen zusammenhängenden Duktus, in dem zwar das jeweilige Stadium entsteht und vergeht, das Werden selbst aber ununterbrochen weitergeht" (Hartmann, 1950, 262).
Hartmann sieht im aristotelischen Werdensverständnis insbesondere eine falsche Modaltheorie am Werk, der zufolge an der Wirklichkeit des bloß Möglichen zu Unrecht festgehalten werde. Für den Megariker Hartmann ist die Idee einer reinen Potentialität indes undenkbar, da seiner Auffassung nach nur dasjenige möglich gewesen war, was auch wirklich geworden ist. Dass reine Potentialität aber nicht unbedingt mit unbestimmter Potentialität gleichgesetzt werden muss, zeigt Aristoteles in De Generatione et Corruptione (siehe Abschnitt 4). Demnach kann Potentialität selbst inwendige Strukturen aufweisen, die wirksam werden können und deren Antizipation uns dabei hilft, zu erkennen, dass etwas entstanden ist, was vorher noch nicht da war bzw. dass etwas vergangen ist, was jetzt nicht mehr ist.
Natürlich ist für einen an klassischen philosophischen Positionen geschulten Denker wie Hartmann eine Theorie des Werdens eng mit dem Begriff einer Substanz verbunden, deren Phantomisierung und Divinisierung über die Zeit eine Derealisierung des unveränderlichen Seinsbestands zur Folge hatte (Hartmann, 1950, 275). Dieses unveränderliche Bestehen' (Hartmann, 1950, 275) der Substanz, nicht die Substanz selbst, ist für den negativen Platoniker Hartmann real. Vielmehr ist das, was wir von der Substanz kennen können, als ein Irrationales anzusehen. Irrational heißt für Hartmann aber nicht ,der Erkenntnis unzugänglich', denn jenes Irrationale, für Hartmann paradigmatisch repräsentiert durch Kants ,Ding an sich', wird als Moment oder Weise des Seins (besser des Vorhandenseins) betrachtet, insofern nach Hartmann jede Erkenntnisrelation auch immer eine Seinsrelation darstellt. Was also folglich nicht erkannt werden kann, muss doch irgendwie sein. Obwohl Hartmann die Idee eines Beharrenden, das sich in einem Prozess durchhält, grundsätzlich ablehnt, verschwindet die Idee einer Beharrung als solcher bei ihm nicht. Demnach muss bei Hartmann der ganze Prozess als Beharrendes qualifiziert werden (Hartmann, 1950, 282), woran auch deutlich werden kann, dass in einem Prozess zwar etwas entstehen und vergehen kann, dieser Prozess aber selbst unvergänglich ist: „Es wäre das Vergehen des Vergehens, wenn der Prozess selbst verginge" (Hartmann, 1950, 282).
Aus der Prämisse, dass Prozesse nicht ihr Vergehen implizieren können, schließt Hartmann, dass für jeden Prozess die Existenz eines Zugrundeliegenden, eines Substrates, angenommen werden muss. Damit kehrt Hartmann hier wieder zur Ausgangsfrage zurück und gibt darauf seine Antwort: „Es bleibt die Frage übrig, ,was' sich denn erhält. Darauf kann man nur mit einem Substrat antworten" (Hartmann, 1950, 287). Das Substrat ersetzt bei Hartmann also die Substanz und garantiert so den „Zusammenhang des sukzessiv sich Ablösenden" (Hartmann, 1950, 262). Ein Entstehen aus dem Nichtsein ist für ihn — ähnlich wie für Whitehead (vgl. nächster Abschnitt) — nicht möglich, denn: „Wenn es auch nicht aus dem Nichts kommt, so doch aus etwas, was es selbst nicht ist" (Hartmann, 1950, 261). Während Hartmann die Idee einer reinen Potentialität ablehnt, indem er sie aus dem Wirklichkeitsbereich des Seins ausschließt, wird sie und ihre vermeintliche Unbestimmtheit bei Whitehead im Prozess der Einigung beseitigt (Rust, 1989, 111). Allerdings wird Aristoteles in De Generatione et corruptione zeigen, dass reine Potentialität nicht mit einer Potentialität, die sich im Prozess der Einheitsbildung entleert (Whitehead) oder von vornherein aus dem Seinsbereich ausgeschlossen wird (Hartmann), identisch sein kann.
Was lehrt uns aber dieser Rückgriff auf Hartmanns Ontologie? Der hiesige Verweis soll vor allem verdeutlichen, dass eine Kritik am aristotelischen Substanzbegriff selbst nicht gegen anderweitige Kritik immun bleibt. Damit einhergehende Versuche,
die meinen, aus der aristotelischen Bestimmung der Substanz, wie sie aus der Kategorienschrift und der Physik bekannt ist, irgendwelche Schlüsse ziehen zu können, die das aristotelische Verständnis betreffen, müssen angesichts neuer Forschungsergebnisse einer Prüfung unterzogen werden. Dafür ist es in Bezug auf Whitehead als erstes notwendig, zu fragen, wie Werden ohne Zuhilfenahme der Substanzkategorie überhaupt gedacht werden könne.
3. WERDEN OHNE SUBSTANTIALISMUS — A. N. WHITEHEAD
Wenden wir uns nun A. N. Whiteheads Theorie des Werdens zu, müssen wir zunächst einige Unklarheiten beseitigen, die mit der Tatsache zusammenhängen, dass Whitehead viele Arten und Beschreibungen von Prozessualität kennt und diskutiert (Emmet, 2007, 77). So geht er unter anderem vom logischen Begriff der Transitivität zur organologischen Vorstellung eines Werdens als schöpferischen Fortschreitens, d.h. kreativen Wachsens bzw. Zusammenwachsens, über. Dieses Wachsen scheint nach Whitehead und in Anlehnung an Heraklit in erster Linie ein fließendes Geschehen zu sein4. Allerdings muss es sich hierbei auch um einen Übergang (passing over) handeln, da die actual entities nicht ineinander aufgehen können, sondern 'sich weiterreichen'. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Sukzession, die eine Serie konstituiert, welche sich auch in der Zeit abbilden lässt; zwar geht etwas vorüber, bleibt aber als solches nicht bestehen. Dieses Werden eines Existierenden zum nächsten Existierenden hin, das Whitehead auch als supersession bezeichnet, ist alles andere als leicht zu verstehen. In diesem Kontext benutzt er auch den Ausdruck conformation, um das ,Spüren' der Empfindungen des Vor- oder Vorübergängers, der vergangenen Entität zu beschreiben. Es handelt sich bei Whitehead also um basale Transmissions-vorgänge, die weniger als Aufgreifen des Vorhergehenden (picking ups), sondern als ,passing on' zu begreifen sind. In diesem Sinne sagt Whitehead auch: „Es gibt zwar ein Werden der Kontinuität, aber keine Kontinuität des Werdens" (Whitehead, 1985, 87). Anders als bei Hartmann liegt dem Sein des Einzelwesens „sein Werden zugrunde" (Whitehead, 1985, 66) und ist nicht wieder ein anderes Sein, welches das Werden zu einem Modus neben anderen Modi machen würde. Somit ist es nach Whitehead auch „ganz wesentlich, [...] dass der Begriff eines wirklichen Einzelwesens als das unveränderbare Subjekt der Veränderung vollständig aufgegeben wird" (Whitehead, 1985, 76). Damit beansprucht Whitehead — wie bereits erwähnt — den Begriff der Substanz durch den des Einzelwesens zu ersetzen: „Der Begriff der ,Substanz' wird in den der wirklichen
„Whitehead will in seiner Kosmologie den Prozesscharakter allen Geschehens und das fließende Werden zum Ausdruck bringen" (Rapp, 1986, 83).
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Entität' (actual entity) transformiert" (Whitehead, 1985, 58). An dieser Stelle versucht Whitehead sprichwörtlich das zu vollenden, was Bertrand Russell bereits in seinem Leibniz-Buch gefordert hatte, und zwar „die Metaphysik auf einem anderen Begriff zu fundieren als dem der Substanz" (Russell, 1975, 126). Doch, so müssen wir hier fragen, welchen Substanzbegriff möchte Whitehead hier eigentlich ersetzen?
Für Whitehead ist die Substanz bei genauerer Betrachtung wie die aristotelische prima materia zu verstehen. Sie bezeichnet
(1) eine in sich geschlossene, selbstgenügsame Einheit der Wirklichkeit, dem die Möglichkeit fehlt, interne Beziehungen zu anderen Einheiten aufzubauen;
(2) eine Entität, deren individuelle Geschichte darin besteht, akzidentelle Eigenschaften zu gewinnen oder zu verlieren, während das Subjekt dieser Eigenschaftswechsel dasselbe bleibt.
Wird diese Bestimmung der Substanz, die Whitehead Aristoteles hier in den Mund legt, der Auffassung des Stagiriten in allen Hinsichten gerecht? Es besteht zunächst durchaus Zweifel darüber, ob Whitehead die Substanzmetaphysik des Aristoteles auch derart gründlich rezipiert hat. Wohl ist nachgewiesen, dass er die aristotelischen Analysen zu Werden und Vergehen studiert habe, da diese sogar seine Wertschätzung erfahren haben. Es scheint aber nahezu unstrittig, dass sich White-head hauptsächlich auf die Ausführungen des Aristoteles zum Werden, wie sie uns insbesondere in der Physik gegeben sind, bezieht. In seinen zahlenmäßig recht überschaubaren Bezugnahmen zu Aristoteles kritisiert Whitehead vor allem dessen Substanzmodell, insofern er behauptet, Aristoteles würde seinen Begriff der Substanz rein aus der logischen Struktur von Subjekt und Prädikat ableiten (Whitehead, 1985, 78). Dieser Rekurs Whiteheads ist zwar nicht vollkommen falsch, erscheint aber vor allem nach der Lektüre von De Generatione et Corruptione zu kurz gegriffen.
Im Gegensatz zu Whitehead, der an dieser Stelle den Begriff des Superjektes als resultative Prozesseinheit einführt, sind für Aristoteles, zumindest was seine kanonischen Schriften angeht, Subjekte tatsächlich als Substanzen zu verstehen. Hierzu bemerkt der Aristotelesforscher Thomas Buchheim in seiner Einleitung zu De Generatione et Corruptione, dass das Whitehead'sche Superjekt „in der Schwebe eines noch unbesetzten Zwischenraumes inmitten einer bereits existierenden Vielfalt" (Buchheim, 2011, 84)5 beginne und auf diesem Weg Substantialität nicht gewinnen könne, denn Whiteheads Prozesseinheiten sind nicht selbststandfähig. Sie sind
Einleitung und Kommentare zu GC.
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im Rahmen ihrer Folgenatur immerzu mit der Ergänzung ihrer selbst beschäftigt' und können somit den Status eines vollendeten und selbstandfähigen Dinges nicht erreichen.
Allerdings existieren Substanzen nicht nur, weil sie Eigenschaftsträger bezeichnen, sondern — wie David Wiggins nachgewiesen hat — lassen sie es auch zu, sortale Ausdrücke zu bilden (Wiggins, 1967, 28). Sortale Ausdrücke sind solche Terme, die angeben, was bzw. von welcher Sorte ein Gegenstand ist. Beispielsweise ist ,weiß' kein sortaler Term, weil wir mit ihm keine Sorte bilden können und auch auf keinen bestimmten Gegenstand, der seinerseits eine Sorte bilden könnte und dadurch semantische Abgrenzungen ermöglicht, referieren könnten. Dagegen ist ,Pferd' ein sortaler Ausdruck, weil dieser Kriterien einschließt, die genau ein Exemplar der fraglichen Art ausmachen (vier Beine, Schweif etc.). Sortale Terme erlauben Pluralbildung, akzeptieren unbestimmte Artikel und sind für Zählbarkeit geeignet (Schnieder, 2004, 176 ff.).
Diese eingeschränkte Lesart der aristotelischen Substanzkategorie bei Whitehead, die keine Notiz von modernen Sortaltheorien nimmt, hat nun womöglich — übrigens scheint mir hier eine Parallele zu Hartmann zu bestehen — ihren Grund in der Gleichsetzung der Substanz mit dem Substrat bzw. mit dem Zugrundeliegenden, mit dessen Hilfe sich eindeutige raumzeitliche Zuordnungsverhältnisse herstellen lassen. Im Zuge dessen stellt sich für Whitehead auch der Verdacht ein, Aristoteles und seine modernen Adepten würden eine Auffassung vertreten, der zufolge sich jedes Ding genau dort befindet, wo es eindeutig lokalisiert werden kann6. Es ist in diesem Sinne gar nicht so abwegig zu behaupten, dass Whitehead hier vorzugweise auf das Substanzverständnis der cartesischen und später auch empiristischen Tradition zurückgeht und dieser Tradition auch zeitlebens verhaftet bleibt. So ist es auch nachvollziehbar, weshalb Whitehead auf der einen Seite den durch Descartes eingeführten und vermeintlich in der aristotelischen Tradition stehenden Substanzbegriff des mechanistischen Materialismus übernimmt, auf der anderen Seite diesen Begriff aber mit John Lockes Überlegungen, wonach Substanzen als Eigenschaftsbündel gedacht werden müssen, kombinieren will. Locke zufolge muss nämlich die Idee eines nicht nachweisbaren, nackten Trägers von Eigenschaften bekanntlich in die metaphysische Sackgasse münden, denn solche grundlegenden Substanzen, die „von unten Halt geben" und über Veränderung von Zeit und Raum mit sich identisch bleiben, sind empirisch unhaltbar (cf. Leclerc, 1953). Für Locke und andere Empiris-
Hier hat Whiteheads Kritik der 'simple location seinen Ort, die u.a. Anlass zur Infragestellung neuzeitlicher Raumtheorien gegeben hat. Siehe dazu: (Casey, 2013).
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ten gibt es nur Qualitäten, die unmittelbar wahrzunehmen sind oder als Ideen diese Wahrnehmungen präfigurieren. In diesem Sinne können die aristotelischen Substanzen von Whitehead auch als — modern gesprochen — bare particulars, die ihre Identität nicht aufgrund der notwendigen Beziehung zu anderen Entitäten erhalten, gekennzeichnet werden (cf. Eslick, 1958). Demzufolge sind „die Unzulänglichkeiten der Substanz-metaphysik [.] nach Whitehead darauf zurückzuführen, dass in ihr Einzelnes und Allgemeines scharf getrennt sind, dass Relationen zwischen Substanzen ein Unding darstellen [...], dass Metaphysik eigentlich nur als monistische konsistent ist und dass sie eine konsistente Wahrnehmungstheorie erzwingt" (Böhme, 1970, 549). Für Whitehead sind Entitäten also keine aristotelischen Substanzen, sondern Wahrnehmungsaggregate, die aus verschiedenen aktual aufzufassenden, sich gegenseitig nicht bedingenden Ereignisreihen zusammengesetzt sind. Diese En-titäten resultieren nicht in dauerhaften Dinge, sondern perpetuieren sich in Form von Pulsationen.
Mit dieser Strategie schafft es Whitehead auch, auf sogenannte Verbinder oder als Substanzen getarnte paraprozessuale Einheitssubjekte zu verzichten, was es im Einklang mit naturwissenschaftlichen Konzeptionen seiner Zeit stehend ermöglicht, seine Theorie nicht auf einem factum brutum zu gründen. Seine organismische Philosophie ist nämlich durch einen ständigen Wechsel von Werden und Vergehen gekennzeichnet, wobei die Art der Zielbewegung nicht klar definiert ist. Ist eine ak-tuale Entität demnach einmal vergangen, dann ist sie erst vollständig geworden, d.h. auch vollständig und bereit für den Übergang zu einer neuen Entität. Allerdings ist Whiteheads Übergangsmodell aufgrund der Gefahr einer unendlichen Weitergabe gezwungen, diese Ereignisfolge in einer übergreifenden Einheit, die er conjunctive unity nennt, wieder zu bündeln. Diese conjunctive unity ist es auch, welche ohne den klassischen Materiebegriff auszukommen versucht und vorgibt, die aristotelische Erste Substanz zu ersetzen (Whitehead, 1985, 63).
Aus diesen Überlegungen geht nun hervor, dass Whitehead seinen Substanzbegriff aus der Feststellung von der „Einheit des Subjektes als einer Folge von Akten und Zuständen, die sich selbst als ein diese Einzelereignisse übergreifendes, teleo-logisch-strukturiertes Geschehen erfährt" (Spaemann, 2010, 186), gewinnt. Dieser neue Quasi-Substanzbegriff ist trotz einiger Plausibilität mit zahlreichen neuen Problemen konfrontiert. Wie wir bereits gesehen haben, ist Whiteheads Kritik des aristotelischen Substanzbegriffes auch nur bedingt satisfaktionsfähig. Für Whitehead ist es ohne Rückgriff auf einen Substanzbegriff dagegen gar nicht möglich, das 'actual event' als distinkte Totalität zu erfassen (Spaemann, 2010, 185). Prehensionen sind zwar verbindungsstiftend, geben allerdings keine Auskunft über die Bedeutung des
Erfassten. Aber was kann und soll, so fragt sich, überhaupt anderes erfasst werden als Substanzen?
Gegen das selbständige Sein des Gewordenen, das für Whitehead bekanntlich die Materie ist, hat sich also die Kritik der Prozessphilosophie hauptsächlich zu richten. Verdienst Whiteheads ist es vor allem, dem Problem einer Verwechselung von Substanz und Substrat vorzubeugen, und zwar indem für ihn Ereignisse immer wieder durch andere Ereignisse abgelöst werden, was auch grundlegend für die konsistente Begründung einer Theorie des Werdens ist. Für Whitehead (wie übrigens auch für Aristoteles) sind „die Grundelemente der Realität alle gleicher Natur" (Basile, 2008, 446). Das hat wiederum zur Konsequenz, dass Whitehead keine Verbinder oder ,okkulten Bänder' einführen muss, die sein metaphysisches System zu kohärentisieren und ontologisch abzusichern beanspruchen. Hingegen ist es eine Schwäche von Whiteheads Prozesstheorie, dass in ihr Ereignisse — wie bereits erwähnt — nicht als voneinander unterscheidbare Ganzheiten bestimmt werden. Zwar existiert die Auffassung, Whiteheads Prozesstheorie sei eine relationale Monadologie im Leibnizschen Sinne, doch wird hierbei des Öfteren unterschlagen, dass bei ihm „jedes Ereignis ein ,Fenster' [hat], durch das Bestandteile von früheren Ereignissen in seine Anlage eintreten können." (Basile, 2008, 448)7. Whiteheads Aktualismus versagt sich damit die ontologische Fundierung, indem er nicht dazu vordringen kann, das Erfasste zu begreifen. So konstatiert Robert Spaemann, dass bei Whitehead die Idee der „vermittelten Rückkehr aus der Andersheit" (Spaemann, 2010, 186 ff.) fehle. Diese Vorstellung, die an Hegel erinnert8, macht es aber erst möglich, dass ein Subjekt sich als ein selbständiges, d.h. als ein Subjekt neben anderen, erfahren kann. Dies erklärt letztlich auch, warum es bei Whitehead prehensions und nicht comprehensions heißt. Das Superjekt ist entweder noch nicht oder es ist gerade und kann deshalb nicht soweit sein, um sich als Identität zu erleben und diese seine Identität noch zu verstehen. Spaemann folgert daraus, dass sich so etwas wie ,Seinlassen' aus diesem Denken nicht ableiten lässt, denn ,Seinlassen' kann man nur, wenn es entgegen der Annahme eines universalen Integralismus möglich ist, Kriterien auszubilden, die Personen helfen,
Hier scheint ein großer Unterschied zur aristotelischen Auffassung der Genesis in GC zu bestehen. Für Aristoteles entsteht etwas mit der Zerstörung von etwas anderem, d.h. die Ereignisse reichen sich nicht aneinander weiter, sondern es entstehen und vergehen unaufhörlich und kontinuierlich
Substanzen, ohne dass von diesen etwas Spezifisches überginge. Der Übergang vom Nichtsein zum Sein garantiert, dass nicht irgendetwas sich durchhält bzw. etwas von sich etwas weitergibt. Gewordene Substanzen sind im Gegensatz zu den pulsierenden Ereignissen aufgrund der Tatsache des Kaputtgehens deshalb auch voneinander unterscheidbar. Dagegen garantieren Pluralität und Diversität der Ereignisse noch nicht ihre Unterscheidbarkeit. Zu den Ähnlichkeiten zwischen Whitehead und Hegel siehe: (Kambartel, 1965).
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,gut' von ,böse', ,gesund' von ,krank', ,teuer' von ,billig' oder ,schön' von ,hässlich' zu unterscheiden. Diese Differenzierungen sind unabdingbar für die Erkenntnis meiner selbst und der Anderen.
4. ARISTOTELES UND DIE VORGÄNGIGKEIT DER SUBSTANTIALITÄT
Wir haben bis hierhin zu zeigen versucht, wie Whitehead u.a. aus der Kritik am aristotelischen Substanzbegriff seine Ontologie entwickeln konnte9. Mehrfach wurde betont, dass die Kritik Whiteheads in dieser Form nicht vollends berechtigt ist, zumal Aristoteles in seiner Abhandlung Über Werden und Vergehen/De generatione et corruptione einiges klarstellt. Es ist darüber hinaus ebenso fraglich, in welchem Ausmaß Whitehead mit dem Werk, das ihn zu einer Revision seiner Ansichten hätte zwingen können, vertraut war. Zwar lobt Whitehead Aristoteles für seine "masterly analysis of the notion of generation" (zitiert aus: Buchheim, 2011, 84), bleibt jedoch weitere Bezüge schuldig. Eine Nachfrage hinsichtlich der Kritik Whiteheads ist uns also nur gestattet, wenn wir die Bedeutsamkeit des Gedankens einer primären Prozessualität herausstellen, die nicht gegen das Substanzdenken als solches gerichtet ist, sondern sich in diesem vollendet bzw. ohne die es keine vernünftige Explikation dessen geben kann, was wir mit Substanz naturgemäß bezeichnen.
Gewiss ist das Thema des Werdens und seines Zwillings, des Vergehens, bislang in der philosophischen Forschung nur beiläufig thematisiert worden. Das analytische Interesse lag in der Vergangenheit und liegt womöglich auch zukünftig hauptsächlich auf den Dingen, deren Entstehungsgeschichte uns nur marginal zu interessieren scheint, da sie entweder schon immer existieren und sich nur wandeln oder bei einer Zerstörung in ihrer ontologischen Dignität einfach herabgestuft werden (aber immer noch dinghaft vorliegen) und somit die Entstehung von Neuem grundsätzlich als unplausibel erscheinen lassen.
Doch wenn wir uns mit dieser Betrachtung nicht zufrieden geben wollen und den Verdacht erhärten möchten, dass Werden und Vergehen Prozessarten sind, die als solche noch einmal die eben genannten Bestimmungen unterlaufen, dann müssen wir De generatione et corruptione intensiv studieren. In diesem Sinne ist auch die kritische Anfrage und Anregung zur Neubeschäftigung mit diesem Werk von Thomas
Ähnlich wie Whitehead trennte schon Platon Werden von Sein, wohingegen Aristoteles Werden und Sein im Substanzbegriff wieder zusammenzubringen versuchte. Allerdings geht Aristoteles dabei nicht dialektisch vor — Werden und Vergehen verhalten sich zueinander nicht dialektisch (das ist eine Gemeinsamkeit mit Whitehead), denn Dialektik ist selbstbewegend, d.h. benötigt nicht den Gedanken eines Nichtseins, der für die aristotelische Werdensanalyse zentral ist.
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Buchheim zu verstehen, dem zufolge das Phänomen eines natürlichen' Werdens immer wieder übersehen wird, wenn man sich zu schnell auf einseitige Bestimmungen einlässt. Denn schaut man einmal genauer hin, so wir man feststellen: „Wenn beim Werden nichts verginge, würde gar nichts geschehen sein; und wenn beim Vergehen von Etwas nichts entstünde, käme dies einer ,Annihilation' gleich" (Buchheim, 2011, 207). Hieraus folgt, dass Werden und Vergehen wirkliche Prozesse sind und somit auch „für den Substanzbegriff ausschlaggebend" (Gebauer, 2006, 25) sein müssen, wie Annekatrin Gebauer in ihrer Analyse von De generatione et corruptione betont. Das durch das Werden Hervorgebrachte ist damit nicht etwas, das aus etwas schon so-und-so Vorhandenem entsteht, sondern es ist selbst ein Zugrundeliegendes, und das immer wieder, in jedem Moment, wenn etwas Gestalt gewinnt. Die mythische Vorstellung einer ,Ursuppe' aus der alles entsteht, wird hier überflüssig, da jede ,Ursuppe' selbst Ergebnis eines Werdens ist, das die ,Ursuppe' zum Zugrundeliegenden ,gemacht' hat.
Hier erreichen wir sogleich einen neuralgischen Punkt in der Analyse des Aristoteles zu Werden und Vergehen: Wenn Aristoteles nämlich behauptet, dass Werden und Vergehen Prozesse schlechthin sind, dann müssen sie auch die Möglichkeit eines absoluten Nichtseins erlauben. Welche Auswirkungen das auf eine Schöpfungstheologie, vor allem für die Anhänger einer Schöpfungstheologie a la Whitehead, brauche ich hier nicht zu erörtern. Was ist aber dieses Nichts, welches weder Träger eines Prozesses noch Moment einer Bewegung, noch Substrat einer Verwandlung sein kann? Dieses Nichtsein selbst ist nur dann denkbar, wenn es im Zusammenwirken von Werden und Vergehen seinen Ort hat. Diesen ,Ort', der nicht mit dem platonischen chorismus zu verwechseln ist, beschreibt Aristoteles wie folgt: „Das Werden ist ein Vergehen des Nichtseienden, das Vergehen aber ein Werden des Nichtseienden" (GC 319a26) (Aristoteles, 2011, 31).
In der vorliegenden naturphilosophischen Abhandlung zu den Phänomenen von Werden und Vergehen geht es nicht um die Analyse von Beschaffenheiten, auch nicht um die Beschreibung von Aufbaugesetzen einer so-und-so verfassten Materie, sondern um den herausfordernden Versuch einer komplexen Darstellung, wie und wodurch und wohin etwas, das noch nicht es selbst ist, wird. Es geht also um die „Frage nach dem tatsächlichen Stattfinden des Werdevorgangs einer Substanz als solchen" (Buchheim, 2011, 132) und nicht um die ergebnisorientierte Analyse der dinghaft vorliegenden Produkte von bestimmten Werdevorgängen, die wir pflegen, ,Substan-zen' zu nennen. Thomas Buchheim betont in seiner Einleitung deshalb, dass „Werden und Vergehen [...] Wege oder Passagen zur Substanz bzw. von ihr weg [sind]" (Buchheim, 2011, 88, herv. M. H.). Diese Wege bzw. Passagen sind damit keine eigentlichen Gegenstände wissenschaftlicher Forschung, wenngleich wir deren Wirklichkeit nicht
bestreiten müssen. Dies zeigt sich nicht zuletzt anhand unseres beredten Schweigens hinsichtlich der Erklärbarkeit der Herkunft der ersten Bewegungskräfte, aus der wir unser bekanntes Wissen von den ,späteren' Dingen schöpfen bzw. ableiten.
In De Generatione et corruptione können schließlich zwei Korrekturen hinsichtlich gängiger Auffassungen gemacht werden, die auch die Kritik von Whitehead eindeutig tangieren. Eine Korrektur betrifft die revidierte Bestimmung der prima materia, eine andere die vermeintliche ,Inhaltsleere' der Potentialität. In Bezug auf die erste Substanz lässt sich nach intensiver Lektüre konstatieren, dass Aristoteles diese etwas modifiziert hat, und zwar indem er die Beschaffenheit des hypokeimenon nicht mehr als vorgeordnete stoffliche Urmaterie, von der die Materialität der vier Grundelemente Wasser, Feuer, Luft, Erde, abgeleitet wird, definiert. Vielmehr gibt es variable Dreh- und Angelpunkte, an denen sich die jeweiligen Wirkeigenschaften der Grundelemente verkoppeln, entkoppeln und rekombinieren und damit Stofflichkeit als solche konstituieren. Sicherlich kann man an dieser Stelle annehmen, dass selbst für diese Bestimmung eine von allen Eigenschaften der Körper entleerte und aufnahmefähige Grundlage, eine prima materia, notwendig sein müsse. Allerdings schreibt Aristoteles, dass eine solche gemeinsame, stoffliche Grundlage der Elemente für ihn nicht unbedingt mit der prima materia identisch sei. Die Materie der Grundkörper, so seine Worte, hält er lediglich für „ein Prinzip, d.h. für primär" (Buchheim, 2011, 137; vgl. GC 329a29 ff.; Aristoteles, 2011, 57). ,Primär', so Buchheim im Kommentar, bedeutet aber nicht primär gegenüber den Grundelementen. Eine solche Vorordnung hatte Aristoteles nicht im Sinne bzw. dieser Gedanke ist bei ihm nicht belegt. Dagegen scheint es eher, als ob die vier Grundelemente umgekehrt der gemeinsamen Materie vorgeordnet wären. Die Elemente selbst bilden also das Substrat: „Die gemeinsame materielle Grundlage der vier Elemente ist also ein zwar eigentümliches, aber dennoch unselbständiges Prinzip der Erhaltung von Kraft in der Veränderung und kann daher in keinem möglichen Sinn des Wortes eine ,primäre' Materie heißen" (Buchheim, 2011, 137). Der damit fälschlicherweise als leer angenommene Inhalt der zugrundeliegenden Materie wäre demzufolge in der gemeinsamen Stammbeschaffenheit der Grundkörper zu suchen (Buchheim, 2011, 138 ff.). Eine solche Stammbeschaffenheit ist nach Aristoteles beispielsweise die 'Wucht' der Materie. Diese gemeinsame Materie ist aber — das ist hier entscheidend und immer wieder zu betonen — nicht mit der prima materia selbst gleichzusetzen. Vielmehr deute die gemeinsame Stammbeschaffenheit auf eine gemeinsame 'Verwurzelung' der verschiedenen Qualitäten hin, deren Zugehörigkeit nicht über die schematisierende Vergleichbarkeit von Dingen gewährleistet werden könne, sondern über präzisionsindifferente Ähnlichkeits- und Verwandtschaftsrelationen zu explizieren sei.
Aristoteles zeigt in dieser bemerkenswerten Studie, so können wir vorerst festhalten, wie „das Werden von etwas ausgehend von dessen völligem Nichtsein, als auch das schlechthin substantielle und selbstständige Sein des Gewordenen" (Buchheim, 2011, 90) verbunden werden kann. Ferner gelingt es ihm, „Genealogie und empirische Tatsächlichkeit des Werdens und Vergehens" (Buchheim, 2011, 88) in eine Theorie zu fassen. Dabei stellt er nicht dar, wie etwas an einer Substanz entsteht und vergeht, sondern wie Substanzen selbst entstehen und vergehen. Am nächsten komme der Substanz schließlich „das immerfort Werden und die Entstehung" (GC 336b20) (Aristoteles, 2011, 75); ein Geschehenszusammenhang, der das Sein der Substanz nicht ersetzen soll, sondern es reichhaltiger machen will.
5. FAZIT
Das Werk De generatione et corruptione (Über Werden und Vergehen), um das es uns in diesem Aufsatz hauptsächlich gegangen ist, wirft geradewegs ein neues Licht auf die positivistische Metaphysik Hartmanns und die Kritik Whiteheads an der aristotelischen Substanzontologie. Kritisiert Whitehead an Aristoteles vor allem den Selbstandcharakter der Substanz, so ist für Hartmann dieser Selbststandcharakter genuiner Ausdruck für die eigentliche Substantialität allen Werdens. Allerdings steht Aristoteles in seiner Schrift De generatione et corruptione Whitehead letztlich näher als Hartmann, da sich der Selbststandcharakter der Substanz bei Whitehead erst als nachträgliches Moment eines Prozesses ergeben muss und nicht, wie von Hartmann behauptet, als Prozess immer schon eine selbständige Substanz ist.
So wird in De generatione et corruptione paradigmatisch vorgeführt, dass durch das Werden und Vergehen der Substanz noch nicht gleich der Selbststand einer En-tität aufgehoben wird, da Selbstständigkeit und deren Erkennbarkeit vielmehr mit einer spezifischen Distinktionsfähigkeit in Bezug auf das Verhältnis des Aufnehmenden zum Aufgenommenen einhergeht, kraft deren Ereignisse des Werdens und Vergehens der Substanz überhaupt erst konstatiert werden können. Die Substanz ist demnach auch als Gewordenes und im Verlaufe ihrer Zustandsänderungen weiterhin selbststandfähig, wie das durch die Nahrungsaufnahme wachsende Fleisch beweist (cf. GC 322a8) (cf. Aristoteles, 2011, 33). Indem die Substanz ferner selbst wird und vergeht, muss nicht der Beweis für die Tatsache erbracht werden, dass Ereignisse nicht mit Zuständen konfundiert werden dürfen. Weil die Substanz als solche wird (und vergeht) bzw. als ein durch Werden und Vergehen Entstehendes erscheint, ist der Prozess des Werdens und Vergehens derart eng verbunden mit der Substanz, dass zur Bestimmung von Substantialität die dem Einzelding inhärente vektorielle Grundaus-
richtung, welche nicht aus der rekursiven Betrachtung von Folgeaktivitäten gewonnen werden kann, genügt. Jeder Prozess läuft nach Aristoteles damit notwendig auf ein selbstständiges Seiendes hinaus, „das nicht länger [wie bei Whitehead] als ein bloß weiteres Stadium des andauernden Wandels zu begreifen ist" (Buchheim, 2011, 90). Das heißt: Noch bevor es sich als Einheit von Akten und Ereignissen erfahren kann, ist das Subjekt bereits geworden. Die Selbsterfahrung des eigenen Gewordenseins geschieht aber nicht im Erleben seiner selbst als Akteinheit, sondern in dem bewussten Gründen seiner selbst in einer natürlichen Bewegung auf ein Ziel, auf welches Subjekte, die werden und vergehen, ausgerichtet sind. Was bleibt also übrig, wenn das, was wird, zugleich vergeht, aber dabei nicht nichts ist10? Man könnte hier sagen: eine absolute Richtung (Buchheim, 2011, 92).
Vor dem Hintergrund des Gesagten bleibt eine Antwort auf die Frage, inwieweit sich auch eine Gotteslehre von diesen Überlegungen beeindrucken lassen kann, weiterhin strittig. Die aristotelische Idee eines unbewegten Bewegers, die Whitehead ausdrücklich in Frage stellt, kann indes nicht mehr allein aus substanzontologischen Überlegungen, die nach dem Subjekt-Prädikat-Schema vorgehen, begründet werden. Allerdings ist eine philosophische Theorie der creatio ex nihilo, wie sie in GC entwickelt wird, ebenfalls hochproblematisch und äußerst spekulativ. Aus naturphilosophischer Sicht möchte dieser Ansatz auch gar nicht fragen, was vor der Schöpfung war, sondern nur verdeutlichen, dass Sein in erster Linie vektoriell ist und sich unbedingt in selbstständigen Geschöpfen verwirklicht. Hieran kann dann vielleicht auch deutlich werden, dass Menschen zwar Dinge oder Geschöpfe herstellen können (z.B. Chimären), aber den eigentlichen Entstehungsvorgang, auf den sie sich während ihrer Initiativen blindlings verlassen weder empirisch festzustellen noch künstlich zu erzeugen vermögen11. Dahinter steckt auch eine tiefere moralische Botschaft: Sollten
10 Ein praktisches Beispiel zur Verdeutlichung, was Werden und Vergehen hier meint, könnte das Phänomen der Hoffnung sein: Erwartungen entstehen, wenn Enttäuschungen ,kaputtgehen' bzw. vergessen werden; Enttäuschungen entstehen, wenn Erwartungen ,kaputtgehen', d.h. wir erwarten nur, indem wir enttäuscht werden können, wir werden nur enttäuscht, weil wir erwartungsfroh sind. Doch die Richtung gibt uns die Hoffnung, die weder mit der Erwartung gleichgesetzt werden kann noch von Enttäuschungen betroffen sein darf, aber der Erwartung und der Enttäuschung die absolute Richtung gibt.
11 Allerdings ist es noch ein langer Weg bis hin zu einer erneuerten Substanzmetaphysik, die folgendem Anspruch gerecht werden kann: „Wenn man gleichzeitig vertreten will, dass im Laufe der Zeit auftretende Dinge selbständige Entitäten (nicht nur Aggregatzustände eines zugrundeliegenden Stroms der Wirklichkeit), aber dennoch nicht ewige, d.h. von Werden und Vergehen unbetroffene Wesen sind, die sich nur hier und jetzt einmal zeigen, dann muss man versuchen Selbständigkeit oder Substanzstatus mit Entstehung aus anderem irgendwie zusammen zu denken." (aus einem Email-Gespräch mit Thomas Buchheim).
wir nicht eher den Status von Prozessen, die zu Dingen führen, beobachten, als uns ausschließlich mit irgendwelchen Produkten zu begnügen, die wir — unabhängig von ihrer Entstehungsgeschichte — als gut oder schlecht bewerten?
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