HORIZON 8 (1) 2019 : I. Research : B. Boros : 87-102
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
https://doi.org/10.21638/2226-5260-2019-8-1-87-102
ALTE UND NEUE KOPERNIKANISCHE GEGENWENDE BIANKA BOROS
PhD in Philosophy.
Academy of Sciences of Hungary, MTA-PTE Critical Studies Research Group.
1051 Budapest, Hungary.
University of Pecs.
7624 Pecs, Hungary.
E-mail: frauboros@gmail.com
OLD AND NEW COPERNICAN COUNTER-REVOLUTION
This paper deals with Nicolai Hartmann's realism in light of its contemporary critics and recent concepts of realism. The main topic of the article is the so-called Copernican counter-revolution, which is the decisive factor both in Hartmann's ontology and in the recent realist projects. In Hartmann's text the Copernican counter-revolution means the rehabilitation of ontology, which is realized through the critique of the one-sided epistemological interest of logical idealism. We enter on the same path following the program of new realism, which arises against constructivism. While Maurizio Ferraris emphasizes the distinction between epistemological and ontological perspective and wants to identify those application fields, the point of Graham Harman's object-oriented ontology is the coequality of beings. He achieves an anti-Copernican perspective, which means that the human-world relation loses its priority. He also invents a litmus test of realist theories: A true realism should treat all relations between beings equally. Initially I'm examining Hartmann's realism, also called realism 'without ism,' in its contemporary context, followed by the analysis of the acts that can provide the givenness of reality. These examinations will highlight the similarities between Ferraris' and Hartmann's realism, especially the ontologically motivated conception of the act of cognition, correspondingly the concept of resistance. In the subsequent analysis of experience of resistance, Max Scheler's concept is highly relevant. Scheler's ideas are based on the critique of Wilhelm Dithey's and Martin Heidegger's definition of resistance. The last chapter submits Hartmann's realism to Harman's litmus test, whereby Hartmann's realism proves itself to be a sustainable, modern theory.
Key words: Copernican counter-revolution, realism, litmus test, resistance of reality, ontology, Hartmann, Harman, Ferraris.
© BIANKA BOROS, 2019
СТАРАЯ И НОВАЯ КОПЕРНИКАНСКАЯ КОНТРРЕВОЛЮЦИЯ
БЬЯНКАБОРОС
Доктор философии.
Академия наук Венгрии, MTA-PTE Исследовательская группа.
1051 Будапешт, Венгрия.
Печский университет.
7624 Печ, Венгрия.
E-mail: frauboros@gmail.com
В данной статье рассматривается реализм Николая Гартмана в свете современной ему критики и новых концепций реализма. В центре внимания — так называемая коперниканская контрреволюция, которая стала определяющим как для онтологии Гартмана, так и для современного направления нового реализма. Контркоперниканский поворот означает для Гартмана реабилитацию онтологии посредством критики односторонне эпистемологического интереса, присущего логическому идеализму. Мы встаём на тот же путь, если будем следовать программе нового реализма, выступающего против конструктивизма. Если Маурицио Феррарис подчёркивает различие между эпистемологическим и онтологическим созерцанием и пытается идентифицировать области их применения, то в случае с объект ориентированной онтологией Грэхема Хармана речь идёт о тезисе равного по рангу сущего. Он нацелен на анти-коперниканскую установку, в которой отношение «человек-мир» утачивает свой приоритет. Харман вводит лакмусовый тест для реализма, согласно которому подлинный реализм считает равноправными все существующие между сущими отношения. Сначала я исследую реализм Гартмана без «изма», в современном ему контексте, затем я приступаю к анализу актов, придающих данность реальности. Благодаря этим исследованиям подчёркиваются сходства между реализмом Гартмана и Феррариса, с особенным акцентом на онтологически мотивированном постижении актов познания, соответственно, понятии сопротивления. В следующих за этим анализах переживаний сопротивления особую важность имеет также концепция Макса Шелера, которая основывается на критике понятия сопротивления у Вильгельма Дильтея и Мартина Хайдеггера. В последней части лакмусовому тесту Хармана подвергается реализм Гартмана, благодаря которому доказывается, что последний может быть понят как добротная современная теория.
Ключевые слова: Коперниканская контрреволюция, реализм, лакмусовый тест, сопротивление реальности, онтология, Гартманн, Харман, Феррарис.
ZUR EINLEITUNG
Der Anspruch auf den Vorrang der Ontologie geht bei Nicolai Hartmann aus seinem Zweifel an den Grundansätzen des logischen Idealismus hervor und seine ko-pernikanische Gegenwende wird durch die Kritik dessen einseitig epistemologischen Interessen ausgeführt. Unter der Flagge des neuen Realismus beanspruchen Graham Harman und Maurizio Ferraris eine ähnlich verstandene anti-kopernikanische Wende, wodurch sie gegen den Konstruktivismus auftreten wollen. Die realistische Hauptthese (von Hartmann und Ferraris) besagt, dass ausschließlich die ontologis-
che Anschauung die richtige Fassung des Erkenntnisverhältnisses liefert, wobei das Erkenntnisverhältnis, aufgrund seiner Einbettung im Lebenszusammenhang, als ein Seinsverhältnis aufgefasst wird. Harman betont ebenso, dass die kopernikanische Wende nur so umgekehrt werden kann, wenn die Objekt-Objekt-Relationen mit den Subjekt-Objekt-Relationen auf dieselbe Grundlage gestellt werden (Harman, 2015, 59-60; Harman, 2005, 15).
Im ersten Teil wird Hartmanns, Schelers und Heideggers jenseitige (jenseits von Realismus und Idealismus liegende) Position und ihren Anspruch auf eine Rechtfertigung der Realität untersucht. In diesem Rahmen erweist sich Hartmanns Realismus als .Realismus ohne Ismus.' Der zweite Teil gliedert sich in zwei Abschnitte. Im Fokus steht die Realitätsgegebenheit in der Erkenntnis und in den weiteren transzendenten Akten, mit besonderer Hinsicht auf den Begriff des Widerstandserlebnisses. Durch die Analyse des Erkenntnisaktes im ersten Abschnitt treten die Gemeinsamkeiten zwischen Hartmanns und Ferraris' Konzeption besonders deutlich zutage. Im zweiten Abschnitt konzentriere ich auf Hartmanns Phänomenanalyse der primären (emotional) transzendenten Akte, in denen eine unmittelbare Realitätsgegebenheit liegt und auf denen sich der Erkenntnisakt als sekundärer Akt gründet. Der Begriff des Widerstandes spielt neben Hartmann auch bei Ferraris eine wichtige Rolle, bei dessen Analyse werden sich auch Schelers, Diltheys und Heideggers Überlegungen als hilfsreich erweisen. Im letzten Teil wird Hartmanns Realismuskonzeption im Lichte Harmans behandelt. Neben dem Vergleich der Heideggerkritik beider Autoren wird Schelers, Heideggers und Hartmanns Realismuskonzeption einem Lackmustest der Realismen unterworfen, den Harman erstellt hat.
1. VARIATIONEN AUF JENSEITSSTELLUNG UND BEWEISBARKEIT DER REALITÄT
Die klassischen Extreme versuchen sowohl Scheler als auch Hartmann zu überwinden und das gilt auch für Heidegger. Scheler erstrebt eine Position zwischen Bewusstseinsidealismus und kritischer Realismus, indem er die These der Untrennbarkeit des Daseins (Realität) und Soseins aufgibt. Wird angenommen, dass das Dasein eines Gegenstandes wesensnotwendig transzendent ist (d.h. nicht zum Bewusstseinsinhalt werden kann), muss dieses auch für sein Sosein gelten. Demzufolge kann das Sosein nur durch ein hindeutendes Bild oder Symbol im Bewusstsein vertreten werden — so der kritische Realismus. Bestreitet man dagegen diese Abbildtheorie, hält aber zugleich an der Untrennbarkeit beider Seinsmomente fest, muss man zum bewusstseinsidealistischen Schluss kommen: Es gibt kein bewusstseinstransze-
ndentes Dasein. Nach Schelers Standpunkt kann das Sosein eines Gegenstandes dem Bewusstsein prinzipiell selber immanent sein, sein Dasein bleibt aber wesensnotwendig transzendent (Scheler, 1927, 185, 186) und kann bloß .gegeben sein. Die Frage ist, ob man so eine Trennung der Seinsweisen tatsächlich durchziehen kann, da die beiden nie isoliert voneinander auftreten.
Laut Hartmanns Konzeption sind Dasein und Sosein eines Seienden nicht nur untrennbar miteinander verbunden, sondern verfügen sogar über eine fortlaufend verschobene Identität (Hartmann, 1965b, 122).
...alles Sosein von etwas ,ist' selbst auch Dasein von etwas, und alles Dasein von etwas ,ist' auch Sosein von etwas. Nur ist das Etwas hierbei nicht ein und dasselbe. Das Dasein des Baumes an seiner Stelle ,ist' selbst ein Sosein des Waldes, der Wald wäre anders ohne ihn; das Dasein des Astes am Baum ,ist' ein Sosein des Baumes; das Dasein des Blattes am Aste ,ist' ein Sosein des Astes; das Dasein der Rippe im Blatt ,ist' ein Sosein des Blattes. (Hartmann, 1965b, 122)
Er kritisiert Schelers Standpunkt (Hartmann, 1965b, 89), indem er die Unterscheidung von Seinsmomenten (Dasein und Sosein), Seinsweisen (Realität und Idealität), bzw. ihre Relation zu den Erkenntnisstämmen hervorhebt. Realität wird durch Zeitlichkeit, Veränderlichkeit und Individualität, Idealität dagegen durch Zeitlosig-keit, Unveränderlichkeit und Allgemeinheit ausgezeichnet. Dem Sosein kommt eine bestimmte Neutralität bezüglich der Seinsweise hinzu, da an Sosein eines Gegenstandes noch nicht einzusehen ist, ob ideales oder reales Dasein diesem zukommt. Angesichts der Seinsweise wird das Dasein entscheidend. Ideales Dasein und Sosein sind nur a priori, reales Sosein sowohl a priori als auch a posteriori, reales Dasein aber nur a posteriori erkennbar.
In seiner Ontologie beabsichtigt Hartmann eine Position Diesseits von Idealismus und Realismus auszuarbeiten und vertritt eine dementsprechend neutrale Auffassung der Phänomene. Eine Entscheidung zwischen der Realismus-Idealismus-Alternative wird erst bei der Interpretation des Immanenzphänomens fällig, von dem er sagt: „[W]enn dieses Phänomen sich nicht im Schein auflöst, wenn also der subjektive Idealismus Recht behält, so ist alle weitere Bemühung im ontologischen Felde gegenstandslos." (Hartmann, 1965b, 77).
Er versteht seinen Standpunkt als Realismus ohne Ismus. Den Hintergrund dieser Bezeichnung bilden die Unterscheidung zwischen Systemdenken und Problem-denken1, sowie die Distanzierung der drei Stufen philosophischer Forschung. Weder auf der Stufe der Phänomenologie noch auf der der Aporetik ist eine Theoriebildung
1 Sytemkonstruierendes bzw. problemzentrisches Vorgehen.
vollzogen; selbst auf der Ebene der Theorie sehen wir nur die bloße Tendenz, aber nicht die Vorwegnahme des Systems. In seiner Realismuskonzeption nimmt er die erste Grundthese (Realitätsthese) des natürlichen (naiven) Realismus ohne Weiteres auf, laut dem die Gegenstände unabhängig von ihrem Erkanntwerden existieren, verwirft aber die zweite, die Adäquatheitsthese, und setzt bloß ein partielles Deckungsverhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand voraus (Hartmann, 1965a, 188). Hartmann findet einen Beweis des natürlichen Realitätsbewusstseins — insoweit es zu den Phänomenen gehört — unnötig.
Als Heidegger die Idealismus-Realismus-Alternative zu überwinden versucht, hebt er die Kerngedanken beider Standpunkte hervor und nimmt sie in seine Exi-stenzialontologie auf. Die existenzial-ontologische Aussage, laut der: „[m]it dem Dasein als In-der-Welt-sein ist innerweltliches Seiendes je schon erschlossen" (Heidegger, 1967, 207), stimmt mit der realistischen These überein, welche besagt, dass die Außenwelt real vorhanden ist. Die idealistische These, „daß Sein nie durch Seiendes erklärbar, sondern für jedes Seiende je schon das Transzendentale' ist" (Heidegger, 1967, 207), nimmt eine zentrale Stellung in Heideggers Existenzialontologie ein.
In Heideggers Kritik realistischer Standpunkte rückt sich auch eine andere Fragestellung ins Zentrum, die die Beweisbedürftigkeit bzw. Beweisbarkeit der Realität der Welt betrifft. Im Sinne von Heidegger ist so ein Beweis nicht nur nicht möglich, sondern schon dessen Anspruch ist vollkommen verfehlt. Für ein Dasein, das nach seiner Grundstruktur In-der-Welt-Seiend ist, ist die Welt (mindestens im Sinne des Zuhandenen) immer schon erschlossen. So eine Frage zu stellen, ob es eine Welt gibt und ob deren Existenz beweisbar ist, wäre für das Dasein vollkommen sinnlos (Heidegger, 1967, § 45). Die Frage nach dem Vorhandensein und der Beweisbarkeit der Außenwelt wäre nur aus der verfehlten Perspektive eines isolierten — weltlosen — Subjekts zu stellen. Heidegger meint sogar, dass diese Perspektive auch die Positionen teilen, welche an der Realität der Außenwelt glauben oder diese voraussetzen.
Die Frage der Beweisbarkeit der Realität wird von Hartmann auch verneint. In seinem Frühwerk Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (Hartmann, 1965a [Erstausgabe, 1921]) schreibt er noch die Beweislast den Skeptikern zu, da sie unsere in der natürlichen Weltansicht wurzelnde praktische Überzeugung bezweifeln und uns die Erklärung des Scheins der Realität schulden. In seinem Vortrag an der Realismus-Tagung der Kant-Gesellschaft im Jahre 1931 führt er aber bereits positive Argumente vor (Hartmann, 1931). Durch die Analyse der primären transzendenten Akte (der emotional-transzendenten Akte) erschließt sich die ursprüngliche Verbundenheit von Subjekt und Welt, und damit die Struktur ihrer Verbindung und die in ihnen liegende Realitätsgegebenheit.
Moritz Geiger macht Hartmann den Vorwurf, nicht bei der Widerlegungsmethode geblieben zu sein, da seiner Meinung nach in diesem Fall jede Nachweismethode notwendigerweise scheitern muss2. Hartmanns Antwort lautet wie folgt: „Man muß auch schon die Gründe der eigenen Position aufdecken, und zwar die positiven, die in aufweisbaren Phänomenen liegen. Bloße Widerlegungsmethoden', sie mögen so exakt sein wie sie wollen, überzeugen niemanden. Nur das Positive hat Kraft einzuleuchten." (Hartmann, 1931, 85). Dies bedeutet natürlich noch nicht, dass Hartmann den Beweis des Daseins der realen Welt sich vornehmen würde. Vielmehr ist es sein Anliegen, die Gründe seiner eigenen realistischen Stellungnahme verständlich zu machen und eine Analyse der Phänomene anzubieten, welche einen Realitätshinweis beinhalten.
2. HINWEISE AUF REALITÄT a) Realitätsgegebenheit in Erkenntnisakt
Dafür, wie ein bestimmter realistischer Standpunkt überhaupt verstanden werden kann und soll, ist natürlich die jeweilige Gegenposition ausschlaggebend. In Hartmanns früheren Schriften lässt sich die Entstehung seiner eigenen Position anhand der Kritik des Erkenntnisbegriffs bzw. der Ontologiefeindlichkeit des logischen Idealismus verfolgen (Hartmann, 1958a; Hartmann, 1958b). Maurizio Ferraris hebt den Konstruktivismus3 (Ferraris, 2014a, 41) als den Grundgedanken antirealistischer Strömungen hervor. Er identifiziert zwei Grundthesen dieser auf Descartes und Kant zurückgehenden Position (Ferraris, 2014c, 55)4, welche von Hartmann ebenfalls hervorgehoben wurden. Erstens erwähnt Ferraris die Behauptung, dass „wir eine direkte Beziehung zu unserem Cogito und eine vermittelte zur Welt haben" (Ferraris, 2014c, 56). Diesen Gedanken nennt von Hartmann Satz des Bewusstseins; laut dessen uns nur unsere eigene Vorstellungen (unmittelbar) gegeben sind. Da das Bewusstsein nur seine Vorstellungen kennt, kann es anhand dieser von denen nicht einsehen, ob ihnen etwas Reales entspricht oder nicht.
Die zweite Grundthese bei Ferraris ist, dass die Vermittlung „durch das Denken und die Sinne dazu führt, dass die gesamte Wirklichkeit sich irgendwie als geistabhängig offenbart" (Ferraris, 2014c, 56). Diese These bezeichnet Hartmann als korrelativistisches Vorurteil, laut dessen alles Seiende nichts Weiteres als Objekt des Sub-
2 Siehe Geigers Kommentar bei der Diskussionsrunde (Hartmann, 1931, 35-38).
3 In diesem Sinne ist das Objekt ein Ergebnis der Konstruktion des Subjekts.
4
Von Ferraris ,Deskant genannt'.
jekts ist. Die Idee im Allgemeinen, dass das Subjekt der zentrale Bezugspunkt der Erkenntnisrelation ist, hält Hartmann bloß für ein idealistisches Vorurteil, aus dem eine paradoxe, dem eigentlichen Erkenntnisproblem entgehende Erkenntnistheorie hervorgeht. Der Gedanke, dass es kein Erkenntnisobjekt ohne Erkenntnissubjekt gibt, negiert gerade den Sinn des Erkenntnisverhältnisses.
Beide Thesen beruhen laut Hartmann auf einer falschen Analyse der Erkenntnisrelation. Eine richtige Analyse basiert hingegen nach Hartmanns Dafürhalten auf der Distinktion zwischen intentio obliqua (reflektierte Einstellung) und intentio recta (natürliche, ontologische Einstellung). Von der reflektierten Einstellung ausgehend erreicht man nur den Gegenstand, nicht aber das Seiende. Die richtige Fassung des Erkenntnisverhältnisses — als des Verhältnisses zwischen zwei Seienden — ist nur auf ontologischer Grundlage, aus der natürlichen Einstellung möglich.
Ferraris unternimmt eine analoge begriffliche Klärung zwischen Ontologie und Epistemologie, indem er eine Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Wirklichkeit einführt: die epistemologische Wirklichkeit (Realität) und die ontologische Wirklichkeit (Wirklichkeit, Außenwelt). Letztere bezieht sich darauf, was es gibt, unabhängig davon, ob wir es kennen. Erstere versteht Wirklichkeit damit verbunden, „was wir hinsichtlich dessen, was es gibt, zu wissen glauben" (Ferraris, 2014c, 60; vgl. noch Ferraris, 2014a, 41).
Erkenntnis definiert Hartmann — im Gegensatz zu Erzeugen — als das Erfassen von etwas und betont damit den Realitätsanspruch der Erkenntnis. Er behauptet, dass in Denken und Sein etwas identisch sein muss, damit überhaupt Erkenntnis entstehen kann, Denken und Sein müssen sich aber zugleich voneinander unterscheiden, weil die Erkenntnis etwas dem Bewusstsein transzendentes erfasst. Wären wir uns sicher, dass das, was sich zeigt, identisch ist mit dem, was ist, wäre eine Ontologie unnötig. Das Wesen der transzendenten Akte — wie der Erkenntnis — liegt darin, dass sie sich auf etwas Ansichseiendes richten, d.h., ihren Gegenstand als etwas Unabhängiges setzen.
Nur als transzendenter aber kann Erkenntnis dem Bewusstsein das Dasein des Seienden ,geben'. Wäre das Bewusstsein keiner transzendenten Akte mächtig, es könnte vom Sein der Welt, in der es lebt, nichts wissen. Es wäre in seiner Immanenz gefangen und könnte um nichts als seine eigenen Produkte, seine Gedanken oder Vorstallungen wissen. (Hartmann, 1965b, 147)
Das Erkenntnisverhältnis kann sich auf alles, und daher ebenso auf sich selbst beziehen. Die Gegenstände kommen aber ausschließlich als ansichseiende, vom Erkennen unabhängig bestehende Gegenstände infrage. Das Wesen des Erkenntnisaktes
liegt darin, dass für ihn die Gegenstände vorgegeben und nicht — wie es der Idealismus behauptet — aufgegeben sind (Boros, 2015, 23-29).
Durch die Analyse des Erkenntnisphänomens, insbesondere an der Grenze der Erkenntnis (Hartmann, 1965a, 70-74, 444-471), zeigt sich die Realität des Erkenntnisgegenstandes. Die Phänomene des Problembewusstseins („vorgreifendes Wissen um das Transobjektive" (Hartmann, 1965a, 457)) und des Erkenntnisprogresses („Verschiebung der Objektionsgrenze am Gegenstande" (Hartmann, 1965a, 457)) — also die Forschung überhaupt — werden nur dadurch möglich gemacht, dass der Gegenstand vor der Erkenntnis und unabhängig davon besteht. Während der logische Idealismus die Erkenntnis als einen logischen Prozess versteht, indem der Gegenstand (der gleichgesetzt ist mit dem Begriff des Gegenstandes) nach und nach entsteht.
Dieses Motiv der Unabhängigkeit nimmt auch in Ferraris' Realismusdefinition eine zentrale Stelle ein. „Realismus ist die Ansicht, dass die natürlichen Gegenstände unabhängig von den Mitteln existieren, die wir haben, um sie zu erkennen: Sie sind existent oder inexistent, kraft einer Wirklichkeit, die unabhängig von uns existiert." (Ferraris, 2014c, 61). Die von Ferraris unter dem Stichwort ,Unveränderlichkeit' zusammengefassten empirischen Umstände weisen eine Spaltung zwischen dem ,Ich denke' und den bestimmten Klassen von Vorstellungen auf. Die Argumente, die sich aus der Präexistenz der Welt von jedem Cogito (Präexistenz), aus der Tatsache, dass die Wirklichkeit sich unseren Begriffsschemata verweigern kann (Widerständigkeit), bzw. aus der Möglichkeit der Interaktion zwischen Wesen mit unterschiedlichen Begriffsschemata (Interaktion) ableiten lassen, sprechen alle für die Überlegenheit der Ontologie über die Epistemologie und zugleich für die ontologische Autonomie der Welt gegenüber den begrifflichen Schemata (Ferraris, 2014c, 61-64; Ferraris, 2014a, 46). Im Begriff des Widerstandes drückt sich die Unabhängigkeit, die Indifferenz des Seienden gegenüber seinem Erkanntwerden aus. Im Sinne Ferraris' gehört der Widerstand zum fundamentalen Charakter des Seienden.
An einem gewissen Punkt gibt es etwas, das uns Widerstand leistet. Es ist das, was ich ,Unberichtigbar-Sein' (inemendabilita) nenne, das wesentliche Merkmal des Realen. Was gewiss eine Beschränkung sein kann, was uns aber zugleich jenen Anhaltspunkt liefert, der erlaubt, zwischen Traum und Realität und zwischen Wissenschaft und Magie zu unterscheiden. (Ferraris, 2014b, 81)
Am Ende ihrer Ausführungen gelangen beide Autoren zu denselben Grundzügen der Realität. Ferraris bezeichnet Gegenstände als „robust, unabhängig, stur" (Ferraris, 2014c, 65), Hartmann verwendet den Ausdruck „die Härte des Realen" (Hartmann, 1931, 23).
Dort wo sich Hartmann mit dem Vorwurf des Passivismus zu konfrontieren hat, geht Ferraris dem Problem voraus. Dadurch, dass er den Begriff der „Aufforderung der Welt" (Ferraris, 2014c, 64) einführt, wird neben der Widerständigkeit auch die zweite Seite der Medaille, die „höchste ontologische Positivität" (Ferraris, 2014c, 65) hervorgehoben.
In seiner Widerständigkeit ist das Wirkliche das negative Extrem des Wissens, weil es das Unerklärliche und Unkorrigierbare ist, aber es ist auch das positive Extrem des Seins, weil es das ist, was sich gibt, das besteht, das der Interpretation widersteht und sie zugleich wahr macht, indem es sie von einer Imagination oder wishful thinking unterscheidet. (Ferraris, 2014c, 62)
Steffen Kluck teilt den Passivismus-Vorwurf von Max Dessoir (Hartmann, 1931, 34) und Hartmanns Konzeption parallelisiert er mit Heideggers Begriff der Geworfenheit, in dem das Moment des Erleidens zwar ebenso ausdrücklich ist, dieses aber durch eine Nötigung zum aktiven Verhalten kompensiert wird (Kluck, 2012, 206-207). Gegen Dessoirs Vorwurf weist Hartmann als die Kehrseite dieser Passivität auf das Herausgefordertsein zur Tat (Hartmann, 1962, 138) hin. Klucks Argument ist aber wesentlich stärker, weil er auch das Motiv des Peripheriegerücktseins des Menschen unterstreicht, das aus der kopernikanischen Gegenwende folgt.
Das Begriffspaar natürliche und reflektierte Einstellung bei Hartmann (Hartmann, 1965b, 44-47) bzw. realistische und konstruktivistische Anschauung (Ferraris, 2014a, 34-36) bei Ferraris weisen auf dieselbe Unterscheidung hin. Der Ausgangspunkt beider Autoren ist die ontologische Einstellung (die natürliche, bzw. die realistische Anschauung), daneben hat das zweite Glied des jeweiligen Begriffspaars seinen eigenen Anwendungsbereich. Hartmann spricht der reflektierten Einstellung auf den Gebieten, wo eine sogenannte ,innere Perspektive' vorhanden ist (also auf dem Bereich des Organischen, Seelischen und Geistigen), eine zentrale Rolle zu. Laut Ferraris ist die konstruktivistische Anschauung auf denjenigen Bereich verwendbar, wo Gegenstände von unseren begrifflichen Schemata abhängig sind, also auf den Bereich der sozialen Gegenstände (Ferraris, 2014c, 73-74).
b) Stärkere Realitätshinweise
Gemäß der realistischen Deutung ist der Erkenntnisakt ein transzendenter Akt, welchem ein reales Gegenglied anhaftet; Hartmann betont dennoch, dass es hier nicht um einen transzendenten Akt geht, in dem eine unmittelbare Realitätsgegebenheit vorliegt. Der Erkenntnisakt spielt im Lebenszusammenhang bloß eine sekundäre, un-
tergeordnete Rolle. „ Gegenstände' sind in erster Linie nicht etwas, was wir erkennen, sondern etwas, was uns praktisch ,angeht', mit dem wir uns im Leben [...] auseinandersetzen' müssen; etwas, womit wir ,fertig werden' müssen, was wir ausnutzen, überwinden oder ertragen müssen." (Hartmann, 1965b, 172). Erkenntnis kommt also erst im Nachhinein, eingebettet in vielerlei primäre Verhältnisse, basierend auf den emotional-transzendenten Akten. In diesen primären Akten ist eine unmittelbare Realitätsgegebenheit — durch die Konfrontation mit der Härte des Realen — zu finden, welche Hartmann einer sorgfältigen Analyse unterwirft.
Eine Phänomenanalyse der Akten, in denen eine unmittelbare Realitätsgegebenheit vorliegt, wurde von Nicolai Hartmann durchgeführt. Die „Aktgruppen, in deren Gefühlston sich unmittelbar das Gewicht von Realverhältnissen ausdrückt" (Hartmann, 1931, 16) sind die sogenannten emotional-transzendenten Akte; emotional, insofern „der Gefühlston in ihnen wesentlicher und eigentlicher Träger des Realitätszeugnisses ist" (Hartmann, 1931, 15) und transzendent, insofern sie „am on-tisch selbständigen Gegengliede hängen" (Hartmann, 1931, 15).
Den ersten Typus emotional-transzendenter Akte bilden die rezeptiven Akte wie z.B. Erfahren, Erleben, Erleiden, Ertragen (im rein hinnehmenden Sinne). Charakteristisch für die Akte ist, dass dem Subjekt etwas widerfährt; das Subjekt befindet sich im Modus des Betroffenseins (Hartmann, 1931, 16). Der sich zeigende Widerstand des Objekts ist ein Wesensmoment dieser Akte, genauso wie das vom Subjekt erlebte Widerfahrnis und dessen Ausgeliefertsein.
Zur zweiten Gruppe emotional-transzendenter Akte gehören die emotional-an-tizipierenden Akte, wie z.B. Erwartung, Vorgefühl, Bereitschaft, Gefasstsein, Neugier, Hoffnung, Furcht, Vorfreude, Befürchtung, Besorgnis, Angst. In diesen prospektiven Akten ist das Subjekt im Modus des Vorbetroffenseins (Hartmann, 1931, 21). Es rechnet mit der Unaufhaltsamkeit des Kommenden, des Zukünftigen, ungeachtet seiner inhaltlichen Unbestimmtheit.
In den dritten Akttypus gehören die vorgreifenden Akte aktiver, spontaner Art, wie z.B. Begehren, Wollen, Tun, Handeln. Diese Akte sind ebenfalls prospektiv auf die dem menschlichen Handeln offenstehende Zukunft gefasst. Rezeptiv sind diese Akte aber nicht, das Subjekt ist nicht direkt im Betroffenheitsmodus. Realitätsgegebenheit wird in diesen Akten von drei Momenten geliefert: die Sache, die Person bzw. die Situation bilden die drei realen Objekte von Wollen und Handeln. Mit dem Moment der Sache wird die Härte des Realen (Hartmann, 1931, 18) betont, der jedes Handeln begleitenden Grundform der Realitätsgegebenheit: der Widerstand der Sache.
Zweitens kommt Realitätsgegebenheit durch die Interaktion mit anderen Personen zutage. Die Anderen sind die eigentlichen Realobjekte des Wollens und Handelns.
Sie beziehen sich zum aktiven Subjekt rezeptiv, sind also im Modus des Betroffenseins, solange sich das aktive Subjekt im Modus des Rückbetroffenseins (Hartmann, 1931, 24) befindet. Betroffen ist das Subjekt von der Unwiderrufbarkeit seiner Tat, vom Bewusstsein seiner Verantwortung und von der Gewissheit, dass der Andere von seiner Tat betroffen ist. Die Wertmomente selbst sind für die Realitätsgegebenheit irrelevant.
Das dritte Moment ist ein umfassendes: die die Person ungerufen, ungewollt überfallende Situation, welche sie ständig zur Freiheit, zur Aktivität, zur Entscheidung, zur Stellungnahme zwingt. Jegliche Aktivität bringt dann — mitten im Widerstand der dinglichen und geistigen Welt — das Rückbetroffensein des Handelnden mit sich und konfrontiert ihn mit der Unerbittlichkeit des Realen. Der Mensch befindet sich im Kontext der jeweiligen Situation und ist der Unaufhaltsamkeit der Geschehnisse ausgeliefert.
Was wir in diesem Strome andauernd erfahren, ist nichts anderes als die allgemeine ,Härte des Realen', der wir nichts abhandeln können. Und das empfundene Ausgeliefertsein an sie, ist das unentwegt von Schritt zu Schritt uns im Leben begleitende nackte Zeugnis der Realität des Geschehens in uns selber. (Hartmann, 1931, 18-19)
Die Person bedeutet hier Ganzheit und zugleich eine sich im stetigen Wandel befindliche Identität; sie ist die Synthese des zeitlich Auseinanderliegenden. Es geht um „[d]as ständige, nie abgeschlossene, spontane Sich-selbst-Konstituieren oder Sich-selbst-Vollziehen" (Hartmann, 1962, 132). Für die Person ist nicht das Erkenntnisverhältnis das primäre; ihr Lebensspielraum ist primärerweise kein Objektfeld, sondern vielmehr ein Aktions- und Reaktionsfeld. Das Leben der Person besteht aus einer kontinuierlichen Kette von Situationen. Aus dem Strom des Situationszusammenhangs kann der Mensch unmöglich heraustreten und ist durch die Situation ständig zur Handlung — d.h. zur Freiheit bzw. zur Schöpfung — gezwungen. „Sie [die Person] ist also das Wesen, das in der Notwendigkeit, unter der es steht, frei ist, zu seiner Freiheit selbst aber genötigt ist." (Hartmann, 1962, 132). Daraus folgt auch, dass ihr Verhältnis zur Welt keineswegs ein bloßes betrachtendes Verhältnis (Erkenntnisverhältnis) sein kann, es inkludiert auch stetiges Hingerissensein, Mitgerissensein und Betroffensein. Genauso wichtig ist zugleich, dass in Hartmanns Interpretation dieses Verhältnis nicht bloß ein haltloses Ausgeliefertsein, sondern gerade ein Herausgefordertsein zur Tat bedeutet. Damit gestaltet die Person die Welt und zugleich sich selbst — sie lebt in Selbsttranszendenz. Während ihrer Handlung erfährt sie die Drastik des Realgeschehens (Hartmann, 1962, 135-143).
Der Begriff des Widerstandes nimmt auch in Schelers Überlegungen über die Realitätsgegebenheit eine zentrale Stelle ein. Er schreibt: „ .Realität [ist uns] überhaupt nicht in perzeptiven Akten gegeben, sondern in einem triebhaft voluntativen Verhalten zur Welt, in weiterem Sinne in einem dynamisch-praktischen Verhalten." (Scheler, 1927, 209). Realität wird als Widerstand gegen den zentralen Triebimpuls (zentralen Lebensdrang) erlebt. In diesem Sinne kommt Realitätsbewusstsein vor allem dem Bewusstsein, der Vorstellung, dem Denken und dem Wahrnehmen zu; dieser ekstatisch erlebte Widerstand führt dann zur Reflexion. Bei der Ausführung seiner eigenen Position geht er aus der Kritik an Dilthey aus. Dilthey schreibt: „Dies Zwischenglied zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention, das in dem Aggregat der Druckempfindungen liegt, ist jedesmal da. Wir kommen also zum Bewußstsein der Außenwelt durch Vermittlungen." (Dilthey, 1924, 113). Gerade die Möglichkeit einer unmittelbaren Widerstandserfahrung wird von Dilthey abgelehnt, dessen Bestehen in Schelers Theorie von zentraler Bedeutung ist. Scheler wirft Dilthey auch vor, das Realitätsproblem auf das Problem der Außenwelt beschränkt behandelt zu haben. Scheler plädiert für ein ekstatisches Haben von Realität (Scheler, 1927, 214) — im Gegensatz zu Dilthey, bei dem das Triebbewusstsein das primäre ist, und führt dann zum erlebten Widerstand. Letzteres hängt auch damit zusammen, dass Dilthey den Widerstand als eine bewusste Willenserfahrung versteht. Scheler schreibt: „Das Bewusstwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist in allen den mannigfaltigen Stufen und Graden, in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der Welt." (Scheler, 1927, 214).
Einen anderen wichtigen Teil Schelers Überlegungen macht Schelers Heideggerkritik aus. Er wirft Heidegger vor, Widerständigkeit nur als eine unter anderen Charakteren des Realseins zu betrachten und nicht als „der einzig konstitutive" erkannt zu haben. Nach Schelers Ansicht ist es verfehlt die Daseinsstruktur als Ausgangspunkt zu wählen, da sich die Welt im Widerstand erschließt und das Dasein bildet sich nachträglich, durch die Reflexionsakte. Er schreibt: „Welt-sein und Selbstsein sind streng gleich ursprünglich und erwachsen beide aus Seinsweisen aus Widerstand, Aufhebung des Widerstandes und nachträglicher Beschauung dessen, was also geworden ist." (Scheler, 1927, 264). Im Gegensatz zu Heidegger interpretiert Scheler Angst und Sorge als Vitalbegriffe, denen der Mensch als Vernunftwesen überhoben ist. (Scheler, 1927, 284). Der Angst steht als „Urbefindlichkeit hinter der Sorge" aber „erwächst erst aus dem Widerstande der Welt als der Sphäre möglichen Widerstandes. [...] Die Angst ist Angst vor dem möglichen Widerstande." (Scheler, 1927, 270-271).
Die zentrale Rolle des Widerstandserlebnisses wird auch von Hartmann mehrfach unterstrichen: „die durchgehende Überzeugtheit vom Ansichsein der Welt
[beruht] auf dem erlebten Widerstande [...], den das Reale der Aktivität des Subjekts leistet, — auf einer breiten Basis der Lebenserfahrung also, welche die emotionalen Akte liefern." (Hartmann, 1965b, 164). Er bestreitet aber Schelers These, laut dem alles Realitätsbewusstsein auf dem Widerstandserlebnis beruhe (Hartmann, 1965b, 169). Bei den emotional-spontanen Akten ist dieses Phänomen zwar von besonderer Wichtigkeit, aber es gibt noch weitere — vorher erwähnte — emotionale Akte, die ein Realitätszeugnis liefern.
Trotz aller Verschiedenheit vom emotionalen Erfahren und objektiven Erkennen sind emotional-erfahrene Welt und erkannte Welt letztendlich eine reale Welt, die „zweierlei Art erfahren" (Hartmann, 1965b, 205) werden kann. Sie sind in denselben Lebenszusammenhang eingefügt. In diesem Sinne schreibt Hartmann: „so überträgt sich offenbar das Gewicht der emotionalen Realitätsgegebenheit auf die Erkenntnisgegenstände. [...] die Gegenstände [...] [emotionalen] Erfahrens sind [...] zugleich Gegenstände möglicher Erkenntnis." (Hartmann, 1965b, 205). Das bedeutet, dass auch die höheren Stufen der Erkenntnis (wie auch die wissenschaftliche) in der unmittelbaren Welterfahrung wurzeln. Dementsprechend ist das in der Erkenntnis vorliegende Widerstandserlebnis von dem elementaren Widerstandserlebnis zwar zu unterscheiden, aber jenes gründet sich auf dieses. Hartmann nimmt eine „Rück-fundierung der Erkenntnis auf den Lebenszusammenhang" (Hartmann, 1965b, 207) vor. Erkenntnis hat sein Vorzug bezüglich des Soseins (Objektivität, inhaltliche Ge-formtheit, Überschau), ist aber bezüglich des Daseins (der Realitätsgewissheit), auf die emotionale Gegebenheit angewiesen.
3. DIE PRÜFUNG DER REALISMEN
Graham Harman interpretiert Heideggers Begriff der Zuhandenheit als ein Verweis auf Objekte, die eine für das menschliche Erkenntnisvermögen unerschöpfliche Realität besitzen. Er deutet Heideggers Zeuganalyse als ein „Weg zu den Gegenstanden an sich zurück" (Harman, 2012, 215 [Fußnote des Übersetzers: Sergey Sisti-aga]) aus. Ähnlicherweise denkt auch Hartmann als er Heidegger die Verwechslung von Sein und Gegebenheit vorwirft. „Das Zuhandensein [...] ist vielmehr eine sehr bestimmte und unaufhebbare Gegebenheit der Realität der Welt als der einen und an-sichseienden." (Hartmann, 1965b, 197). Als die „im Gebrauch erlebte und erfahrene Realität der Dinge" (Hartmann, 1965b, 197) ist Zuhandensein eine fundamentale Gegebenheitsweise des Realen. Wie Harman, betont auch Hartmann, dass es aber „nur eine Form dieser Gegebenheit unter vielen" (Hartmann, 1965b, 197) ist.
Harman kritisiert Heidegger wegen seiner (unbewussten) kopernikanischen Herangehensweise, indem er, statt auf die zwischendinglichen, von der menschlichen Erkenntnis unabhängigen Relationen, alleine auf die Dasein-Welt-Relation fokussi-ert. Er fordert eine anti-kopernikanische Haltung (Harman, 2015, 57-60), laut der die Mensch-Welt-Relation seinen Vorrang verliert und alle Relationen zwischen En-titäten gleichberechtigt sind. Nach seiner Ansicht unterscheiden sich echte Realismen von idealistischen Theorien nicht nur daran, dass sie eine hinter der Erfahrung liegende unartikulierte Realität feststellen. Er führt einen Lackmustest der Realismen ein, laut dem ein echter Realismus alle Relationen gleichberechtigt — und zwar als eine bestimmte Art Übersetzung oder Verzerrung (translation or disortion) — versteht (Harman, 2015, 57, 60).
Nun behaupten viele Philosophen, dass sie Realisten sind, obwohl sie das kantische Duopol zwischen Mensch und Welt aufrechterhalten. [.] Gegenüber solchen Behauptungen sollten wir stets den folgenden Lackmustest beachten: Keine Philosophie wird der Welt gerecht, wenn sie nicht alle Relationen gleichermaßen als Relationen behandelt, das heißt gleichermaßen als Übersetzungen oder Verzerrungen. Unbelebte Kollisionen müssen in exakt der gleichen Weise Behandelt werden wie menschliche Wahrnehmungen, selbst wenn letztere offensichtlich kompliziertere Formen einer Relation sind. (Harman, 2015, 60)
Von den Obigen geht es hervor, dass diesen Test weder Heidegger noch Scheler bestanden haben. Den Fall von Hartmann lohnt es sich aber, etwas näher zu untersuchen. Heideggers Herangehensweise, durch die „alles Seiende von vornherein als relativ auf den Menschen verstanden wird" (Hartmann, 1965b, 40), wird auch von Hartmann kritisiert. Auch wenn Heideggers Analyse nicht auf das Erkenntnisverhältnis beschränkt ist, sondern „ein in größerer Fülle verstandenes Lebens- und ,Da-seins'-Verhältnis des Menschen zur Welt" (Hartmann, 1965b, 40), ins Betracht zieht, ist davon die ontologische Grundfrage — laut Hartmann — vom Anfang an verfehlt. Hartmann selbst plädiert für eine sich auf der kopernikanischen Gegenwende basierende Einstellung, welche aus dem natürlichen Realismus hervorgehend das Erkenntnisverhältnis als eine Art Seinsverhältnis und die Erkenntnis als transzendenter Akt versteht.
Die ontologische Umprägung der idealistischen Denkimmanenz des Seins in eine Seinsimmanenz des Denkens bedeutet die Umkehrung der ,kopernikanischen Tat' Kants. [.] Die ontologische Umkehrung stellt die Analogie mit der kopernikanischen wieder her; sie gliedert die Vernunft in ein größeres Seinssystem ein, das sich nicht nach ihr richtet und bewegt, in welchem sie vielmehr selbst das Abhängige und Sekundäre ist. [. ] Das allgemeine Schema dieser neuen Revolution, die [. ] eine Rückkehr zur
natürlichen Einstellung bedeutet, ist die Formel der Immanenz des Denkens im Sein...
(Hartmann, 1965a, 286-287)
Hartmann operiert mit einem erweiterten, dem natürlichen Realitätsbegriff nahestehenden Begriff der Realität, laut dem nicht nur die räumlich erfahrbaren Dinge real sind. „Er ist aber zugleich auch der natürliche Realitätsbegriff, der die ,reale Welt' gar nicht anders kennt als in ihrer Einheitlichkeit, d.h. als diejenige, die das Heterogene stets verbunden und verflochten enthält: lebendige und leblose Mächte, geistige und dingliche Geschehnisse." (Hartmann, 1931, 8). Natur und Geschichte verlaufen in derselben Realität. Materie und Geist haben die gleiche Seinsweise, beide sind durch Zeitlichkeit und Individualität gekennzeichnet. Im Gegensatz zu den materialistischen Auffassungen sind also nicht Quantität und Messbarkeit, sondern Prozess, Dauer und Gleichzeitigkeit für das Reale charakteristisch. Das Gegensatzpaar dieses Realitätsbegriffs wäre also das ideale Sein, gekennzeichnet durch Überzeitlichkeit, Zeitlosigkeit, Allgemeinheit. Personen haben genau dieselbe Realität wie materielle Gegenstände. Menschen haben für uns zwar eine größere Wichtigkeit bzw. unsere Verhältnisse zu Menschen sind weit mehr kompliziert, als die zu den Dingen — dieser Unterschied gründet sich jedoch nicht auf die Differenz der Seinsweisen.
Hartmanns realistische Deutung des Erkenntnisverhältnisses folgt aus seiner on-tologischen Einstellung. Die stärksten Vorteile dieser Position liegen in der Erklärung des Problembewusstseins und des Erkenntnisprogresses, die versprochenen „Gründe für die eigene Position" (Hartmann, 1931, 85) sind damit aber noch nicht angegeben, diese liefert erst die Phänomenanalyse der emotional-transzendenten Akten. Diese Überzeugungskraft wird dann zum Erkenntnisakt übertragen, insofern das Erkenntnisverhältnis in demselben Lebenszusammenhang mit den nicht-perzeptiven Akten eingebettet ist. Solange die Erkenntnistheorie eine ontologische Fundierung braucht, muss das Erkenntnisproblem in einen anthropologischen Problemzusammenhang eingefügt werden.
Der Gedanke der Gleichrangigkeit aller Seienden lässt sich bei Hartmann auf die kopernikanische Gegenwende, und auf den daraus folgenden Vorrang der ontolo-gischen Einstellung zurückzuführen. Erzielt ist — genau wie bei Harman — die Erfassung des Gegenstandes in seiner wahren Seinsart. Beide Autoren betonen, dass weder die wissenschaftlich nach unten (bei Hartmann Metaphysik nach unten) noch die humanistisch nach oben reduzierende (bei Hartmann Metaphysik nach oben) Theorien können den realen Objekten gerecht werden. Im Lichte des Obigen kann gesagt werden, dass Hartmanns Realismus Harmans Lackmustest bestanden und insoweit sich als eine haltbare, moderne Theorie erwiesen hat.
REFERENCES
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