Научная статья на тему 'Modest Musorgskij als Wegweiser in das XX. Jahrhundert'

Modest Musorgskij als Wegweiser in das XX. Jahrhundert Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Текст научной работы на тему «Modest Musorgskij als Wegweiser in das XX. Jahrhundert»

ИСТОРИКО-ТЕОРЕТИЧЕСКИЕ ВОПРОСЫ МУЗЫКОЗНАНИЯ

УДК 78.02

О. Büsing

MODEST MUSORGSKIJ ALS WEGWEISER IN DAS XX. JAHRHUNDERT

s ist nicht strittig, dass sich das Komponieren im 20. und 21. Jahrhundert in seinen pluralistischen und auch disparaten Erscheinungsformen einer traditionellen Historiografie im Sinne einer kontinuierlichen Entwicklung entzieht. In seiner «Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen»1 sind Untersuchungen dieses Zeitraumes anhand von Kompositionsstilen, nach Gattungen, nach Komponisten oder nach Ländern (Regionen) zwar möglich, es bleibt aber der Eindruck bestehen, dass es sich beim Komponieren im 20./ 21. Jahrhundert, das um 1900 bis zum Ersten Weltkrieg mit der sogenannten «musikalischen Moderne»2 beginnt3, um einen unübersichtlichen Zeitraum handelt, den man mit Recht als einen «wilden Garten ohne Plan» bezeichnen könnte.

Ist auch eine befriedigende systematische und umfassende Untersuchung des 20./21. Jahrhunderts anhand der genannten Kriterien «Stil», «Gattung», «Autor» oder «Ort» (Land) nicht zu leisten, so bietet sich dennoch eine andere Möglichkeit an: Eine Sortierung der kompositorischen Phänomene stil- und zeitübergreifend bzw. stilunabhängig nach satztechnisch-kompositorischen Kategorien, die zur Einordnimg herangezogen werden und die nebeneinander gewisse Verlaufsstränge bestimmen (stets eingedenk auch der Möglichkeit mehrfacher Zuordnungen): Klang, Erweiterte Einstimmigkeit, Mechanismen, Zeitloser Kontrapunkt sowie Wildwuchs. Es handelt hier um eine Konzentration auf rein musikalische Kategorien, Erweiterungen in den außermusikalischen Bereich werden hier nicht berücksichtigt.

Diese Kategorien seien im Folgenden kurz erläutert. Dazu zunächst eine Darstellung in

© O. Büsing, 2019

Tabellenform mit inhaltlichen Konkretisierungen (Tabelle).

Die Kategorie Klang ist selbstverständlich bei jedweder Art von Musikpraxis von Bedeutung. Spätestens seit der Romantik rückt diese Kategorie allerdings immer mehr in den Vordergrund, und ausgehend vom Impressionismus gibt es im 20./21. Jahrhundert Werke, bei denen isolierte Akkorde, überhaupt besondere Klanggebilde, feingliedrige Tonkonstellationen oder instrumentale bzw. vokale Farben dermaßen im Vordergrund der Komposition stehen, dass sie abstraktstrukturelle Komponenten, traditionell Hauptträger kompositorischer Substanz, in den Hintergrund drängen. So erscheinen in dieser Kategorie Clustertechniken, Mikrotonalität, die Musique Concrète Helmut Lachenmanns sowie rein elektronische Klangerzeugung und Live-Elektronik, darüber hinaus auch die «Langsame Ekstase» in der Musik von Olivier Messiaen, in der sich einzelne Akkorde aufgrund einer extremen «Zeitlupe» verselbständigen, Mikrotonalität, Spektralismus und die «Texturklangtechnik» eines Salvatore Schiarrino, in der feinste bewegte Klanggespinste im Zentrum stehen, sowie die orchestrale «Dispersionsharmonik» eines Hans Werner Henze, in der im Orchestersatz unterschiedlich gefärbte, in sich vielsträhnige Schichten übereinander montiert werden.

Erweiterte Einstimmigkeit ist eine im 20./21. Jahrhundert bedeutsame Kategorie. Sie schließt an mittelalterliche Praktiken mehrstimmiger Musik an: Spätestens seit der Zeit schriftlich dokumentierter Mehrstimmigkeit {musica enchiriadis, um 900 n. Chr.) werden zunächst spezielle Formen von Parallelgesang (Quart- und Quintoiganum, incl. Oktavparallelen) ausgeprägt, mit anfanglich nur wenigen kontrapunktischen

Klang Erweiterte Mechanismen Kontrapunkt als Wildwuchs

Einstimmigkeit zeitloses Phänomen

Clustertechniken Mixturtechniken Montage, Schichtungen Komponieren mit selbständigen Stimmen

(H. Cowell, A. Berg, G. Ligeti, (I. Strawinsky, 0. Messiaen, Komponieren mit „wilden

K. Penderecki, S.Gubaidulina, Freie Paraphonie, G. Grisey) z. B. Fugen oder vergleichbare Phänomene bei: Komponenten" u.a. bei:

Schnittke; „Klangchoreografie"*) untersch, Skalenbindung

(L Strawinsky, Le Sacre du Dodekaphonie (Zweite Wiener B. Bartök (Musik für Saiteninstr., Schlagzeug und M. Reger („Inferno-Fantasie" f. Orgel

Mikrotonalität Printemps; Schule) Celesta) Op. 57)

(F. Halivy), A. Häba, P. Boulez: Répons, I. Yun

I. Wyschnegradsky, H. Partch, Cellokonzert) Dodekaphone Tropen-technik A.Schönberg A. Schönberg (Bläserquilltett Op. 26)

G. F. Haas u.a.) (J. M. Hauer) (Fuge in Variations an a Recitativ)

Modusgebundene Paraphonie E. Varese (Ionisation)

Langsame Ekstase (0. Messiaen) (0. Messiaen) Serielle Techniken L Strawinsky (Psalmensymphonie)

(K. Stockhausen, L. Nono, A. Berg, H.W. Henze

Musique concrete Asynchronität P. Boulez) P. Hindemith („Dispersionsharmonik" als

Instrumentale (B. Britten) (Ludus tonalis) Orchestertechnik)

(H. Lachenmann) Minimal music D. Sostakovie {24 Präludien und Fugen)

„Dirty îinison"*) P. Hindemith (Kammermusik Nr. 1,

Spektralismus (G. Ligeti) „Interferenztechnik" *) Suite 1922)

(G. Grisey, T. Murail) (St. Reich, Piano phases) B. Britten (Fugen im War Requiem)

Div. Kanontechiken J. Cage (4'33", Klavierkonzert,

„Texturklang-Technik"*) (G. Ligeti, G. Grisey) Musik fur selbstspielende H. Holliger sonst, aleatorisch geprägte Werke)

(S. Sciarrino) Klaviere (C. Nancarrow) Preludio e Fuga (a 4 voci) für Kontrabas s solo

„Ungenaue Projektion"*) in "Wiener Stimmung" W. Lutoslawski („Aleatorischer

„Dispersionsharmonik"*) (P. Boulez, „Explosante-fixe") Polymetr. Montagen Kontrapunkt", z.B. in seinem

(H. W. Henze) (J. Xenakis) J. Widmann Streichquartett)

„Polymerisation"*) (P. Boulez, („ Versuch über die Fuge ", Streichquartett)

Elektronische Musik / „Notation" für Orchester) Projektionstechnik als K. Penderecki (De natura sonoris)

Lire-Elektronik Kryptisierung E. Carter (Kanon a 4)

Kometenschweif- (B. Ferneyhough) W. Rihm (Klavierstück Nr. 5)

Technik" *) (A. Schnittke, Viele Arten von Filmmusik und sog.

Konzert f. Viola und Orchester) Tintinnabuli-Technik Unterhaltungsmusik Free Jazz

(A. Part)

„Resonanztechnik"*)

(W. Rihm, Gesungene Zeit)

Bigband-Satz

Heterophonie

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*) Terminologische Neuprägungen vom Verfasser.

Komponenten (Gegenbewegung). Da es sich hier nicht um Mehrstimmigkeit mit selbständigen Stimmen (Realstimmigkeit) handelt, sondern um Ausfaltung von Einstimmigkeit, sei diese Art «Erweiterte Einstimmigkeit» genannt. Nach und nach kommen genuin kontrapunktische Stimmführungen ins kompositorische Repertoire (vgl. Machaut) und verdrängen die ältere Form von Erweiterter Einstimmigkeit, bis sich schließlich ab dem 15. Jahrhundert die Realstimmigkeit4 als Norm durchsetzt. Praktiken erweiterter Einstimmigkeit kommen dann wieder ab der Zeit Debussys (und Musorgskijs!) in Gebrauch, als Gegenprinzip zum traditionellen Kontrapunkt. Im 20./21. Jahrhundert entwickeln sich sodann mannigfaltige Erscheinungsformen: Neben klassischen Mixturtechniken auch Techniken im Sinne freier oder modusgebundener oder in sonstiger Form regulierter Paraphonie, d.h. mehrere Stimmen bewegen sich stets in gleicher Richtung, nie gegenläufig.

Eine weitere Kategorie bilden die Mechanismen. Mechanismen sind ein zeitübergreifendes kompositorisches Prinzip; eine klassische Passacaglia z.B. oder sonstige Ostinatotechniken und Sequenzen sind partiell geprägt durch Mechanismen. Im 20./21. Jahrhundert aber gibt es Kompositionen, bei denen Mechanismen fundamentalen Charakter haben: Dazu zählen Montage- und Schichtungsverfahren, z. B. bei Strawinsky und Messiaen, bis hin zu Grisey, in gewisser Hinsicht die orthodoxe Dodekaphonie und serielle Verfahren, Minimal Music und anderes mehr.

Sind auch die eher jungen Kategorien Klang, Erweiterte Einstimmigkeit und Mechanismen signifikant für das Komponieren im 20./21. Jahrhundert, so ist doch das tradierte kontrapunktische Komponieren mit selbständigen und kontrastierenden Stimmen bis heute von großer Anziehungskraft geblieben. Es ist nicht an Tonalität gebunden, denn Kontrapunkt ist im diatonischen oder chromatischen, modalen, freitonalen oder auch atonalen Ambiente möglich. Stellvertretend für kontrapunktisches Komponieren sind in der obigen Aufstellung einige Komponisten genannt, die entsprechende Werke hervorgebracht haben.

Theoretiker lieben die Ordnung. Dennoch muss konstatiert werden, dass es, besonders auch im 20./21. Jahrhundert, gelegentlich Werke gibt,

von denen eine Erfrischung aufgrund von Wildheit und Ungeordnetheit ausgeht. Einen totalen Wildwuchs gibt es nicht, auch ein Urwald hat System. Doch findet man Wildwuchs in signifikanter Form beispielsweise bei Max Reger, dessen Akkordfolgen trotz eines minutiös ausgearbeiteten harmonischen Mikrokosmos eine «wilde Ausstrahlung» haben können, in streng gearbeiteter Dodekaphonie wie in Schönbergs Bläserquintett Op. 25, in dem aufgrund der sehr schnellen Rotation des chromatischen Totais die Kategorie Harmonik komplett entfallt, bei Werken provokanter, antibürgerlicher oder exzessiver Ausdruckshaltung und bei Werken, die partiell aleatorisch (aleatorischer Kontrapunkt) oder in klanglicher Hinsicht vollständig aleatorisch (Cage: 4' 33") bestimmt sind. Das Prinzip der Dispersionsharmonik war in der Kategorie Klang erwähnt worden, lässt sich aber ebenso gut unter Wildwuchs anfuhren, da das Klangresultat bei diesem Schichtungsverfahren harmonisch indifferent und unbestimmbar ist. Nicht unerwähnt bleiben darf auch der Free Jazz.

Im Kommentar zur Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit war schon der Name Musorgskijs gefallen. Nun ist es an der Zeit, auf seine Bedeutung hinsichtlich der oben genannten Kategorien gezielt einzugehen. Sein wegweisendes Komponieren bezieht sich neben der schon genannten Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit auch auf die Kategorie Klang. Dazu im Folgenden einige Beispiele 1, S. 8.

Hier liegt ein zweistimmiger Satz vor: Am Achsenton A, zweifach umspielt und in «dissonantes Oszillieren» gebracht durch die schnellen triolischen Wechselnoten in den hohen Streichern und die anfänglich simultanen langsameren Drehfiguren in den Orchesterbässen, wird durch ein «Expander» gezerrt, beginnend beim Tritonus (verm. 5) ,es' (!). Diese Zerrung wird chromatisch weitergedehnt bis zum ,fis'. Dann bricht dieser Abschnitt ab. Es handelt sich um ein isoliertes Klanggebilde, das zwar durch den Achsenton zentriert ist, aber keiner Tonart eindeutig angehört und nicht als figurierter Akkord gedeutet werden kann. Seine dominantische Funktion ist nur partiell. Die Wirkung dieser bizarr instrumentierten Eingangspassage ist die einer furchterregenden Klangfratze: Aus Briefpassagen von Musorgskij geht hervor, dass hier die Versammlung der

Beispiel 1. M. Musorgskij. Eine Nacht auf dem kahlen Berge Particell nach der Partitur der Originalversion (1867), Musikverlag Hans Sikorski, Hamburg Klingender Tonsatz, Dynamik z. T. fortgelassen

Blechbl.

Blechbl.<

ffTUfffrilr

tLf ttTHJ

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3 3 3 3

3 3 3

3 3

3 3 3 3

#3 *

* 5 ß

Hexen und ihr Geschwätz in der Erwartung des Satans musikalisiert wird5.

Aus demselben Stück stammt folgende Passage (Beispiel 2).

Nachdem eine Ganztonleiter vor dieser Passage bereits partiell eingesetzt wurde (und danach noch weiter erklingen wird), erscheint sie hier (bei Ziff. 20) im Satz Note gegen Note zweistimmig gegenläufig in hohem Tempo und extremer Dynamik. Vorbereitet wird sie in Takt 520. Eine tonartliche Bestimmung der Takte 521 und 522 ist nicht möglich. Gegen Ende der «Nacht», die ja vom Hexensabbat handelt, hat Musorgskij hier eine «giftige indifferente Klangwolke» in Szene gesetzt. Mikhail I. Glinka

hatte in Russlan und Ludmilla (erste Aufführung St. Petersburg 1842) bereits eine Ganztonleiter eindrucksvoll verwendet (Chor Nr. 216). Während Glinka die Skala wie einen C.f. im Bass klassisch harmonisiert, erscheint sie hier bei Musorgskij mit dissoziierender Wirkung und geradezu atonal. In seiner Bearbeitung der Nacht auf dem kahlen Berge mit eigenem angehängten Finale hat Rimskij-Korsakov diese atemberaubende Passage eliminiert. Die Originalversion von Musorgskij s Nacht ist erst 1932 (unter der Leitung Nikolai Malko in London) uraufgeführt worden.

Ein weiteres Beispiel für die Kategorie Klang bei Musorgskij bietet die Krönungsszene aus

Beispiel 2. M. Musorgskij. Eine Nacht auf dem kahlen Berge Particell nach der Partitur der Originalversion (s. o.) Klingender Tonsatz

(Piü vivo)

Boris Godunow mit orchestralem Glockenklang (Beispiel 3).

Hier alternieren über dem stark instrumentierten Basston C zwei Akkorde der Blechbläser: ein Dominantseptakkord As7 (als Quintsextakkord) in der eingestrichenen Oktave und ein Dominantseptakkord D7 (als Sekundakkord) in der kleinen Oktave. Die beiden dominantischen Akkorde, jeweils auf demselben Basston stehend, sind funktionsfrei eingesetzt als Klänge eigener Art und stehen im Tritonusabstand (bezogen auf ihre Grundtöne). Oberhalb dieser drei Schichten sind bis in die viergestrichene Oktave hinein oktavierte Achtelbewegungen (und später zusätzlich

Sechzehntel) gesetzt, welche die alternierenden Dominanten in schneller Bewegung figurieren. Musorgskij hat hier in imposanter Weise ein großes Kathedralgeläut komponiert, das in seiner kompositorischen Faktur bahnbrechend ist.

Als letztes Beispiel für die Kategorie Klang sei ebenfalls Glockengeläut präsentiert: Es erklingt im Finalsatz Nr. 10 («Das Heldentor») der Bilder einer Ausstellung1 ist ähnlich dem mächtigen Geläut in Boris angelegt (Beispiel 4).

Hier handelt es sich ab T. 81 um ein Pendel zwischen zwei Akkorden, die noch einmal als Auszug und in vereinfachter Notation dargestellt seien (Beispiel 5).

Beispiel 3. M. Musorgskij. Boris Godunow Szene 2 (Krönung), entspr. der Erstfassung von 1896 Particell (klingender Tonsatz) nach der Partituredition Evgenij Levasev, Moskau 1996

Hbl., +

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Beispiel 4. M. Musorgskij, Bilder einer Ausstellung, 10. «Das Heldentor», T. 77 ff.

Ф

Beispiel 5. Akkordfolge in vereinfachter Notation

E7+

L 5 J

Der erste Akkord ist ein halbverminderter Septakkord auf f, mit as (seiner Terz) als tiefstem Ton. Er ist ohne Kadenzzusammenhang und daher mehrdeutig; sein Tonvorrat entspricht interessanterweise genau dem des «Tristan-Akkords» Richard Wagners. Ein halb verminderter Septakkord kann in kadenziellen Zusammenhängen als verkürzter Dominantnonenakkord verstanden werden oder als Septakkord auf der zweiten Stufe in Moll (also im Sinne harmonischer Standards), im rätselhaft-magischen Sinne des «Tristan-Akkords». Als abstrakter Klang entspricht er ebenso dem Akkord, der nach einem kecken Solo der Es-Klarinette in Richard Strauss' «Till Eulenspiegels lustige Streiche» Op. 28 in T. 47 von drei Oboen und Englischhorn gespielt wird.

Sein Gegenspieler hier ist, in einfache Griffhotation übertragen, ein Durseptakkord auf E, der allerdings auf dem schwebenden Quintton ,h' steht. Das Alternieren zwischen diesen beiden instabilen sonor gesetzten Akkorden, jeweils mit Terz bzw. Quinte im Bass, ist ein mächtiges Klangphänomen, allerdings auch mit einer stark schwebenden Wirkung, wie sie bei hoch in Türmen aufgehängten Glocken entstehen kann. Dieses Pendel erklingt insgesamt 6 Mal, mit zunehmender Figuration im Diskant, bis sich die ersten Töne der anfänglichen Promenadenmelodie dieses Werks in das Klanggeschehen wie ein C.f. einfädeln.

Wenden wir uns nun der Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit zu, einer Kategorie, die (wie vorne erläutert) durch Parallelführung von Stimmen in Oktaven und Quinten (mit hohem Verschmelzungsgrad) und anderen Intervallen in realer oder tonaler Art und auch in freier Manier gekennzeichnet ist. Heterophonie ist hier aber nicht von Bedeutung.

Die Erweiterte Einstimmigkeit spielt in Musorgskijs Klavierwerk Bilder einer Ausstellung von 1874 eine große Rolle, das durch

satztechnische Besonderheiten gekennzeichnet ist, die den damals traditionellen kompositorischen Prinzipien entgegen stehen. Der Herausgeber der Urtextausgabe dieses Werkes im Verlag Bärenreiter, Christoph Flamm, schreibt dazu: «Man darf aber nicht übersehen, dass Musorgskij in den Bildern ganz bewusst ungewöhnliche pianistische Wege beschritt, während viele seiner sonstigen Miniaturen nah am gesamteuropäischen Vokabular der Klaviermusik blieben - das vermeintlich Unbeholfene oder gar Unbequeme ist die pianistische Außenseite einer rustikalen Derbheit, die, wenn nicht als nationales Signum, so doch als Gegengift gegen die Verwestlichung der russischen Kultur begriffen wurde. Wenn der Klaviersatz nicht selten ungewohnt wirkt, ist das Absicht und bedeutet nicht, dass er (wie in vielen Ausgaben und Aufnahmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) aufgebauscht oder gar ganz von diesem Instrument erlöst werden müsste; abgesehen davon sind viele Passagen eher vokal als orchestral gedacht»8. Hinsichtlich der Inspiration dieses Werkes (und des Werks Musorgskijs im Allgemeinen) durch usuelle russische Musik kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden9. Anhand der Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit lohnt es sich aber, dem Ungewohnten in den Bildern genauer nachzugehen.

Das erste Untersuchungsobjekt bietet die einleitende «Promenade» aus Musorgskijs Bildern, die im Folgenden komplett wiedergegeben sei (Beispiel 6).

In dieser Eröffnungsmusik finden sich satztechnische Besonderheiten, deren Lokalisierung im obigen Notentext mit Großbuchstaben gekennzeichnet sind und im Folgenden kommentiert werden:

A In T. 3 erklingen klassisch verpönte Oktavparallelen auf Schlag 4 und 5 in den Außenstimmen; die Quintparallelen zwischen

Beispiel 6. M. Musorgskij, Bilder, Einleitende «Promenade» Ailegro giasto,ne! modo rusüieo; senza allegrezza,ma poeo sostenuto.

Mittelstimmen auf 2 und 3 sind ebenfalls klassisch nicht üblich, hier aber weniger auffällig.

B In T. 4 wird auf 2 und 3 ein kompletter Dreiklang in Terzlage um eine Terz nach unten gerückt. Ein solches Verfahren wäre im klassischen Satz ein grober Fehler.

C In T. 6 ziehen sich die Stimmen auf 5 und 6 in einer Richtung auf einer Oktave zusammen.

Im Sinne das klassischen Kontrapunkts wäre eine solche Stimmführung unrichtig.

D Hier liegt auf 5 und 6 ein Phänomen vor wie bei C.

E Auf 4, 5 und 6 erklingen Akzentquinten in den Außenstimmen.

F T. 13 ist vergleichbar mit T. 10 (E).

G In T. 14 erklingen Quintparallelen in den Außenstimmen auf 1 und 2.

Beispiel 7. M. Musorgskij, Bilder, 1. «Gnomus», T. 32 ff.

der frühen Mehrstimmigkeit angewendeten Praktiken zuwendet. Es handelt sich hier um einen fein austarierten Wechsel zwischen Kontrapunkt und erweiterter Einstimmigkeit, um eine mehr melosbetonte als ausschließlich kontrapunktisch geprägte Kompositionsweise. Der Satz ist im Charakter zwar ernst («senza allegrezza»), aber doch auch durch Leichtigkeit gekennzeichnet. Die vorgeschriebene Dynamik lautet dementsprechend nur <</>>.

Das zweite Beispiel zur Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit findet sich im Satz «Gnomus» in Musorgskij s Bildern, dort in den Takten 40-44 (Beispiel 7).

Der Satz ist in es-Moll komponiert; ab T. 38 erklingen zunächst Unisono-Figuren, die mittels Tritonus und Quinte am Basiston ,es' zerren, bis es ab T. 40 zu einer Reihe von Terzparallelen kommt; erst ab T. 45 (Vivo) gibt es wieder ein Unisono.

Diese Terzparallelen sind bis auf drei Ausnahmen kleine Terzen, und daher wird insbesondere zu Beginn dieser paraphonen Passage die Tonart es-Moll stark verwischt, obwohl die grundierende Bassoktave ,es' in T. 42 als «Orientierungspunkt» erklingt. Diese Passage strahlt ein verzweifelt-ortloses Suchen aus, wie es einem Gnom eigen sein kann.

Als letztes Beispiel zur Kategorie Erweiterte Einstimmigkeit seien die Takte 5-9 aus der Nr. 5 der Bilder («Ballett der unausgeschlüpften Küken») angeführt (Beispiel 8).

Die Akkorde, die im 2/4-Takt ab T. 5 auf jeweils leichter Achtel erklingen, sind im

H In T. 16 ergeben sich Quintparallelen auf 2 und 3 und auf 5 und 6 zwischen einer Mittelstimme und dem Bass.

I In T. 18 erklingen auf 4 und 5 Akzentoktaven zwischen den Außenstimmen, in der Art eines erweiterten Unisono.

J Die Stimmführung in T. 20 auf 1 und 2 ist analog T. 18 auf 4 und 5 (I).

K In T. 22 ergeben sich auf 3 und 4 Oktavparallelen zwischen einer Mittelstimme und dem Bass. Diese «unklassische» Stimmführung ist hier allerdings weniger auffällig.

L Im Schlusstakt finden sich auf 2 und 3 «Antiparallelen» zwischen den Oberstimmen und dem Bass. Würde der Basston auf 3 eine Oktave tiefer erklingen, ergäbe sich eine unklassische Akkordrückung wie bei B (T. 4). Durch den Sextsprung aufwärts im Bass (anstelle einer Terz abwärts) ist die direkte Wirkung einer Akkordrückung etwas abgemildert.

Nun ist zu hinterfragen, ob die genannten zahlreichen Auffälligkeiten und scheinbaren Regelverstöße tatsächlich nur im Sinne einer «rustikalen Derbheit» (Christoph Flamm, s.o.) zu deuten sind. Was Musorgskij hier vorgelegt hat, ist nicht anders als im Sinne eines Paradigmenwechsels zu deuten: Er verfolgt nun nicht mehr die bis dato unumstrittene Idee der Realstimmigkeit zwischen den Stimmen eines mehrstimmigen Satzes, das ab dem 15. Jahrhundert Gültigkeit hatte, sondern er komponiert gewissermaßen «zwischen den Prinzipien», indem er sich passager auch den in

Beispiel 8. M. Musorgskij, Bilder, 5. «Ballett der unausgeschlüpften Küken»

Seherzino.

vivo, leggiero

>f. h

Folgenden in abstrakter Form noch einmal dargestellt (Beispiel 9).

Hier steigen in paraphoner Setzweise zunächst fünf Dur- bzw. Molldreiklänge in Grundstellung mit stets wechselnden Grundtönen auf, der sechste als Quartsextakkord, und die nächsten beiden wieder als Grundakkord, bevor das tonikale F-Dur wieder erreicht wird. Die paraphone (und unklassische) Setzweise dieser Passage fährt zu einem Klangeindruck, der dem Titel des Satzes entspricht. Es sind aufsteigende hüpfende Farbpunkte federleichter Art, zumal sie

im mittleren bis hohen Klavierregister auf leichter Zeit erklingen.

Doch Musorgskij hat nicht nur tradierte Regeln gebrochen, er hat aus Ausdrucksgründen auch überlieferte Verfahren weiterentwickelt. So hat er in Nr. 1 der Bilder («Gnomus») eine spezielle Art des doppelten Kontrapunkts der Duodezime angewandt (Beispiel 10).

Der in T. 60 auf Schlag 3 in der linken Hand einsetzende «C.f.», eine von ,es' aus absteigende chromatische Skala in Halben (A-K), wird kontrapunktiert von der Oberstimme (rechte

Beispiel 9. Akkordfolge im «Ballett der unausgeschlüpften Küken», T. 5-9

V» hti %

JJL

Beispiel 10. M. Musorgskij, Bilder, 1. «Gnomus», T. 60-71

9 10 12 13 14 16 17

Hand, 1-17), die sich in Halben und Vierteln bewegt. In T. 66 wird ein Stimmtausch vorgenommen, der „C.f." erklingt nun in der Oberstimme (auf 1 beginnend), und der ehemals in der Oberstimme gewesene Kontrapunkt erklingt nun, von Anpassungen abgesehen, in der Unterstimme, allerdings noch um eine Quinte nach unten versetzt (Doppelter Kontrapunkt der Duodezime), und zusätzlich noch verschoben um zwei Viertel «nach rechts». Dieser kontrapunktische Kunstgriff lässt an Sergej Taneevs später formulierte Idee vom «bewegbaren Kontrapunkt»10 denken. Hier liegt eine sehr komplizierte Faktur vor; zusätzlich wird in dieser Passage durch die systematisch parallel geführten kleinen Terzen die Grundtonart «verwischt». Der Ausdruck ist dementsprechend der einer großen «inneren Verspannung» und passt zu dem musikalisch portraitierten Gnomus, einem zwergwüchsigen menschenähnlichen Fabelwesen. So hat Musorgskij die Palette der Ausdrucksmöglichkeiten mit Hilfe tradierter Techniken erheblich erweitert.

Ein weiteres Beispiel für die Vielseitigkeit der kompositorischen Mittel von Musorgskij findet sich in Nr. 6 der Bilder, «Samuel Goldenberg und Schmuyle»: Es ist die Kombinationstechnik von Themen, wie wir sie

in ähnlicher Weise von Johann Sebastian Bach kennen (Beispiel 11).

Das Goldenberg zugeordnete anfängliche Unisono ist im sogenannten «Zigeunermoll» auf ,b' komponiert, die von Terzen unterstützte Melodie ab T. 9, offensichtlich Schmuyle geltend, erklingt in des-phrygisch. Ab T. 16 werden die beiden konträren Gestalten kombiniert, aber nicht in mechanischer Montage, sondern, unter Beibehaltung ihrer jeweiligen rhythmischen Charaktere, in melodischen Fragmenten, die auf Tonfolgen ihrer speziellen Themen basieren. Sie bleiben in ihren angestammten Tonarten. Die beiden dramatis personae Goldenberg und Schmuyle werden so nach ihrer jeweiligen anfänglichen Präsentation ab T. 15 zu einer direkten Konfrontation geführt, die abrupt in einem indifferent-gespannten übermäßigen Dreiklang endet, bevor nach einer Generalpause ein Epilog diesen Satz beendet.

Wie wir gesehen haben, hat Modest Musorgskij als wahrhafter Expressionist in satztechnischer Hinsicht kompositionsgeschichtlich bahnbrechende Paradigmenwechsel herbeigeführt. Er hat aus Ausdrucksgründen tradierte Regeln gebrochen, aber auch überkommene Kompositionsverfahren weiterentwickelt; er ist ein packender Dramatiker

Beispiel ll.M. Musorgsky, Bilder, 6. «Samuel Goldenberg und Schmuyle»

Andante

P & ft i*

Beispiel 12.1. M. Musorgskij, Bilder, Einleitende Promenade, Einstimmige Passaden

T.i i-1 T. 2 ; T.5 T.6

Beispiel 12.2. Debussy, Nocturnes, Nr. 1 Nuages

T. 67

Harfe

und magischer musikalischer Erzähler, und nicht zuletzt ein Komponist, dessen Werke menschlich ungemein berühren. Nicht erst Debussy hat die Moderne im 20. Jahrhundert eingeleitet, sondern Modest Musorgskij mit seinen frühen kompositorischen Paradigmenwechseln

hinsichtlich der Kategorien Erweiterte Einstimmigkeit und Klang zwischen 1867 und

1874, in einer Zeit, als Debussy noch ein Schuljunge war. Vielleicht hat Debussy ihm daher später ein Denkmal gesetzt? In seinen Nocturnes von 1899 findet sich im ersten Satz («Nuages») eine Melodie in Flöte und Harfe, die durchaus eine Anspielung auf den einstimmigen Beginn von Musorgskij s Bildern einer Ausstellung sein könnte (Beispiele 12).

ANMERCKUNGEN

1 Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7), Sonderausgabe Laaber 1996, S. 3.

2 Ebd., S. 13.

3Ausprägung neuartiger Satz- und Formprinzipien sowie von Atonalität durch Schönberg, Skriabin und Ives unabhängig voneinander.

4 D.h. ohne mittelalterliche Stimmverschmelzung, eben mit Verbot von Oktav- und Quintparallelen.

5 Vgl. «Vorwort», in: Musorgskij, Ein Nacht auf dem kahlen Berge, orchestriert von N. A. Rimskij-Korsakov (= Ed. Eulenburg Nr. 841), S. III.

6 Mikhail I. Glinka Russlan und Ludmilla, Klavierauszug

(= Musik-Edition Lucie Galland), Weinsberg, 1998.

7 Alle im Folgenden wiedergegeben Notenbeispiele aus

Musorgskij, Bilder einer Ausstellung entstammen der Ausgabe St. Petersburg ca. 1886, Nachdruck Leipzig 1918.

8 Christoph Flamm, «Vorwort», in: Musorgskij, Bilder einer Ausstellung, Urtext, hg. von von dems., Kassel 22017, S. IX.

9 Verwiesen sei aber auf folgende Quelle: Grigorij Golowinskij und Anatolij Konotop, «Mussorgsky und altrussische Gesangtradition», in: Musikalische Akademie 1993, Nr. 1, S. 203-206.

10 Sergej Ivanovic Taneev, Podviznoj kontrapunkt strogogo pis'ma, 2., veränderte Ausg., Lpz./M. 1909.

LITERATURVERZEICHNIS

1. Головинский Г., Конотоп А. Мусоргский и древнерусская певческая традиция // Музыкальная академия. - 1993. - № 1. -С. 203-206.

2. Танеев С. Подвижной контрапункт строгого письма. - Лейпциг: М. П. Беляев, 1909. -XII, 402, [9] е., табл.

3. Abraham G Vorwort // Mussorgsky М. P. Night on the Bare Mountain / Orchestrated by N. A. Rimsky-

Korsakow. - London [et al.]: Ernst Eulenburg Ltd, 2013. - P. III-IV.

4. Danuser H. Die Musik des 20. Jahrhunderts. - Laaber: Laaber-Verl., 1996. - VI, 465 S.

5. Flamm Ch. Vorwort // Mussorgsky M. Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann. - Kassel, Basel: Bärenreiter, 2017. - S. IE-X.

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