D OI: http://dx.doi.org/10.20534/EJLL-16-4-57-59
Kobzar Iuliia, Das Schewtschenko-Institut für Literatur der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine
Doktorandin E-Mail: [email protected]
Literarische Repräsentation der Grenze in Jura Soyfers „Lied von der Grenze"
Abstrakt: Der Aufsatz beschäftigt sich mit der Repräsentation der limologischen Problematik vom Werk Jura Soyfers am Beispiel seines lyrischen Werkes „Das Lied von der Grenze". Die Analysen des Konzeptes „Grenze" und der Widerspiegelung von der zerstörten Identität des Autors in seinem Nachlass wurden detailliert durchgeführt.
Schlüsselwörter: Grenze, Identität, Konzept, Limologie, Jura Soyfer.
Wenn man konzeptuelle Charakteristiken der Be- gegangen werden: die Grenzübergänge der staatlichen
griffe „Grenze" und „Grenzgänger" reflektiert, lohnt es sich zu betonen, dass das Leben und Werk des österreichischen Satirikers Jura Soyfer, der einen wesentlichen Beitrag zu der Schatzkammer der deutschsprachigen Literatur der Moderne geleistet hat, bietet ein produktives Material für Präsentation und Interpretation dieser beiden Begriffe. Für die zahlreichen sowohl direkten als auch metaphorischen Repräsentationen der limologischen Problematik im Werk des Literaten, in seiner Lebenspraxis und Identität interessierten sich seinerzeit viele Literaturwissenschaftler (Herbert Arlt, Eva Brenner, Johann Holzner, Tamas Lichtmann, Helmut Morchen, Gerhart Scheit, Horst Jarka [1]) — die Ergebnisse ihrer Studien wurden während des internationalen Kolloquiums in Saarbrücken im Jahre 1991 vorgestellt und im Sammelband «Jura Soyfer, multikulturelle Existenz» veröffentlicht. Doch sowohl das gesamte literarische Werk, das nicht nur eine Widerspiegelung des alltäglichen Lebens ist und sich durch starke prophetische Kraft kennzeichnet, sondern auch die ewigen Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Existenz und Koexistenz der Menschen aufwirft, als auch das Thema der Grenzen und Grenzgänger bilden stets eine Bühne für neue Interpretationen, weil sie im Laufe der Geschichte, im Kontext unserer Epoche einer gleichzeitigen Globalisierung und Abgrenzung neu gelesen und wahrgenommen werden.
Wenn man das Leben und Werk von Jura Soyfer durch das Prisma des Konzeptes „Grenze" betrachtet, wird die Flexibilität dieses Begriffs offensichtlich, was die Extrapolation auf verschiedene Aspekte des Untersuchungsobjektes ermöglicht. Bei der Untersuchung dieses Themenkomplexes soll auf folgende Aspekte ein-
Grenzen durch den Schriftsteller, seine Identitätssuche, sein Glaubenssystem, Gattungs- und Stilüberschneidungen in seinem Werk, Entwicklung seines eigenen Konzeptes des Grenzbegriffes.
Die Staatsgrenze als Mittel geographischer Trennung, jedoch keiner Abgrenzung von den Problemen lernte Jura Soyfer noch im frühen Alter kennen. Der Schriftsteller wurde im Jahre 1912 in Charkiw (die Ukraine) in der Familie des prosperierenden Unternehmers Wolodymyr Soyfer geboren. In der Vorahnung der Judenpogrome, die ihren Höhepunkt im Zeitraum vom 1920 bis 1921 Jahren im Gebiet Charkiw erreicht haben, wurde die Familie Soyfer gezwungen, im Jahre 1918 nach Konstantinopel zu emigrieren, und von dort im Gefolge des Bürgerkrieges in der Türkei nach Wien zu flüchten. Die neue Heimat für Jura Soyfer wurde das Österreich des Austrofaschismus. Somit wurden Soyfers Grenzübergänge nicht beendet. Im Jahre 1932 unternahm er als junger Reporter eine Reise nach Deutschland, wo er Rede von Adolf Hitler hört und die „feldgraue Zukunft" [9, 267] dieses Landes und ganzen Europas vorhersah. Mit der „feldgrauen Zukunft" Deutschlands wurde seine eigene Zukunft eng verbunden: Als Jura Soyfer von den nach dem Anschluss Österreichs begonnenen Arresten der politisch verdächtigen Bürger zu flüchten versuchte, wurde er nach einem bösen Zufall an der Schweizer Grenze in Haft genommen. Danach wurde er ins KZ Dachau transportiert und von dort ins KZ Buchenwald [7]. Dann war sein Grenzgängerleben (в слове была лишняя буква L) frühzeitig ein Ende gesetzt. Im Brief von Soy-fers Freundin Helli Ultmann an Marika Rapoport steht es: «Ich habe versprochen, Dir zu schreiben, sobald Jura
Section 2. Literature
frei ist. Nun ist er frei, aber auf andere Art. Er ist nach seiner Entlassung am 24.01.1939 mit Typhusfieber dort in Weimar ins Spital gekommen und am 15.02. daran gestorben» [10, 175].
Soyfers Identitätsbildung ist auch vom großen literaturwissenschaftlichen Interesse: Wie verstand sich der aus der Ukraine stammende, österreichische Autor jüdischer Herkunft, dessen Muttersprache Russisch war, und er selbst seine Werke auf Deutsch verfasste. „Die Nationale" (das damalige Inskriptionsverzeichnis) dokumentiert Schwankungen seines Selbstverständnisses. Anfangs bezeichnet er sich noch als Russe, später als Deutscher und Mitte der 30er Jahre als Österreicher [2, 38], bemerkt der Soyferkenner Herbert Arlt.
Dieser Sachverhalt übte wahrscheinlich Einfluss auf die Entwicklung seines Glaubenssystems aus, das, ausgehend von seinen Texten (Vagabunden Hupka und Pistoletti in „Astoria", einsamer ehemaliger Seemann Johnny in „Vineta", Arbeitsloser Edi in „Edi Lechner schaut ins Paradies"), auf das Streben nach dem Schutz der marginalisierten Schichten der Bevölkerung stützte. Ihm „gelingt es Perspektiven zu entwickeln, die nicht nur seine Partikularinteresse widerspiegeln, sondern mit deren Artikulation der Sprecher für diejenigen wird, die „auf der Grenzlinie" dahintaumeln" [2, 52].
Durch das Konzept „Grenze" könnte Soyfers ganzes Werk, das sich zwischen „Utopie und Realität" [8, 19] befindet, betrachtet werden, das im wahren Sinne des Wortes ein Grenzfall ist und eine Mittelstelle zwischen den ästhetischen Grundlagen der literarischen Avantgarde und Moderne einnimmt.
Literarische Repräsentationen der „Grenze" als Trennungslinie in politischer, wirtschaftlicher, kultureller, soziologischer Hinsicht lassen sich in vielen Texten des Schriftstellers verfolgen, z. B. dient im Stück „Astoria" die auf der Straße von Hupka gezeichnete Trennungslinie als Ausgangspunkt der Handlung. Die Grenzthematik wurde aber in seinem lyrischen Werk am ausdrucksvollsten repräsentiert. Die staatlichen Grenzen sind in den Dichtungen meistens negativ konnotiert: Entweder wegen der weltweiten historischen Erschütterungen in der Zwischenkriegszeit, oder „in der Vorahnung seines eigenen Schicksals, scheint Soy-fer eine besondere Abneigung gegen die Grenzen... entwickelt zu haben" [5, 64].
Als Apotheose der Grenzproblematik von Jura Soy-fer kann „Das Lied von der Grenze" (1937) betrachtet werden. In diesem lyrischen Werk fällt die Vielschichtigkeit des Begriffs „Grenze" auf, z. B. die Grenze als Trennungslinie zwischen zwei Staaten, die Grenze als Ver-
bindung von zwei Entitäten, die Grenze als Ursache des Zerfalls des persönlichen Bewusstseins.
„Das Lied von der Grenze" ist das Schlusslied in der Kleinkunstszene „Die Grenze" von Soyfers Kollegen, Kleinkunstautor Franz Paul, die 1936 im ABC aufgeführt wurde [3, 135]. Da diese Szene nicht aufgefunden wurde, lässt sich das Sujet nur aus der zusammenfassenden Dichtung Soyfers erschließen. Die handelnde Person Theophil war in einem Haus geboren, durch das die Ländergrenze mitten hindurchführt. „Jedes Land beansprucht Theophil als Staatsbürger. Schließlich bricht Krieg aus und Theophil soll aufbeiden Seiten gegen sich selbst kämpfen" [11, 896]. Soyfers Reflexionen in Bezug auf diese per se absurde Situation wurde als Groteske folgendermaßen dargestellt:
Wie soll er hinüberknallen, wenn er selbst drüben steht? Wie kann er hinüberknallen, Wenn er selbst hüben steht? Und wie die Würfel fallen, Bleibt hier doch ganz egal. Er muss die Rechnung bezahlen, Er — auf jeden Fall [12, 208].
Interessanterweise macht Jura Soyfer nicht Theophil, sondern gerade die Grenze zum Protagonisten des Werkes: Die imaginäre, das Haus und somit das Leben von Theophil trennende Linie ist nicht nur der Anlass der Darstellung bzw. der Ausgangspunkt des fiktionalen Sujets, sondern sie wurde in den Text auch als eine die Handlung des Liedes vorantreibende Denkfigur eingeführt; die handelnde Person Theophil fungiert bloß als Instrument zur die Demonstration der Gewalt seitens der Grenze und somit als Prototyp vieler den diktatorischen Staatspolitiken zum Opfer gefallenen Soldaten.
Du bist ein unbrauchbarer Stein im Spiel.
Du bist ein schwerer Grenzfall, Theophil [12, 208].
Die Groteske und somit der ästhetische Reiz des literarischen Textes wurde durch zwei Funktionen der Grenze — als Trennung der Außenwelt von Theophil und als Zersplitterung von der Innenwelt der Persönlichkeit — erzielt. Diese imaginäre Trennungslinie stellt nicht nur Lebensgefahr für die handelnde Person dar, sondern sie spaltet auch diese Chimäre „die integrale Einheit der Person in zwei Teile, ein Vorgang, der sich nur in der Imagination vollziehen lässt" [4, 221]. Da sich Jura Soyfer als Schriftsteller unter dem Einfluss der expressionistischen Ästhetik entwickelt hat, lässt sich die Darstellung Theophils als ambivalenten Subjekts durch das Prisma des expressionistischen Menschenbildes als eines nicht einheitlich gebildeten, zerrissenen Individuums erklären [6].
In Zusammenhang mit solchem hybriden Sachverhalt befindet sich Theophil in der schwerverständlichen Situation des Grenzgängers: Einerseits nimmt er sich als Bestandteil beider Staaten wahr, was zu einem so genannten Rollenspiel an der Grenze, zur persönlichen Verdoppelung führt; andererseits ist seine Heimat ein Niemandsland, ein dyser-getisch wirkendes Dazwischen (da könnten die Parallelen mit dem Problem der Identitätssuche Jura Soyfers gezogen werden). Die Störung der integralen Einheit der Persönlichkeit wurde als Problem des Doppelgängers, als Kampf gegen sich selbst dargestellt. Aufgrund der Folterung wegen der Wahl zwischen der blauen und gelben Heimat leidet der junge Soldat an der kognitiven Dissonanz. Der Appell des Theophil ansprechenden lyrischen Erzählers, sich dem zu einer vollen Destruktion führenden Kampf gegen sich selbst sowohl in der Außen- als auch Innenwelt zu entziehen, wurde in dem Werk explizit dargestellt. Stop! Genug! Der Wettlauf mit dir selber Wird bestimmt ein totes Rennen. Blauer Theophil und gelber Lassen sich hier leider nicht mehr trennen Und die zwei Leben, die du gehabt, Die werden eins in dem Falle, Und dieses eine Leben trabt Zu einem Salto Mortale [12, 208].
Die Absurdität des konstruierten Falles mündet in die Schlussfolgerung und gipfelt in den letzten Zeilen des Liedes, wo der junge Soldat:
...zwei verschiedene Vaterländer Und nur ein Leben hat... [12, 208].
Die Idee des lyrischen Werkes, dessen Sujet sich auf der Ebene der metaphorischen Abstraktion entfaltet, kommt in der Form einer auf Allegorie basierenden Satire auf Politik der NS-Regierung in Deutschland, Krieg und seine zerstörerischen Folgen und Ausrüstung zum Ausdruck.
Wenn man die pazifistische Weltanschauung des jungen politisch engagierten Schriftstellers, seine antifaschistischen Ansichten, die in seinem Werk prävalierenden Abrüstungsideen in Betracht zieht, lässt sich die Hauptidee des Liedes, so wie Soyfers ganzen literarischen Nachlasses erkennen: Die Teilung der Menschen in „diesseits der Grenze und jenseits der Grenze", in Heimische und Fremde und der dadurch hervorgerufene Krieg sind absurd, genauso wie auch absurd ist die Struktur der Trennungslinie selbst. Das Leben jedes Menschen besitzt den höchsten Wert, denn
... diesseits der Grenze und jenseits der Grenze Steht derselbe Soldat... [12, 208].
Referenzen:
1. Arlt, Herbert, (Hrsg.), Jura Soyfer, Europa, multikulturelle Existenz. Internationales Kolloquium, Saarbrücken, 3.-5. Dezember - 1991, St. Ingbert: Röhrig Verlag - 1993.
2. Arlt, Herbert, Europäische Widerspruchsfelder und österreichische Identitätsbildung am Beispiel Jura Soyfers, in: Jura Soyfer, Europa, multikulturelle Existenz, hrsg. von Herbert Arlt, St. Ingbert: Röhrig Verlag - 1993, S.35-52.
3. Arlt, Herbert/Evelyn Deutsch-Schreiner, (Hrsg.), Jura Soyfer und Theater, Frankfurt-New York-Bern-Pa-ris-Wien: Peter Lang - 1992, - 165 Seiten.
4. Bauer, Markus, - 1959-: Die Grenze: Begriff und Inszenierung/hrsg. von Markus Bauer ... - Berlin: Akad.-Verl., 1997. - 349 Seiten.
5. Donec P. Die Grenze: Eine konzeptanalytische Skizze der Limologie/P. Donec. - Würzburg: Königshausen u. Neumann, - 2014. - 127 S.
6. Heselhaus, Clemens, - 1912-2000 [Hrsg.]: Die Lyrik des Expressionismus: Voraussetzungen; Ergebnisse und Grenzen; Nachwirkungen/hrsg. und mit erl. Anm. versehen von Clemens Heselhaus. - Tübingen: Niemeyer, -1956. - XIV, - 199 S.
7. Jarka, Horst, Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit, Wien: Löcker Verlag - 1987, - 569 Seiten.
8. Jarka, Horst, Realismus und Utopie. Das WerkJura Soyfers und die Wandlungen Europas, in:Jura Soyfer, Europa, multikulturelle Existenz, hrsg. von Herbert Arlt, St. Ingbert: Röhrig Verlag - 1993, - S.19-34.
9. Soyfer Jura. Kinets svitu. Dramy ta proza [The End Of The World. Drama and Prose]/Upor., per., pisliam. ta prym. Petra Rykhla. - Chernivtsi: Knyhy - KhKhI, - 2012. - 296 s.
10. Soyfer, Jura, Sturmzeit. Briefe 1931-1939. Hrsg. von Horst Jarka, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik - 1991, - S. 175.
11. Soyfer, Jura, Das Gesamtwerk. Hrsg. von Horst Jarka, Wien - München - Zürich: Europaverlag - 1980, - 924 S.
12. Soyfer, Jura, Zwischenrufe links. Lyrik. Hrsg. von Horst Jarka, Wien: Verlag für Gesellschaftskritik - 1991, - 303 S.