Научная статья на тему 'FUNKTION DES TRAUMS BEI DER BEARBEITUNG VON ALTERITäT IM WERK VON INGEBORG BACHMANN'

FUNKTION DES TRAUMS BEI DER BEARBEITUNG VON ALTERITäT IM WERK VON INGEBORG BACHMANN Текст научной статьи по специальности «Языкознание и литературоведение»

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Ключевые слова
АВСТРИЙСКАЯ ЛИТЕРАТУРА / AUSTRIAN LITERATURE / ИНГЕБОРГ БАХМАНН / INGEBORG BACHMANN / СОН / SLEEP / СНОВИДЕНИЕ / DREAM / ИНОЕ / СВОЕ / OWN / ЧУЖОЕ / ALIEN / OTHER

Аннотация научной статьи по языкознанию и литературоведению, автор научной работы — Сухина Елена Игоревна

В статье рассматривается поэтическое использование функции сновидения в изображении других стран в творчестве австрийской писательницы Ингеборг Бахманн. Раскрываются поливариантность значения слова “сон” в применении к ее литературному наследию и многоплановое проявление данного феномена. Анализируются содержание и особенности геокультурного аспекта представлений об “ином” и прослеживается взаимосвязь между феноменом сна и осмыслением “иного” как “своего” или “чужого”.

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Funktion des Traums bei Bearbeitung von Alterität im Werk von Ingeborg Bachmann

The article considers the poetic use of the function of dream in depicting other countries in the works of the Austrian writer Ingeborg Bachmann. It reveals the multiple implications of the word “dream” in the context of her literary legacy and various facets of its manifestation. The article analyzes the contents and peculiarities of the geo-cultural aspect of the concept of “other” and studies the correlation between the phenomenon of dream and representation of “other” as “own” or “alien”.

Текст научной работы на тему «FUNKTION DES TRAUMS BEI DER BEARBEITUNG VON ALTERITäT IM WERK VON INGEBORG BACHMANN»

Вестн. Моск. ун-та. Сер. 19. Лингвистика и межкультурная коммуникация. 2014. № 1

СОПОСТАВИТЕЛЬНОЕ ИЗУЧЕНИЕ ЛИТЕРАТУР И КУЛЬТУР

Elena Sukhina

FUNKTION DES TRAUMS BEI DER BEARBEITUNG

VON ALTERITÄT IM WERK VON INGEBORG BACHMANN

В статье рассматривается поэтическое использование функции сновидения в изображении других стран в творчестве австрийской писательницы Ингеборг Бахманн. Раскрываются поливариантность значения слова "сон" в применении к ее литературному наследию и многоплановое проявление данного феномена. Анализируются содержание и особенности геокультурного аспекта представлений об "ином" и прослеживается взаимосвязь между феноменом сна и осмыслением "иного" как "своего" или "чужого".

Ключевые слова: австрийская литература, Ингеборг Бахманн, сон, сновидение, иное, свое, чужое.

The article considers the poetic use of the function of dream in depicting other countries in the works of the Austrian writer Ingeborg Bachmann. It reveals the multiple implications of the word "dream" in the context of her literary legacy and various facets of its manifestation. The article analyzes the contents and peculiarities of the geo-cultural aspect of the concept of "other" and studies the correlation between the phenomenon of dream and representation of "other" as "own" or "alien".

Key words: Austrian literature, Ingeborg Bachmann, sleep, dream, other, own, alien.

„Der Ursprung dieser Geschichte" — heißt es paradigmatisch am Anfang der Erzählung „Drei Wege zum See" von der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann — „liegt im Topographischen"1. Der Ursprung dieser Forschung liegt ebenfalls im Topographischen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befindet sich die Alterität als geokultu-relles Phänomen, und zwar die Gestalten von anderen Ländern, Orten und Ortschaften und die damit verbundenen kulturellen Welten im literarischen Oeuvre von Ingeborg Bachmann.

Nichts scheint so einfach und klar, zugleich aber auch so kompliziert und rätselhaft wie das Andere. Das Andere, das an der Schnittstelle zwischen dem Eigenen und dem Fremden existiert und sich unter bestimm-

Сухина Елена Игоревна — канд. культурологии, ст. преподаватель кафедры региональных исследований факультета иностранных языков и регионоведения МГУ имени М.В. Ломоносова; тел.: 8-965-284-54-34, e-mail: elenasu@mail.ru

1 Bachmann I. Sämtliche Erzählungen. München; Zürich, 2006. S. 394.

ten Bedingungen mühelos ins Erstere oder ins Letztere verwandeln kann, übt eine unheimliche Faszination aus. Der geokulturelle Ausdruck des Anderen ist in diesem Hinblick besonders interessant, weil er die Projektionsfläche eröffnet, die außerhalb des eigenen geographischen Gebiets und des eigenen kulturellen Kreises liegt. Unter den Mitteln, die im Werk von I. Bachmann diese Alterität ausdrücken und erfassen lassen, zeichnet sich der Traum aus.

Bei der Ortsbestimmung und der Schilderung von anderen Ländern (England, Frankreich, Italien, Ägypten) entsteht häufig bei I. Bachmann die deutlich spürbare Atmosphäre des Traums. Der Traum lässt sich in diesem Bezug als Vision im Schlafzustand oder im verzauberten Zustand definieren. Einerseits, trägt die Traumatmosphäre das räumliche Szenarium in eine andere, „erträumte", Fläche über und dient auf diese Weise zur Distanzierung und Entfremdung des Ortes vom Leser. Andererseits, lässt uns der Traum die Entfremdung des angeblich „fremden" Landes überwinden und das Trauma der Begegnung mit dem geographisch, kulturell, sozial und geschichtlich gedeuteten Fremden heilen. Die Augen schließen sich in der Lyrik von I. Bachmann, um sich wieder im Schlaf zu öffnen, — diesmal jedoch mit schärferem Sehvermögen. Das Trauma wird ins Extrem getrieben, um im Traum überwunden zu werden. Bei der Analyse der im Traum versunkenen Landschaften soll in dem vorliegenden Artikel sowohl auf die früher veröffentlichten und bekannten Gedichte von I. Bachmann als auch auf ihre späteren, weniger erforschten Gedichte und Gedichtentwürfe eingegangen werden.

Die Traumatmosphäre, die bei der Begegnung mit der geokulturellen Alterität entsteht, umgibt das England-Bild im Gedicht „Abschied von England". Man könnte selbstverständlich einen biographischen Bezug des England-Bildes vermuten, den der Aufenthalt der Autorin im Dezember des Jahres 1950 in England nahelegt. In diesem Kontext wäre es sinnvoll, Hinweise auf die realen geokulturellen Gegebenheiten zu erwarten. Das lyrische Portrait von England wirkt jedoch zu illusorisch, „aus meinen Träumen gelöst" und von der Wirklichkeit entfernt und wird bei der ersten Annäherung aus einer überraschenden Perspektive mit geschlossenen Augen — also, im Schlaf — gemalt. Der Zustand, den I.Bachmann am Anfang des Gedichtes beschreibt, erinnert an den Moment des Einschlafens, in dem man sich fast gewichtslos fühlt und ruhig in der Luft schwebt:

ich war von deinem Himmel so hoch gehoben, so in Wolken, Dunst und in noch Ferneres gestellt, dass ich dich schon verließ, als ich vor Anker ging.

Die Frage, die beim Öffnen der Augen im Gedicht auftaucht: „War ich je hier?", stellt man sich normalerweise beim Aufwachen. Im ersten Augenblick der Rückkehr aus dem Traum in die Realität ist die Erinnerung

an die eben besuchte parallele Welt mit einer ungewöhnlichen Palette an Farben und Düften zwar immer noch da ist, aber sie verliert allmählich an Lebhaftigkeit und Glaubwürdigkeit. „ War ich je hier?" ist die Frage an der Schwelle vom Jenseits zum Diesseits. Die Traumatmosphäre, die I. Bachmann in diesem Gedicht schafft, trägt zur Verfremdung dieser Landschaft und zur Entfremdung des lyrischen Ich bei:

Du hast meine Augen geschlossen mit Meerhauch und Eichenblatt, von meinen Tränen begossen, hieltst du die Gräser satt; aus meinen Träumen gelöst, wagten sich Sonnen heran, doch alles war wieder fort, wenn dein Tag begann.

Im Gedicht fungiert England als eines der imaginären „Ursprungsländer"2, die man vergebens auf der gewöhnlichen geographischen Karte sucht und deren Umrisse tatsächlich in einem „Zauberatlas" der Literatur eingezeichnet sind. Die erträumte, „aus Worten gemachte" literarische Karte, die Ingeborg Bachmann in der vierten Frankfurter Vorlesung der geographischen entgegenhält, lässt sich zwar kaum wortwörtlich auf die wirklichen Ortschaften übertragen, aber sie stellt die damit verbundene Realität „wahrer, viel wahrer" dar3. Unter diese Traumgebiete bzw. — orte werden auch Italien und Frankreich eingereiht4. In der Definition der „Ursprungsländer", die aus dem Entwurf „[Zur Entstehung des Titels „In Apulien"]" hervorgeht, fallen die Worte „die versunkenen und die erträumten"5 auf. Die bergen in sich einen unmittelbaren Bezug auf den Traum im doppelten Sinne des Wortes: Traum als Vision im Schlafzustand, in den man versinken kann, und Traum als sehnlicher, unerfüllter Wunsch.

Das „Ursprungsland" England erweist sich als Vision, als phantastisches Geschöpf, als flüchtig-schattenhafte Projektion, die jedoch der scheinbaren Wirklichkeit weitgehend überlegen ist. Im Schlaf funktioniert alles anders, als es nach den Logikgesetzen tatsächlich funktionieren sollte. Das Treffen ist einem Abschied zum Verwechseln ähnlich, das Betreten des Bodens wird mit einer Himmelfahrt gleichgesetzt, das Träumen ist nichts Anderes als eine Lösung aus den Träumen, während sich die fremde Landschaft letzten Endes als Projektion der geistigen Heimat

2 Bachmann I. [Zur Entstehung des Titels „In Apulien"]. Entwurf // Bachmann I. Wferke. Bd 4 (Essays, Reden, Vermischte Schriften) / Hrsg. von Ch. Koschel, I. von Weidenbaum, C. Münster. München; Zürich, 1978. S. 305.

3 Bachmann I. Der Umgang mit Namen // Ibid. S. 239—240.

4 RußeggerA. Das Unbesagte. Zu Bachmanns Gedict „Abschied von England" // „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reitani. Wien; Köln; Weimar, 2000. S. 77.

5 Bachmann I. [Zur Entstehung des Titels „In Apulien"]. Entwurf // Bachmann I. Wsrke. Bd 4. S. 305.

entpuppt. Das Du entlarvt sich ebenfalls als dunkle Seite des Ich, wobei das lyrische Subjekt letzten Endes als Objekt der literarischen Konstruktion fungiert. Der Traum lässt uns diesem Geheimnis annähern und in diesen mysteriösen Zwischenraum, in dem das Fremde als Teil des Eigenen funktioniert, einen Blick werfen.

Im Schlaf werden alle Sinne behindert, besonders die Sicht im Sinne des Blickfeldes der Augen, deren Bedeutung in der Poetik von I. Bachmann kaum überzuwerten ist. Es stellt sich jedoch heraus, dass das konventionelle sachgebundene Sehen nicht mehr dazu fähig ist, die im Gedicht geschaffene Realität angemessen widerzuspiegeln. Der Traum, der alle sinnlichen Wahrnehmungen, darunter den Gesichtssinn, angeblich einschränkt, spielt in diesem Zusammenhang eine unerwartete Rolle, weil er über den Traum hinweg zur neuen Besinnung auf das Wesentliche und zur Neuentdeckung des Eigenen im angeblich Fremden führt. Vom Traum zum Trauma — und zurück — ist es nur ein Schritt.

Das Schlafszenarium entwickelt sich weiter bei der Schilderung von Frankreich, das ebenfalls trotz der offensichtlichen biographischen Bezüge und der realen topographischen Ortsangaben zu den erträumten Gebieten mit hohem Erkenntniswert gehört. In den Gedichten „Paris" und „Hotel de la Paix" entstehen schon wieder die verzauberten Nachtbilder. In „Paris" liest man,

Aufs Rad der Nacht geflochten schlafen die Verlorenen... <...> Auf den Wagen des Lichts gehoben, wachend auch, sind wir verloren...

Das Schlafmotiv wird jedoch anders behandelt, als in „Abschied von England". Vor den Augen des Lesers verbreitet sich eine im Schlaf versunkene Landschaft, der sich das lyrische Ich, oder eher gesagt „Wir", nicht zugehörig fühlt. Diese „zweistöckige" räumliche Konstruktion (geteilt in „unten" und „oben", „sie" und „wir", „Nacht" und „Licht") erfüllt eine strukturbildende Funktion, die sogar die Identität und den Status der erschienenen Figuren weitgehend bestimmt. Es handelt sich um die Unmöglichkeit des Schlafens bei den lyrischen Subjekten, die „auf den Wagen des Lichts gehoben sind" und „wachend" „verloren" sind. Der Schlaf ist weg — das einzige Verteidigungs- und Heilmittel gegen das Trauma des Ausgetrieben- und Verlorenseins.

Die Mission des Schlafes, die in diesem Gedicht nicht so richtig erfüllt werden kann, wird in den späteren, früher unveröffentlichten Gedichten und Entwürfen von I. Bachmann klar und deutlich artikuliert. Im Gedicht „Im Lot" liest man,

Eine andere Nacht. Was ins Lot kommt, vom vielen Schlaf und im Schlaf kommt, nimm das an. wird eines nachts dich heilen.

Im Gedichtentwurf „Ich habe die Gedichte verloren..." nimmt der Schlaf die zweite Stelle auf der Liste der wichtigen Verluste ein — unter den verlorenen Werten, die der Dichterin „abhanden gekommen sind". Der Verlust des Schlafes, dem eine fast sakrale Bedeutung als Traumund Erkenntniszustand, als Heilmittel gegen das Trauma zugeschrieben wird, ist ein Motiv, das sich mehrmals in den späteren Gedichten von I. Bachmann wiederholt. Dabei tauchen die Wörter „die Nacht" und „verloren" im engen Zusammenhang auf. Im Gedichtentwurf „Ich habe die Gedichte verloren..." heißt es,

Alles verloren, die Gedichte zuerst dann den Schlaf, dann den Tag dazu dann das alles dazu, was am Tag war und was in der Nacht, dann alls nichts mehr, noch verloren, weiterverloren bis weniger als nichts und ich nicht mehr und schon gar nichts war.

Die Nacht ist nur da, um den Zustand des Verlorenseins zu vertiefen, — ebenso, wie in den Paris-Gedichten von I. Bachmann. Die Gestalten von Frankreich sind mit dem Trauma der ewigen Heim- und Heimatlosigkeit aufs Engeste verknüpft. Um das Trauma des Selbst-, Raum- und Zeitverlustes als Ergebnis der katastrophalen geschichtlichen Erfahrungen zu bewältigen, versinken die lyrischen Subjekte im Gedicht „Paris" anstatt in den richtigen Schlaf in den verzauberten Tagtraum. „Vom Heimweh benommen bis ans fliehende Haar" wandern sie durch die Nacht. Vor diesem dunklen Hintergrund ist es bemerkenswert, dass der Lichtschimmer die im Gedicht geschilderte Landschaft durchdringt. Ob dieses Licht als positiv konnotiertes Phänomen, sogar als Hoffnungsstrahl, zu interpretieren ist (wie es häufig im literarischen Oeuvre von I. Bachmann der Fall ist) oder eher als potentielle Gefahr und verhüllte Drohung anzusehen ist (wie in der viel aussagenden Zeile aus dem Gedicht „Die Welt ist weit": „Jedes Licht hat mir das Aug verbrannt"), eröffnet es viele neue Deutungsdimensionen.

Im Italien-Zyklus setzt sich der mysteriöse Tagtraum an der leicht verletzbaren Grenze zwischen Dunkelheit und Licht fort. Im Gedicht „Das erstgeborene Land" liest man,

Vom Staub in den Schlaf getreten lag ich im Licht, und vom ionischen Salz belaubt hing ein Baumskelett über mir.

Da fiel kein Traum herab.

Im Laufe der Zeit erhalten die Italien-Bilder eine neue Prägung, als sich die Einstellung der Dichterin von der bedingungslosen Akzeptanz

und Verliebtheit und dem damit verbundenen positiv konnotierten Traumzustand zur nüchternen Betrachtung und der neuen tragischen Besinnung entwickelt. Dabei ändert sich die Bedeutung des Wortes „Traum". Der Traum wird allmählich immer häufiger nicht als gewünschtes und angestrebtes Ideal empfunden und gedeutet, das am markantesten in der gespenstischen Gestalt des „Landes meiner Seele" dargestellt ist, sondern eher als Vision. Die traumatische Erfahrung der Annäherung an die eigen erscheinende geokulturelle Alterität verarbeitet das lyrische Subjekt im Schlafzustand (im „Das erstgeborene Land") oder im verzauberten Visionen erregenden Traumzustand (im Zyklus „Lieder auf der Flucht").

Im „Zauberatlas" der Imagination findet man außer England, Frankreich und Italien auch Böhmen, das sowohl in den früher veröffentlichten Gedichten von Ingeborg Bachmann als auch in den späteren Entwürfen aus ihrem Nachlass fungiert. Es gilt als utopischer Ort für die „Wiederbegegnung mit jenem mythischen Habsburger Österreich"6, zu dem sich I. Bachmann in ihrem literarischen Oeuvre als zu ihrer geistigen Heimat bekennt. Dabei tritt der Leser geführt vom lyrischen Ich in einen mythischen, oder, eher gesagt, mythisierten Bereich, der mit der Traumatmosphäre umgeben ist. Es handelt sich um die historische und geographische Alterität, die in einer Vision verinnerlicht und angeeignet wird, — ein Traumgebiet, das zur Bewältigung des Traumas der destruktiven Erfahrungen der Epoche dient. Dabei fungiert die Nacht sehr oft als Zeit der Neuentdeckung und Neugewinnung des Selbst-Bereichs, als Zeit des Erwachens durch eine Vision: „Seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder...", heißt es im Gedicht „Prag Jänner 64". Es werden die Selbstentfremdung und die Entfremdung von der zeitlichen und räumlichen Realität überwunden. In der Nacht stellt das lyrische Subjekt zunächst seine längst eingebüßte Ganzkörperlichkeit wieder her und dann schafft es, über die körperlichen Grenzen hinweg einen größeren geokulturellen Raum zu umfangen und mit dieser mythischen Welt zum Einen zu werden. Eine ähnliche Entwicklung, diesmal jedoch in Bezug auf die geo-kulturelle Fremdheit, finden wir interessanterweise in den Afrika-Gedichten von I. Bachmann.

Die paradoxen Schlaflandschaften, die als „Zuflucht vor der Verzweiflung" dienen und gleichzeitig mit Tod, Krankheit und Untergang assoziiert werden7, werden dagegen in den Gedichten aus dem Nachlass „Wenzelsplatz", „Jüdischer Friedhof" und „Poliklinik Prag" geschaffen.

6 Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht, D. Gött-sche. Stuttgart; Weimar, 2002. S. 81.

7 Dazu: Höller H. // Bachmann I. Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von H. Höller. Frankfurt am Main, 1998. S. 42; Fried E. „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land". Über Ingeborg Bachmann — Erinnerung, einige Anmerkungen zu ihrem Gedicht „Böhmen liegt am Meer" und ein Nachruf. Berlin, 1983. S. 7.

Da kommt die Doppeldeutigkeit des Schlafes ans Licht, der einen Traum im Sinne des angestrebten Ideals und der erhofften Realität in sich birgt, zugleich aber auch als symbolischer Topos des Traumas konzipiert ist. In dieser Hinsicht lassen sich gewisse Parallelen zum widersprüchlichen England-Bild in „Abschied von England" ziehen.

Als Gegenpol zu Böhmen entstehen vor den Augen des Lesers die Bilder von Deutschland in den Gedichten aus dem Nachlass von I. Bachmann. Das sind die Landschaften, die häufig im Anschluss an Hans Höller8 als Antiutopie interpretiert werden, wo jegliche Möglichkeit zum Schlafen und zum Träumen im Lärm und Leiden vernichtet ist und wo das Trauma pur dargestellt ist. Die Gedichte „Schallmauer" und „In Feindeshand" (siehe auch die Variante „In Feindesland") bilden laut Hans Höller auf einem „kunstfernen Weg"9 die erschütternden Erfahrungen der lebensgeschichtlichen Katastrophe in Berlin ab. Die Abwesenheit der Traumatmosphäre führt dazu, dass die Alterität als traumatisierende Fremdheit empfunden wird. Das räumlich Nahe wird zum Fernen, das zeitlich Eigene verwandelt sich ins Fremde.

Einen ganz besonderen Stellenwert unter den früher nicht veröffentlichten Gedichten von I. Bachmann nehmen die Gedichtentwürfe ein, die im Zusammenhang mit ihrer Reise nach Ägypten und in den Sudan verfasst wurden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht die Fremde — so, wie sie vor- und nachempfunden wurde, — zunächst bei der Vorbereitung auf die Begegnung mit dem geokulturell Fernen und später bei der Bearbeitung der Reiseerfahrungen.

In den sogenannten Afrika-Entwürfen („Enigma", „Nacht der Liebe", „Terra Nova", „Immer wieder Schwarz und Weiß " und „Auflösung") entstehen schon wieder die Nachtbilder, die erträumte Seelenlandschaften auftauchen lassen. In diesem verzauberten Zustand, wo sich die Grenze zwischen dem Schlaf und dem Wachen verwischt, wirft man einen Blick in eine andere, sogar exotische Welt. In diesem magischen Raum wird das Trauma der westlichen Zivilisation geheilt. Das Profil des exotischen Fremden träumt sich aus der Nacht heraus, wobei der Traum im doppelten Sinne des Wortes — als Vision im Schlafzustand oder im verzauberten Zustand und als Anziehung an das gewünschte und angestrebte Ideal — interpretiert werden kann. Das Träumen schiebt das Bild des geokulturell Anderen in den Afrika-Gedichten von I. Bachmann so weit, wie möglich, in die Ferne und bringt dadurch den höchsten Grad von Entfremdung hervor. Das Träumen verwischt aber auch gleichzeitig die Grenzen zwischen den parallelen Welten — verschiedenen Realitäten, Rassen und Geschlechtern — und verwirklicht den Traum von deren Annäherung und der „Aneignung" des Fremden.

8 HöllerH. // Bachmann I. Letzte... S. 29—36.

9 Bachmann I. Ein Ort für Zufälle. Textstufe I: Frühe Entwürfe // Todesarten-Projekt. Kritische Ausgabe, unter Leitung von R. Pichl / Hrsg. von M. Albrecht, D. Göttsche. Bd I. München; Zürich, 1995. S. 174.

Schlussbemerkungen

Die Rolle des Traums als Vision im Schlafzustand oder im verzauberten Zustand bei der Begegnung mit dem geokulturell Anderen erweist sich als vielfältig und vielstufig. Als erste Stufe dient er in der Lyrik von I. Bachmann zur Distanzierung und Entfremdung der anderen Länder vom Leser und verwandelt sie in erträumte, fiktive „Ursprungsländer", die man kaum auf der gewöhnlichen Weltkarte finden kann. Die Traumatmosphäre entfernt, entfremdet und entwirklicht, so dass die Alterität als Fremdheit empfunden wird.

Je fremder das Land, desto traumatischer wird demzufolge die Erfahrung der Begegnung und Interaktion. Der Traum als wirksames Distan-zierungs- und „Enteignungsmittel" führt zum Trauma. In der nächsten Phase lässt der Traum aber selber — und darin besteht das Paradoxon — allmählich das Trauma der Entfremdung bewältigen. Er behindert die konventionelle Sicht, um ein neues, ungewöhnliches, schärferes Sehvermögen ins Leben zu rufen. Er entstellt das Äußere, um das Innere hervorzuheben. Er verändert die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit, um eine andere Realität zu entfalten, die „wahrer, viel wahrer" ist. Die Intensität des Traumas wird in der Lyrik von I. Bachmann ins Extrem getrieben, um im Traum wieder erlebt, überwunden und geheilt zu werden. Als Ergebnis wird die Alterität, sogar Fremdheit, als Zugehörigkeit empfunden.

Wenn der Schlaf aber weg ist, und damit auch der Traum, dann kommt die Entfremdung von sich selbst und von der Welt erst richtig zum Vorschein.

Bibliographie

Bachmann I. Der Umgang mit Namen // Bachmann I. Werke. Bd 4 (Essays, Reden, Vermischte Schriften) / Hrsg. von Ch. Koschel, I. von Weidenbaum, C. Münster. München; Zürich, 1978. Bachmann I. Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen.

Edition und Kommentar von H. Höller. Frankfurt am Main, 1998. Bachmann I. Sämtliche Erzählungen. München; Zürich, 2006. Bachmann I. [Zur Entstehung des Titels „In Apulien"]. Entwurf // Bachmann I. Werke. Bd 4 (Essays, Reden, Vermischte Schriften) / Hrsg. von Ch. Koschel, I. von Weidenbaum, C. Münster. München; Zürich, 1978. Bachmann-Handbuch: Leben — Werk — Wirkung / Hrsg. von M. Albrecht,

D. Göttsche. Stuttgart; Weimar, 2002. Fried E. „Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land". Über Ingeborg Bachmann — Erinnerung, einige Anmerkungen zu ihrem Gedicht „Böhmen liegt am Meer" und ein Nachruf. Berlin, 1983. Rußegger A. Das Unbesagte. Zu Bachmanns Gedict „Abschied von England" // „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort...": Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns / Hrsg. von P.-H. Kucher, L. Reita-ni. Wien; Köln; Weimar, 2000.

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