Natalija Ganina
BARDEWIKSCHER CODEX: PROBLEMSTELLUNGEN UND PERSPEKTIVEN DER FORSCHUNG1
Кодекс Бардевика - уникальная рукопись любекского права, созданная в 1294 г. по поручению Альбрехта фон Бардевика, главы любекской канцелярии, с 1308 г. - бургомистра Любека. Кодекс, отли_ чающийся красотой художественного оформления, имеет большое значение для средневековой немецкой правовой традиции и культуры. Кодекс Бардевика, со второй половины XX в. считавшийся утраченным, был обнаружен и атрибутирован Н. А. Ганиной и И. П. Мокре-цовой в собрании «Музеев города Юрьевца». Открытие позволяет обратиться к всестороннему изучению рукописи на новых основаниях с учетом теоретических достижений современной германистики. В статье обсуждаются основные проблемы исследования кодекса в контексте рукописной традиции любекского права конца XIII-XIV вв. и перспективы издания и реставрации рукописи.
Ключевые слова: кодекс Бардевика, Любек, любекское городское право, средневековые немецкие рукописи.
Die Wiederentdeckung einer auf das Jahr 1294 datierten Prachthandschrift des Lübecker Stadtrechts, des Bardewikschen Codex (B; Jurjewetz, 'Museen der Stadt Jurjewetz', früher Lübeck, Stadtarchiv, Hs. 734)2 gibt einen Anstoß zur Erforschung der Lübecker Rechtscodizes und bietet neue Problemstellungen und Perspektiven. Der im Auftrag des Lübecker Kanzlers (seit 1308 des Bürgermeisters) Albrechts von Bardewik angefertigte Codex galt seit 1945 als verschollen und war nur nach der Edition Johann Friedrich Hachs (Hach 1839) und nach einigen Abbildungen bekannt. In der Forschung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem in der maßgeblichen Edition des 'Lübischen Rechts' von Gustav Korlen (Korlen 1951) konnte die Handschrift nicht direkt berücksichtigt werden. Jedoch stellten theoretische Fortschritte der modernen Germanistik und Rechtsgeschichte die Forschungsansätze für künftige Erfassung des Codex bereit (Korlen 1945; Korlen 1951; Ebel 1971; Schneider 1987; Peters 1988; Wolf 2008; Greule 2012; Theiß, Wolf 2013; Wallmeier 2013).
1 Работа выполнена при поддержке гранта РГНФ № 14-06-00123.
2 Siehe Ganina, Mokretsova 2016; 2016a. Der Stadtname wird in deutscher Literatur als 'Jurjewetz'/'Jurjewez' transliteriert.
Zu den vordringlichsten Forschungsaufgaben nach der Entdeckung des Codex gehörten der materielle Befund im Vergleich zu den früheren Angaben (Hach 1839: 56-66; Archivbeschreibungen 1906 und 1936) und eine neue revidierte Beschreibung, in der auch die Identifizierung der dem Codex beigehefteten Urkundenabschriften und Fragmente geboten wurde (Ganina, Mokretsova 2016; 2016a). Von Bedeutung für weitere Behandlung des Codex sind einerseits die Feststellung, dass er sich in gutem Erhaltungszustand befindet und keine inhaltlichen Lücken aufweist, andererseits der Verlust seines ursprünglichen mit Leder bezogenen Holzeinbandes. Die Buchmalerei des Codex ist eine Entdeckung an sich, denn eine knappe Auswertung aus dem 19. Jahrhundert mit einigen schwarzweißen Abbildungen (Hasse 1897, Tafel A-C) konnte keinen richtigen Eindruck von der überaus schönen künstlerischen Ausstattung vermitteln. Das gilt besonders für die romanischen Initialen, die den größten Teil des Codex (bis zum Bl. 53r) verzieren.3
Ein reiches Forschungsfeld bildet das Problem der Schreiberhände, das den Codex in den Kontext der Lübecker Rechtsüberlieferung des ausgehenden 13.-14. Jahrhunderts neu einführen lässt. Durch den Schriftvergleich wird vor allem die Annahme Korléns (Korlén 1951:16f.) bestätigt, dass der Hauptschreiber des Bardewikschen Codex (Hand 1, Ende des 13. Jahrhunderts) mit dem Hauptschreiber des Kopenhagener Codex des 'Lübischen Rechts' (Kp; Kopenhagen, Danske Kongelige Bibliotek, Cod. Thott. 1003, 4o, i. J. 1294/1295) identisch ist.4 Weiterhin stellt es sich heraus, dass dieselbe Hand in der Lübecker Ratshandschrift (Ki;'Lübecker Kanzleicodex'; Kiel, Stadtarchiv, 79413, früher ohne Signatur, um 1282) bezeugt ist, und zwar in den Art. 170-237. Diese Hand in Ki wurde bei Korlén als 'Hand 2' bezeichnet (Korlén 1951:19), während die Schreiberidentität mit Hand 1 in B und Kp damals noch unbekannt blieb.
Auf späteren Stufen der Herstellung und Redigierung von Ki und B ist ein Schreiber mehrmals bezeugt, der als Lübecker Domvikar Helmich Timmo (1340er/1350er-Jahre) identifizieren werden kann. Dieser Schreiber nennt sich in dem von ihm angefertigten ersten 'Tidemann-Güstrowschen Codex' (T1; Kopenhagen, Danske Kongelige Bibliotek, Cod. Ledreborg 13, 2o, i. J. 1348 im
3 Die Blattzahlen werden im Folgenden nach der heutigen Nummerierung
(Ganina, Mokretsova 2016) zitiert. Für freundliche Hilfe habe ich Karl-Henrik Lund (Roskilde) zu danken.
Auftrag des Lübecker Bürgermeisters Tidemann Güstrow) helmicus thymmonis en vicarius in der kerken to deme Dome (T1, Kolophon in Rot, Bl. 12r). Von ihm stammt auch das Zwillingsexemplar derselben Handschrift, der zweite 'Tidemann-Güstrowsche Codex' (T2; Lübeck, Stadtarchiv, Hs. 735, verschollen; Korlen 1951: 23). Helmich Timmo wurde bei Korlen als 'Hand 8' in Ki bezeichnet (Art. 250-257 und Register, vgl. Hach 1839: 64), wobei die von dieser Hand durchgeführte inhaltliche Redigierung im Art. 64 von Ki und weitere Korrekturen hervorgehoben wurden (Korlen 1951: 19). Die Untersuchung zeigt, dass auch die Art. 238f. in Ki von dieser Hand stammen.
Helmich Timmo ('Hand 2' mit den spitzwinkligen v und w) war an B ab den Art. 230f. (Bl. 55ra)5 beteiligt, seine Hand lässt sich auch in den parallel zu Ki 64 eingetragenen Korrekturen in B 9 erkennen (zum Inhalt s.u.). Von Timmo wurde auch das erste (neue) Register mit römischen Zahlen in B (Bl. 74va-80vb) geschrieben,6 vgl. die Schrift der Register in Ki und T1. Dass die Artikelnummern mit römischen Zahlen in schwarzer Tinte am Rande in B von derselben Hand stammen, wurde bereits bei Hach beobachtet (Hach 1839:60). Jetzt wird offensichtlich, dass die Artikelnummern in Ki ihnen identisch sind. Der weitere Vergleich zeigt, dass die Ratswahlordnung in B (Bl. 94vb-95rb) und Ki von der gleichen Hand abgeschrieben wurde, und zwar von Helmich Timmo. Korlen meinte, dass bei der Abschrift der Ratswahlordnung in Ki eine andere Hand aus dem späten 13. Jahrhundert als 'Hand 8' um 1350 (Helmich Timmo) beteiligt wäre. Am ehesten handelt es sich nur um die zeitliche Distanz, weil die Abschriften der Ratswahlordnung in B und Ki der Schrift der von Timmo zusammengestellten Register in B, Ki und T1 durchaus vergleichbar sind. Dies alles weist auf aktive Beteiligung des Lübecker Domvikars Helmich Timmos an der Gestaltung von Ki und B hin, der beide Codizes fortsetzte und parallel redigierte.
Die Schriftuntersuchung von B lässt einen weiteren nicht unbedeutenden Schreiber aufspüren, der weiterhin als 'Hand 3' zu bezeichnen ist. Typisch für diese Hand sind schmale Buchstaben, die weich abgerundeten v und w, der zierliche untere Haarstrich des h und die ligaturenartigen tt und pp. Von dieser Hand wurden die
5 Vgl. eine vorläufige Einschätzung bei Ganina, Mokretsova 2016: 55: „ab Art. 232".
6 Dieses Register stimmt inhaltlich mit dem Register von Ki überein und passt nicht zu den Überschriften der Artikel von B, sondern zu denen von T1 und T2 (Hach 1839: 60).
Überschriften zu den Art. 228, 229, 232, 233 und 235 ausgeführt (der Text der Artikel jedoch von Helmich Timmo), Art. 234, 236 und 237 mit den Überschriften, das zweite (alte) Register mit gotischen Buchstaben in B (Bl. 84va-87vb, außer drei Rubriken auf Bl. 87vb) und die Paginierung mit kleinen gotischen Initialen in roter Tinte am oberen Rande in B. Von 'Hand 3' kann auch in der nur in B erhaltenen Abschrift des Ratseids (Bl. 95rb)7 mit Sicherheit identifiziert werden. Dies lässt die Annahme der früheren Forschung revidieren, dass beide Abschriften von derselben Hand sind (H0jberg Christensen 1918: 48; Korlen 1945: 159f). Die Abschrift der Ratswahlordnung stammt von Helmich Timmo, während 'Hand 3' bei der Abschrift des Ratseids sowie in den späteren Artikeln des B als ein 'Gefolgsmann' des Domvikars vorkommt. Die Erwägungen zur sprachlichen Problematik der Ratswahlordnung und des Ratseids (Korlen 1945: 159f.) können in diesem Zusammenhang präzisiert werden.
Diese Beobachtungen verleihen den Beziehungen der Lübecker Rechtshandschriften neue Dimensionen.8 Korlen hatte völlig recht, als er die Idee zeitlicher Weiterführung der Codizes im seinem Stemma des 'Lübischen Rechts' ausdrücklich betonte (Korlen 1951: 42). Ausführliche Untersuchungen der Schreiberhände in den Lübecker Codizes aus dem 13.-14. Jahrhundert können weitere Nachweise dafür erbringen.
Der auf die 1280er-Jahre datierte Ki wird in der Forschung als Vorlage von B angesehen (Korlen 1951: 42, 136, Ebel 1971: 204). In der kritischen Ausgabe des 'Lübischen Stadtrechts' wurde Ki zur Leithandschrift gewählt (Korlen 1951: 82-188). Da B damals unzugänglich war, wurde er in den Apparat nicht aufgenommen, obwohl Korlen die Edition Hachs (Hach 1839: 246-376) in seiner Konkordanztafel und in den Angaben der Parallelstellen berücksichtigt hat (Korlen 1951: 26-32, 82-188). Die Überlieferungszusammenhänge des B können nach der Zusammenstellung Korlens geklärt werden, in der die Lesarten des Elbinger (Danzig/Gdansk, Wojewodzkie Archiwum Panstwowe, 369, 1/1, früher Elbing / Elblqg, Stadtarchiv, ohne Sign. [1], ca. 1275), Revaler (Tallinn, Tallinna Linnaarhiiv, f. 230 Cm 6, i. J. 1282), Kieler (Ki) und Kopenhagener Codex (Kp) berücksichtigt werden (Korlen 1951: 36-
7 Den neuen Abdruck des Ratseids siehe bei Ganina, Mokretsova 2016b: 64.
8 Zu den Schreiberhänden siehe ausführlicher Ganina 2017, in Vorbereitung.
41). Der Vergleich der Lesarten nach der Handschrift des B zeigt, dass B in überwiegender Anzahl der Fälle Ki folgt und meistens nur durch die Orthographie von B bedingten Varianten aufweist (Ganina 2017, in Vorbereitung).
Die Heranziehung von B zum Verzeichnis der Lesarten lässt markante Fälle der Redigierung beider Codizes auffinden. So wird bei Korlén hervorgehoben, dass Ki im Art. 64 nach Ausweis von Kl (Kolberg, Ratsarchiv, verschollen; i. J. 1297) ursprünglich mit E und R übereinstimmt hatte, aber danach von 'Hand 8' korrigiert wurde, während Kp eine individuelle Variante bietet (Korlén 1951:38). Der Art. 64 in Ki lautet wie folgt (unterstrichen wird die Korrektur von 'Hand 8', d.h. von Helmich Timmo): De twe echte wif nimt
Nimt ienech man hir en echte wif. de anders war en echte wif heuet. vnde de gelaten heuet. wert he des vor wunnen. he schal dat wedden vnde beteren mit sineme hoghesten. vnde se scal nomen to#e vordele al dat gût dat se to eme ghebracht. Vortmer scal se nemen de helfte des mannes gûdes. Des ghelyk scal dat recht gan mit ener vrowen. de vorwunnen wert mit twen echten mannen.9
Der Parallelartikel 9 in B sieht folgendermaßen aus (unterstrichen wird die spätere Korrektur auf Rasur): De twe echte wif nimpt
Nimt ienech man hir en echte wif. de anders war en echte wif heuet. vnde de ghelaten heuet. wert he des vor wunnen. he schal dat wedden vnde beteren mit sime hoghesten. vnde se schal nemen to vordele al dat ghut. dat se to eme brachte. vort mer schal se nemen de helfte des mannes ghudes. Des ghelyk scal dat recht gan mit ener vruwen. de vorwunnen wert. mit twen echten mannen (Bl. 2v)
Diese Redigierung in B lässt die Hand Helmich Timmos erkennen, wofür besonders das typische spitzwinklige v in vnde beteren spricht. Der Beleg lässt schließen, dass Helmich Timmo diesen Artikel in der Lübecker Ratshandschrift Ki korrigiert hat und in B aus Ki übernommen. In seinem Nachtrag in B folgt Timmo der Orthographie der Handschrift: Er verwendet die für B übliche Schreibung gh gegenüber g in Ki und im Unterschied zu seinem Nachtrag in Ki benutzt hier keine Diakritika und ahmt gewissermaßen die Schrift von Hand 1 nach. Mit Rücksicht darauf, dass Helmich Timmo in Ki und in den Nachträgen in B die Diakritika häufig verwendet (zu Ki vgl. Korlén 1951: 45f.), kann
9 Zitiert nach Korlen 1951: 101. Die spätere Korrektur wird dort in kleinerer Schrift markiert.
man vermuten, dass er bei der Redigierung des Art. 9 am Anfang von B das ganze 'Layout' des Codex behalten wollte. Nur die Form scal gegenüber schal in B verrät den Eingriff des späteren Schreibers. Insgesamt ist die Korrektur so schonend, dass sie vom ursprünglichen Text nur durch die Rasur absticht.
Die entsprechende Stelle in Kp 62 lautet: [he schal] der lesten vortien. vnde de schal sines vortien. vnde se schal nemen to vordele al dat gut. dat se to eme brachte. vortmer schal se nemen de helfte des mannes gudes. De man scal oc beteren der stat. vnde deme richte sine bosheit. mit tein marken suluers. ne heuet he der nicht. men schal ene setten up den schuppestol. vnde schal ene wisen vt der stat.10 Mit Korlen: „Kp steht also hier allein mit dem Zusatz unde schal ene wisen ut der stat und hat wie in Art. 2 setten up den schuppestol für werpen in den schuppestol" (Korlen: 1951:38), „E, R, Kl wie Kp, doch fehlt ene wisen vt der stat, und für setten up steht werpen in." (Ibid.: 101).
Daraus ergibt sich, dass die Wendung werpen in (E, R und Kl) im Vergleich zu setten in (Kp, 1294/1295) zur älteren Überlieferungsstufe gehört. Der ausradierte Text in B 9, dessen Spuren auf Bl. 2v noch zu beobachten sind, kann so rekonstruiert werden: <der lesten vortien. vnde de schal sines vortien> (Bl. 2va) [...] <De man schal oc beteren der stat. vnde deme richte sine bosheit. mit tein marken suluers.> ne heuet he der nicht. men schal ene werpen in den schuppe stol. (Bl. 2vb)11 Die ursprüngliche Redaktion des Art. 9 in B (E, R, Kl, Ki Hand 1, B Hand 1) dürfte wie folgt aussehen: Nimt ienech man hir en echte wif. de anders war en echte wif heuet. vnde de gelaten heuet. wert he des vor wunnen. he schal der lesten vortien. vnde de schal sines vortien. vnde se schal nemen to vordele al dat gut. dat se to eme brachte. vortmer schal se nemen de helfte des mannes gudes. De man schal oc beteren der stat. vnde deme richte sine bosheit. mit tein marken suluers. ne heuet he der nicht. men schal ene werpen in den schuppe stol.
Man kann annehmen, dass auch einige Artikel in Ki und B infolge der Redigierung beider Codizes von Helmich Timmo in den 1340er/1350er-Jahren durchstrichen wurden. Aus diesen Beispielen wird ersichtlich, dass die Textgeschichte von B sowie von anderen
10 Zitiert nach Korlen 1951: 101.
11 In eckigen Klammern werden die Konjekturen für die Textstellen angegeben, wo der ursprüngliche Text völlig ausradiert und neu beschrieben ist. Die ursprüngliche Textstelle ne heuet [...] schuppe stol kann in Vergrößerung gelesen werden.
Lübecker Codizes mit der Problematik der unmittelbaren Handschriftenbeziehungen aufs engste verbunden ist.
Bemerkenswert für die Textgeschichte sind die gemeinsamen Lesarten von R, B und Kp, auch von B und Kp gegenüber Ki. Wie Korlen hinweist, „wichtig ist [...] 114b, wo R und Kp gemeinsam die Korruptel Steruet eneme manne der kindere oder sin wif gegenüber E, Ki, Kl Steruet eneme manne de kindere heuet sin wif' (Korlen 1951: 38). In Ki lautet die Passage: Steruet eneme manne de kindere heuet. sin wif, während der Schluss de kindere heuet durchstrichen ist. Kl hat hier Steruet eneme manne sin wif. In B 191 finden wir wie in R und Kp Steruet eneme manne de kindere oder sin wif. Weiterhin haben E, R, Ki im Art. 42 De be grepen wert bi enes echten mannes wiue die Lesart 42a per priapum gegenüber bi deme pintte in B 8 und Kp 42. Es handelt sich um die Strafe, bei der der Schänder eines fremden Ehebettes auf solche Weise durch die Stadt geführt werden muss. In Ki steht noch der 'verhüllende' lateinische Ausdruck, während B und Kp eine volkssprachige Neuerung bieten.
Die für B und Kp gemeinsamen Varianten scheinen auf der Mikroebene in den Jahren 1294/1295 zu entstehen, vgl. nabur in B 162 und Kp 8 gegenüber nahgebur in Ki 8 (neben nabur in Ki 68, 69, 81, 141, 150). Die Korruptel Steruet eneme manne der kindere oder sin wif in R, B und Kp ist hingegen schwieriger zu erklären, weil R auf das Jahr 1282 datiert wird. Von Bedeutung ist die Hypothese Korlens, dass der Fehler auf eine nicht erhaltene Lübecker Ratshandschrift *L2 zurückgeht, die als Vorlage für R, Ki und Kp diente, wobei der Fehler in Ki bei der Abschrift korrigiert wurde (Korlen 1951: 40). Dementsprechend muss auch B seine Vorlage in *L2 und nicht in Ki haben - die Idee, die Korlen in Abwesenheit der Handschrift nicht äußern durfte (Korlen 1951:40). Auch die Redigierung Helmich Timmos wird von Korlen dadurch erklärt, dass „der Redaktor von B neben Ki auch L2 zur Hand gehabt haben muss" (Ebd.) Es sei jedoch bemerkt, dass *L2 und Ki nach Korlen fast identisch waren, weil Ki an sich eine sorgfältige Abschrift von *L2 war (Korlen 1951: 39). Die Wiederentdeckung des Bardewikschen Codex lässt die vielfältigen Zusammenhänge der Lübecker Rechtshandschriften erneut beobachten und erforschen.
Die Grundlagen für künftige sprachliche Untersuchung des B wurden bei (H0jberg Christensen 1918; Korlen 1951: 44-80) gelegt. Der Fund ermöglicht die Behandlung kennzeichnender Erscheinungen der Orthographie, der Laut- und der Formenlehre nach der Handschrift. Das Problem der Orthographie ist dabei von besonderer
Bedeutung, weil in der Ausgabe Hachs die Diakritika im Schlussteil des Codex nicht wiedergegeben wurden. Die Auswertung zeigt, dass die Diakritika in den Art. 232 und Art. 240 sporadisch auftauchen, während die Art. 242-250 und das neue Register Helmich Timmos aus den 1340er/1350er-Jahren sich durch ein entwickeltes System der diakritischen Zeichen unterscheiden und mit den Art. 250-257 und dem Register in Ki orthographisch übereinstimmen. Veröffentlichungen zur Sprache des B sind vorgesehen.
Die Buchmalerei des Codex ist eine einzigartige Erscheinung in der Lübecker Rechtsüberlieferung. Die Parallelen zum Stil der romanischen Initialen in der westfälischen Buchmalerei wurden bei (Ganina, Mokretsova 2016: 61-64) mit Stütze auf die Einschätzung von Jeffrey Hamburger geboten, aber das Problem bedarf weiterer Erforschung. Albrecht von Bardewik hat für die Ausstattung des Codex Blattgold und qualitative Farbstoffe besorgt. Es wäre aufschlussreich, die Handschrift durch mikroskopische Analyse zu untersuchen, um eine tiefere Einsicht in die Farbstoffe und Werkmethoden der Miniatoren zu gewinnen.
Die wichtigsten und zugleich umfangreichsten Forschungsdesiderate stellen eine Faksimile-Edition der Handschrift und eine vollständige kritische Textedition dar. Die Restaurierung des Codex ist vor allem wegen des fehlenden Einbands notwendig, wodurch auch die Möglichkeit entsteht, die Digitalisierung des Codex in hoher Qualität auf der Anfangsstufe durchzuführen. Die Restaurierung des Codex ist von Inna Mokretsova geplant (Moskauer Staatlichen Forschungsinstitut für Restaurierung), während die Faksimile-Edition und die mit Untersuchungen begleitete Textedition von uns in Zusammenarbeit mit einem Forschungskreis der Philologen, Historiker und Kunsthistoriker aus Deutschland, England und den USA vorbereitet wird..
Literatur
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Ганина, Н. А., Мокрецова, И. П. 2016b: Кодекс Бардевика в историко-культурном контексте Любека конца XIII в. XXVIII Чтения памяти чл.-корр. АН СССР В.Т. Пашуто «Восточная Европа в древности и средневековье. Письменность как элемент государственной инфраструктуры». Москва, ИВИ РАН, 20-22 апреля 2016 г. M.
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Natalija Ganina. Bardewikscher Codex: Problemstellungen und Perspektiven der Forschung
The 'Bardewikscher Codex' is a unique manuscript of the Lübeck law written in 1294 on behalf of Albrecht von Bardewik, head of the Lübeck chancellery, mayor of the city since 1308. This codex stands out because of its lavish design and is of great importance for medieval German law and culture. The codex, which was thought to have been lost since the second half of the 20th century, was discovered by Natalija Ganina and Inna Mokretsova in "Museums of Yuryevets city" collections. The discovery gives us an opportunity to develop research of the manuscript on a new basis with due account for theoretical advances of modern German studies. This article discusses the main issues of the codex studies in the context of Lübeck law manuscript tradition from the late 13th to the 14th century and prospects of edition and restoration of the manuscript.
Key words: 'Bardewikscher Codex', Lübeck, Lübeck city law, medieval German manuscripts.