HORIZON 6 (2) 2017 : I. Research : C. Serban : 30-45
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ÉTUDES PHÉNOMÉNOLOGIQUES
DIE ANTHROPOLOGISCHE WELT 1
CLAUDIA SERBAN
PhD in Philosophy, Assistant Professor with Tenure. University of Toulouse Jean Jaurès, Department of Philosophy. 31058 Toulouse, France.
E-mail: claudia.cristina.serban@gmail.com THE ANTHROPOLOGICAL WORLD
The paper examines the possibility, the meaning, and the legitimacy of understanding Husserl's concept of the life-world as an anthropological world. This understanding lies upon the fact that the life-world is always given to us as a human world, and invites to inquire into the way I always necessarily experience myself as a human person. Nevertheless, even though it is by becoming human that the I enters the world, the self-experience of the human person coincides neither with its self-experience as a transcendental ego, nor with its experience of the life-world. Thus, the question of the anthropological world deeply concerns the relationship between phenomenology as a transcendental philosophy and anthropology. This means that a positive comprehension of the life-world as an anthropological world will only emerge when anthropology will no longer be considered as the mortal enemy of transcendental phenomenology, and consequently the idea of a transcendental anthropology will no longer seem inconsistent or absurd. This demonstration is led by exploring some of Husserl's late texts, such as the famous 1931 conference on "Phenomenology and Anthropology" and several manuscripts from the 30s published mainly in the XVth and xXlXth volumes of the Husserliana. The interest of speaking of an anthropological world thus appears to lie in the emphasis on the historicity and on the cultural impregnation of the life-world. Ultimately, the anthropological world is the life-world considered in its irreducible facticity; and this allows us to view the ontology of the life-world also as an ontology of facticity. Nevertheless, the specific requirements of transcendental phenomenology will always preserve an irreducible tension between transcendental (rather than human) life and its worldly dimension and horizon.
Key words: Husserl, phenomenology, anthropology, transcendental philosophy, subjectivity, humanity, life-world, history, culture.
© CLAUDIA SERBAN, 2017
1 Ich möchte mich bei Pierre Buhlmann bedanken, der mir bei der deutschen Fassung dieser Arbeit eine große Hilfe war.
АНТРОПОЛОГИЧЕСКИЙ МИР
КЛОДИЯ СЕРБАН
Доктор философии, доцент.
Тулузский университет им. Жана Жореса, департамент философии. 31058 Тулуза, Франция.
E-mail: claudia.cristina.serban@gmail.com
В статье рассматриваются возможность, значение и оправданность понимания гуссерлевского понятия жизненного мира как мира антропологического. Это понимание определяется тем, что жизненный мир всегда дан нам как человеческий мир, и инициирует рассмотрение того, каким образом я необходимо имею опыт о себе как человеческой личности. И все же, хотя оно связано со становлением человека, состоящим в том, что Я вступает в мир, опыт себя человеческой личности не совпадает ни с опытом себя как трансцендентального ego, ни с его опытом жизненного мира. Стало быть, вопрос об антропологическом мире затрагивает на глубинном уровне отношение между феноменологией как трансцендентальной философией и антропологией. Это означает, что позитивное постижение жизненного мира как мира антропологического сформируется, только если антропология перестанет в дальнейшем рассматриваться как смертельный враг трансцендентальной феноменологии, а значит, идея трансцендентальной антропологии не будет более казаться непоследовательной или абсурдной. Это мотивировало рассмотрение некоторых поздних текстов Гуссерля, таких, как знаменитый доклад 1931 г. «Феноменология и антропология» и некоторые рукописи 30-х годов, опубликованные по большей части в томах XV и XXIX Гуссерлианы. Интерес в обсуждении антропологического мира, таким образом, состоит в том, чтобы акцентировать историчность и культурную насыщенность жизненного мира. Наконец, антропологический мир является жизненным миром, рассмотренным в его нередуцируемой фактичности, что позволяет нам видеть онтологию жизненного мира также и как онтологию фактичности. Так или иначе, специфические требования трансцендентальной феноменологии всегда будут сохранять напряжение между трансцендентальной (скорее, чем человеческой) жизнью и ее мирским измерением и горизонтом.
Ключевые слова: Гуссерль, феноменология, антропология, трансцендентальная философия, субъективность, человечность, жизненный мир, история, культура.
Im Folgenden soll die Frage behandelt werden, inwiefern und aus welchen Gründen die Lebenswelt als eine anthropologische Welt zu verstehen ist. Diese Redewendung war von Reinhold Smid, Herausgeber der Husserliana XXIX, als Titel für ein Arbeitsmanuskript von August 1936 (Text n° 28) vorgeschlagen worden, wobei jedoch der Ausdruck „die anthropologische Welt" selbst in diesem Text nicht vorkommt. Wohl aber spricht Husserl (1993, 324) dort in der Tat von einer Menschenwelt („Jede für mich und dann für jedermann erdenklichanschauliche Welt ist Menschenwelt"), und betont, dass „Die faktische Welt [...] zur Evidenz gebracht [ist] als humane Lebenswelt" (Husserl, 1993, 328-329). Dieser Anspruch ist hierbei nicht so zu verstehen, als ob es beispielsweise eine „Tierwelt" nicht geben könne, sondern bedeutet vielmehr, dass mein spezifischer
Zugang zur Lebenswelt, meine Erfahrung der Lebenswelt, diese sodann als Menschenwelt oder als humane Lebenswelt bestimmt. Deswegen muss aber die Frage nach der anthropologischen Welt die doppelte Frage meiner Erfahrung der Lebenswelt und meiner Erfahrung meiner selbst als menschliche Person einschließen, insofern als „Die Transzendentalphilosophie [...] notwendig auf mich und von mir aus auf eine, meine Menschheit bezogen [ist]" (Husserl, 1993, 332). Das eigentliche, in diesem Rahmen zu stellende Problem ist somit das der wesentlichen und doch nicht selbstverständlichen Verflechtung zwischen dem Transzendentalen, dem Weltlichen und dem Anthropologischen. Mein Beitrag soll dieses Problem behandeln und so zu dessen Klärung beitragen.
Die anthropologische Welt als Schlüsselgestalt der Lebenswelt zu begreifen, soll keineswegs besagen, einer Anthropologisierung der Problematik der Lebenswelt Vorschub zu leisten. Es ist wohl bekannt, dass die anthropologische Abdrift der zeitgenössischen Philosophie bei Husserl bis in die neunzehnhundertdreißiger Jahre hinein einen gleichbleibend starken Widerstand hervorgerufen hat. Die Zielstellung des späten Husserls ist somit nicht, eine anthropologische Übertragung seiner transzendentalen Phänomenologie zu billigen, sondern vielmehr, die anthropologische Bedeutung und Reichweite des Transzendentalen zu enthüllen. So ist es also eben die progressive Vertiefung der transzendentalen Problematik, die allmähliche Besinnung auf die transzendentale Subjektivität, die Husserl zur Perspektive eines anthropologischen Vollzugs seiner Phänomenologie geleitet hat. Die Problematik der Lebenswelt ist hierbei zentral, insofern als „Mensch sein" für das transzendentale ego genau das heißt: nämlich in der Welt leben, als menschliches Subjekt existieren. Die anthropologische Welt ist somit die Welt, in der das ego als Mensch geboren ist und sterben wird, was wiederum in gewissem Maße erklärt, warum bei Husserl Geburt und Tod nur zu dem weltlichen und menschlichen Leben des egos gehören (darauf wird später noch zurückzukommen sein).
Um sowohl die Gründe als auch die Folge dieses Ineinander-Verwobenseins der weltlichen mit der anthropologischen Dimension des subjektiven oder intersubjektiven Lebens zu erforschen, werde ich zunächst die Art und Weise, wie diese sachliche Beziehung gewoben ist, in seiner negativen Bedeutung betrachten. Sodann soll die positive Aneignung und Wiedergewinnung dieser Verwandtschaft untersucht werden, die dem Ausdruck „die anthropologische Welt" einen strengen und bereichernden Sinn gibt. Dies wird anhand vieler von Husserls späten Texten geschehen, die größtenteils von Iso Kern im dritten Band Zur Phänomenologie
der Intersubjektivität (Husserl, 1973b) veröffentlicht worden sind. Zuletzt soll die Bedeutung dieser Durchbrüche für den Sinn der transzendentalen Philosophie und für die Trageweite der Thematisierung der Lebenswelt herausgearbeitet werden.
1. PHÄNOMENOLOGIE UND ANTHROPOLOGIE
Auf den ersten Blick scheint es, als übersähe die Rede von einer anthropologischen Welt geflissentlich die Trennung, die Husserl zwischen Phänomenologie und Anthropologie und in aller Deutlichkeit vollzieht. In der Tat stellt der berühmte Vortrag von 1931 über „Phänomenologie und Anthropologie" anschaulich Husserls kritische Stellung gegenüber allen Versuchen, transzendentale Philosophie als eine Anthropologie zu lesen, dar. Absicht dieser Kritik ist es, die Auflösung des Transzendentalen im Empirischen zu bekämpfen, und dafür polemisiert Husserl offen gegen die zeitgenössische Anthropologisierung der Philosophie bei Dilthey und Scheler. Aber noch grundsätzlicher ist diese polemische Spitze gegen Heidegger gerichtet, und bezeugt dergestalt die gründliche Enttäuschung, die die Lektüre von Sein und Zeit bei Husserl hervorgerufen hat. Wie die Randbemerkungen in seinem Handexemplar des Buches deutlich zeigen, leistet die existentiale Analytik Heideggers für Husserl nichts anderes als eine „anthropologische Übertragung" seiner transzendentalen Problematik. Nun könnte man zu der Auffassung gelangen, dass Husserl in diesem Vortrag lediglich eine gewisse Form von Anthropologie verwirft, nämlich die, die als eine „Naturalisierung" seiner Phänomenologie gelten könnte, und die die Scheidungslinie zwischen dem Transzendentalen und dem Empirischen, oder auch zwischen der natürlichen und der phänomenologischen Einstellung verwischt. Aber das Nachwort zu den Ideen I, 1930 veröffentlicht, verweigert sich ebenfalls ausdrücklich dem, was Husserl dort als „transzendentale[n] Anthropologismus" bezeichnet und als eine Art von Psychologismus versteht. Gegen Kant, der die Ansprüche der theoretischen Vernunft und die Reichweite unserer Anschauung und unserer reinen Begriffe durch die Klausel: „für uns Menschen" begrenzt hat, nimmt Husserl keine anthropologische Einschränkung bezüglich der Geltung unserer Erkenntnis an. Der transzendentale Anthropologismus, für den die transzendentalen Strukturen unserer Erfahrung und Erkenntnis nur „für uns Menschen" gelten, ist aus dieser
2 Eine ausführliche Besprechung dieser problematischen Trennung zwischen Phänomenologie und Anthropologie bei Husserl war von Blumenberg im ersten Teil seiner Beschreibung des Menschen (Blumenberg, 2006) gegeben.
Perspektive noch schädlicher als die Kapitulation der Philosophen vor den Erfolgen empirischer Anthropologie.
Es ist dieselbe Opposition zum Relativismus, somit dieselbe Sorge um die „strenge[...] Wissenschaft", die sich im Vortrag über „Phänomenologie und Anthropologie" ausdrückt. In diesem Vortrag zögert Husserl nicht, eine scharfe Unterscheidung zwischen diesen philosophischen oder theoretischen Erkenntnisarten zu formulieren, und von einer „prinzipielle[n] Entscheidung zwischen Anthropologismus und Transzendentalismus" als „zwei gegensätzlichen Richtungen" (Husserl, 1989, 165, 164) zu sprechen. In seiner doppelten Gestalt, nämlich als konstitutive und als eidetische, fordert die Phänomenologie das Übersteigen des Menschlichen in seiner konkreten, psychischen und weltlichen Realität. So erläutert Husserl: „Jetzt aber, wo [die Erfahrungswelt] in Frage gestellt bleiben muss, ist auch mein Sein als Mensch — unter Menschen und sonstigen Realitäten der Welt — mit in Frage, mit der Epoche unterworfen"; was wiederum bedeutet, dass „[ich] [a]ls Ego [...] für mich nicht der Mensch in der seienden Welt [bin], sondern das die Welt hinsichtlich all ihres Seins und somit auch Soseins in Frage stellende Ich" (Husserl, 1989, 171). Meine Menschheit und meine Weltlichkeit werden gleichzeitig in der transzendentalen Betrachtung widerrufen: auch in diesem Sinn scheint sich das transzendentale Feld nur mit dem Entzug der anthropologischen Welt zu eröffnen. Eine berühmte Stelle des Vortrags von 1931 spricht diese innere Verwandtschaft der weltlichen und der anthropologischen Problematik in einer besonders erhellenden Weise aus, und bezieht sie zu der tiefen und letzten Bedeutung der phänomenologischen Reduktion:
Ist der Sinn der Reduktion verfehlt, die das einzige Eingangstor in das neue Reich ist, so ist alles verfehlt. Die Versuchungen zu Missverständnissen sind fast übermächtig. Allzu nahe liegt es doch, sich zu sagen: Ich, dieser Mensch, bin es doch, der die ganze Methodik der transzendentalen Umstellung übt, der dadurch sich auf sein reines Ego zurückzieht; also was ist dieses Ego anderes denn eine abstrakte Schichte in dem konkreten Menschen, sein rein geistiges Sein, während vom Leib abstrahiert wird. Offenbar ist, wer so spricht, in die naiv-natürliche Einstellung zurückgefallen, sein Denken bewegt sich auf dem Boden der vorgegebenen Welt statt im Bannkreis der Epoche: sich als Menschen nehmen, das ist schon, die Weltgeltung voraussetzen. Durch Epoche wird aber sichtlich, dass es das Ego ist, in dessen Leben die Apperzeption Mensch innerhalb der universalen Apperzeption Welt Seinssinn erhält. (Husserl, 1989, 172-173)
Überaus bemerkenswert ist hier, dass Husserl zufolge das Sich-Beschränken auf die anthropologische, auf das Menschliche orientierte Betrachtung in Wahrheit bedeutet, im Gefängnis der Vorgegebenheit der Welt zu bleiben, und somit in der Unfähigkeit zu verharren, diese Vorgegebenheit in Betracht zu nehmen und in Frage zu stellen. Aus diesem Grund ist die anthropologische Problematik wesentlich eine weltliche: dies weist erst auf die Distanz und Zäsur, die sie von der transzendentalen Betrachtung scheidet. Jedoch ist meine Absicht hier genau die, eine tiefere und präzisere Einschätzung dieser begrifflichen Solidarität zwischen Weltlichkeit und Menschheit zu liefern. Die Frage ist dann: warum, „Durch transzendentale Reduktion meiner als dieses Ego innewerdend, habe ich einen Stand über allem weltlichen Sein, über meinem eigenen Menschsein und menschlichen Leben" (Husserl, 1989, 174)?
Wie die Betonung der spezifischen Wirkung der Reduktion als Überwindung der natürlichen Einstellung schon suggeriert, sind Anthropologie oder „Philosophie des menschlichen Daseins" verurteilt als neue Form einer „Naivität [...] die zu überwinden [...] ist" (Husserl, 1989, 179). Solche Naivität kann nur in der phänomenologischen Einstellung wirklich überwunden werden, da nur in diesem Rahmen die naive Vorgegebenheit der Welt fraglich und in der Frage (mit-)gesetzt wird. Das verschließt aber nicht den Weg zu jedweder philosophischen Anthropologie, weil es zugleich möglich ist, „aus den letzten transzendentalen Gründen" verständlich zu machen, „warum in der Tat [... ] Anthropologie, nicht eine positive Wissenschaft neben den anderen, neben den naturwissenschaftlichen Disziplinen ist, sondern zur Philosophie, der transzendentalen, eine innere Affinität hat" (Husserl, 1989, 181). Anders gesagt muss, während der transzendentale Anthropologismus notgedrungen eine Verneinung der Phänomenologie in ihrem erkenntnistheoretischen Anliegen bleibt, trotzdem eine philosophisch berechtigte Anthropologie möglich sein. Diese wäre sodann transzendental, nicht etwa weil sie das Transzendentale auf Empirisches reduzierte oder umgekehrt, sondern dank einer Neubewertung des Empirischen (bzw. des Anthropologischen) im Licht des Transzendentalen und umgekehrt. Statt einer „anthropologischen Übertragung" der transzendentalen Phänomenologie erlangte eine solche Anthropologie somit die Bedeutung eines anthropologischen Vollzugs der transzendentalen Problematik. Und nur im Licht der Verflechtung zwischen Weltlichem und Anthropologischem, also nur durch die radikale Besinnung der Lebenswelt in ihrem endgültigen Verständnis als Menschenwelt, kann ein solcher anthropologischer Vollzug der transzendentalen Phänomenologie Husserls möglich sein.
2. DAS TRANSZENDENTALE UND DAS EMPIRISCHE. GIBT ES EINE "TRANSZENDENTALE ANTHROPOLOGIE "?
Der Vortrag von 1931 begnügt sich damit, die „innere Affinität" zwischen transzendentaler Philosophie und Anthropologie zu betonen, ohne diese Affinität eigentlich auszulegen und auszuarbeiten. Wie ich nun aber zeigen möchte, ist es trotzdem denkbar und berechtigt, diese Affinität zu konstruieren und zu fundieren, und zwar mithilfe von späten Arbeitsmanuskripten Husserls, die sie aufzubauen erlauben. Folglich ist hier die Absicht, zu zeigen, dass sich Phänomenologie und Anthropologie sodann nicht mehr als die Wissenschaft des Transzendentalen und die Wissenschaft des Empirischen gegenüberstehen, sondern nun in einer tiefen Beziehung miteinander verbunden sind. Diese Beziehung entspricht gleichzeitig der Grundlegung des Empirischen im Transzendentalen und der Verwurzelung des Transzendentalen im Empirischen. Die Aufgabe lautet dann, zu erklären, wie diese Grundlegung und diese Verwurzelung sich vollziehen mögen. Eine Untergruppe (E III) der Husserlschen Manuskripte trägt den Titel „Transzendentale Anthropologie". Ist dieser Ausdruck etwas anderes als ein bloßes Oxymoron? Welche Bedeutung kann diese Redewendung, die wortwörtlich bei Husserl nicht zu finden ist, in einer eigentlich phänomenologischen Perspektive bekommen?
Das Problem stammt hier genau aus der Nicht-Deckung des Anthropologischen (bzw. des Empirischen oder des Weltlichen) und des Transzendentalen. Aber könnte eine solche Deckung erreicht werden, ohne die transzendentale Einstellung zu verlassen und ohne den konkreten Gehalt des anthropologischen Faktums zu verlieren? Nach Husserls Formulierung: „Wie soll nun die Menschheit und ich selbst darunter durch wirkliche und mögliche Erfahrung konstituiert sein, die doch meine und unsere Erfahrung ist, also die Menschen voraussetzt als Subjekte der Erfahrung?" (Husserl, 1973b, 492). Offensichtlich kann die transzendentale Fragestellung das anthropologische Faktum nicht durchstreichen, insofern als das transzendentale ego sich notwendig als Mensch erfährt. Dieses Faktum, das attestieren späte Husserlsche Texte (vgl. Husserl, 1973b, 518-519), kann nicht im Wesen, im eidos resorbiert werden. Das heißt, dass eine Vorherigkeit, mit anderen Worten ein gewisser Vorrang des „Faktums Mensch", nicht nur in anthropologischer, sondern auch in phänomenologischer Hinsicht gelten muss. Aber mag es auch vorherig sein, so ist dieses Faktum trotzdem nicht der Endpunkt: Husserls Behandlung des Menschlichen strebt eben gerade nach einer Überwindung oder immerhin nach
einer unumgänglichen Ergänzung der Betrachtung dieses Faktums — als Merkmal des Endlichen oder der Endlichkeit.
Doch wie nun ist diese Verknüpfung zwischen Menschsein und Endlichsein innerhalb der transzendentalen Phänomenologie gewoben, und wie bestimmt sie ferner die Bedeutung und den Status der humanen Lebenswelt? Wo die Cartesianischen Meditationen (§ 45) von einer „verweltlichende[n] Selbstapperzeption" (Husserl, 1950, 130) sprechen, betonen Husserls Arbeitsmanuskripte die „Notwendigkeit der Selbstobjektivierung als menschliche Personalität, als Menschheit" (vgl. Husserl (1973b, 388) Text n° 23 von Nov. 1931: „Die geschichtliche Seinsweise der Transzendentalen Intersubjektivität.
3
Ihre verhüllte Bekundung in der Menschengeschichte und Naturgeschichte" ). Diese Selbstobjektivierung als Mensch ist gleichzeitig als Verweltlichung zu fassen; aber ihre tiefste Bedeutung ist die einer „transzendentale[n] Selbstverhüllung" (Husserl, 1973b, 388). Hier hängt wiederum alles ab von dem Sinn der transzendentalen Reduktion: nur aus dieser Perspektive ist es denkbar, zu behaupten, dass „eine transzendentale Verblendung die Weltlichkeit [ist], die ihm vor der phänomenologischen Reduktion, als an den Horizont der Vorgegebenheit Gebundenen, das Transzendentale notwendig unzugänglich macht" (Husserl, 1973b, 389). Als transzendentale Verblendung ist die Weltlichkeit hier synonym von Endlichkeit, und solche Verendlichung kennzeichnet ebenfalls die Selbstobjektivierung des transzendentalen ego als menschliche Person. Aber insofern, als die transzendentale Reduktion immer möglich bleibt, kann Husserl andererseits festhalten: „Das menschliche Sein ist Sein in der Endlichkeit derart, dass es beständiges Sein im Bewusstsein der Unendlichkeit ist" (Husserl, 1973b, 389). Mit anderen Worten ist durch die Reduktion, durch die Selbstenthüllung der transzendentalen Subjektivität, eine Überwindung der Endlichkeit humanen Lebens und humaner Welt immer vollziehbar. Was der Vortrag von 1931 mit der Aussage „Ist der Sinn der Reduktion verfehlt [...] so ist alles verfehlt" meinte, wird jetzt umso deutlicher: ohne die Reduktion zu vollziehen, ohne also die natürliche Einstellung zu überwinden, bleibt der Mensch sich selbst verhüllt, in einem endlichen Leben und einer endlichen Welt gefangen, und verfehlt so immer die ihm eigene potentielle Unendlichkeit, die sein transzendentales Leben ihm ermöglicht.
Diese Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, die das Verhältnis des Weltlichen, des Menschlichen und des Transzendentalen bestimmt,
3 Vgl. auch Husserl (1993, 331): „Zur Wesensform der transzendentalen Subjektivität gehört ihre transzendentale Intersubjektivität in Selbstobjektivierung als offen-unendliche Menschheit".
drückt sich nicht nur in der Dynamik der Selbstverhüllung und Selbstenthüllung, sondern auch in der Gegebenheitsweise des menschlichen Lebens sowie der Lebenswelt, d. i. seiner Horizonthaftigkeit, aus. Allerdings beschränkt sich das Horizontbewusstsein nicht nur auf die Weise, wie die Welt mir immer gegeben ist (mit einem Hier und einem Da, einem Vordergrund und einem Hintergrund, einer Nähe und einer Ferne...), sondern es meint auch die Weise, in der ich mein Leben als menschliches Wesen lebe: „menschliches Leben spielt sich als ihm selbst horizonthaft in der beständigen und beständig beweglichen Spannung der Bekanntheit und Unbekanntheit, der Nähe und Ferne ab, also immer ,umweltlich', in einer Relativität dieser Umweltlichkeit, oder was nur ein anderes Wort ist, in der Relativität der weltlichen Situation" (Husserl, 1973b, 395). Und so wie die Totalität der Welt in einem Horizontbewusstsein, ist in derselben Weise auch die Einheit und Ganzheit der Menschheit gegeben: Welt als erscheinende Unendlichkeit kann folglich als Analogon der totalen Menschheit gelten, und Horizonthaftigkeit bezeichnet die Gegebenheitsweise oder den Erfahrungsmodus beider. Deswegen kann nun auch ausgesagt werden, dass „in der unendlichen Bewegtheit der transzendentalen Konstitution, in der transzendentale Intersubjektivität ihr Sein erhält und entfaltet, diese Welt als Welt für mich [konstituiert ist], der ich zentraler Mensch bin meiner totalen Menschheit, aber einer Menschheit, die einen offenen Horizont anderer Menschheiten hat" (Husserl, 1973b, 467) Text n° 29: „Phänomenologie der Mitteilungsgemeinschaft", April 1932). Jedoch ist die Totalisierung der Menschheit nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich: in dieser Hinsicht beweist sich die Problematik der anthropologischen Welt (oder der Verflechtung zwischen dem Weltlichen und dem Menschlichen) als wesentlich mit der Frage der Geschichtlichkeit verbunden. Die Rede von einer anthropologischen Welt kann folglich als eine Einladung verstanden werden, die Lebenswelt als geschichtliche anzuerkennen.
3. GESCHICHTE, GEMEINSCHAFT, GENERATIVITÄT
„Das Menschentum ist korrelativ in Selbstentwicklung und in Humanisierung der Welt" (Husserl, 1973b, 391), so schreibt Husserl in einem Arbeitsmanuskript von 1931 über die „Geschichtliche Seinsweise der Transzendentalen Intersubjektivität". Aber was genau ist die transzendentale Bedeutung dieser Korrelation zwischen Menschengeschichte und Menschenwelt? Zunächst kann festgestellt werden, dass, ebenso wie die menschliche Person als eine Selbstobjektivierung des transzendentalen egos betrachtet werden kann, auch
die Menschheitsgeschichte „zur Geschichte der transzendentalen Allsubjektivität [wird], die Gliederung der Menschheit in Familien, Stämme, Völker, Menschheiten in offener Endlosigkeit, [...] zur Gliederung der transzendentalen Subjektivität [wird]" (Husserl, 1973b, 391). Im gemeinschaftlichen Maßstab kann es also eine Deckung zwischen der Geschichte der Menschheit und der transzendentalen Geschichte — dieser unscheinbaren Geschichte, die außer der phänomenologischen Einstellung verhüllt bleiben muss — geben. Aber diese totale Menschheit, die geschichtlich betrachtet wird, hat notwendig eine Lebenswelt als Korrelat, und diese Lebenswelt selbst ist einer geschichtlichen Dynamik unterworfen: „Humanisierung ist der ständige Prozess des menschlichen Daseins, Selbsthumanisierung [...] und Humanisierung der Umwelt" (Husserl, 1973b, 391). Die anthropologische Figur der Lebenswelt ist somit auch Ausdruck einer Spiegelung dieser Abhängigkeit oder Gegenseitigkeit von geschichtlichem Werden der menschlichen Gemeinschaft und ständiger Gestaltung ihrer Umwelt als humaner Welt.
Natürlich erweisen sich diese Betrachtungen als sehr nützlich für die Behandlung der anthropologischen Differenz. Der Mensch allein „hat eben bei allem Streben einen unendlichen Lebenshorizont vor sich, bezogen auf eine unendliche raumzeitlich-kausale Natur und eine endlos offene Vielheit von Nebenmenschen, mit denen er gemeinschaftlich lebt, eine offen unendliche Einheit des Gemeinschaftslebens lebt" (Husserl, 1989, 98). Das Bewusstsein von Unendlichkeit, eines „offenen" Horizonts, zeichnet das menschliche Leben aus. Aber diese Offenheit bedeutet gleichzeitig Ausgesetztsein zu der fernen Humanität und zu kultureller Differenz. Die Diskussion über den Sinn der anthropologischen Welt muss diesen Aspekt deshalb unbedingt in den Blick nehmen, weil die kulturelle Differenz die Lebenswelt als notwendig vielfältig und gesplittert erscheinen lässt. Diese Vielfalt wiederum gilt aber auch als Individuationsprinzip jeder Welt: denn sie enthüllt „unsere Lebenswelt als Individualform". Doch was heißt das nun? Husserl präzisiert umgehend: „Welt als Individualform ist nicht Welt als Wesensform für jeden erdenklichen Menschen, das ist für den Menschen als ,Wesen'. Aber jeder erdenkliche Mensch ist doch individueller und lebt im Rahmen einer Individualform" (Husserl, 1973b, 146). Unsere Lebenswelt stellt sich als Individualform dar, wenn sie von einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft und nach bestimmten kulturellen Normen gelebt wird: „Jeder dieser Welt Angehörige, d.i, jeder zur selben Gemeinschaft als meinem Wir Gehörige, beschreibt dieselbe, und notwendig dieselbe Individualform. Ein Chinese, sofern er nicht zu ihr gehört, beschreibt eine andere"
(Husserl, 1973b, 146). Die Gewinnung der Welt als Individualform ist also selbst ein wertvolles Resultat der anthropologischen Sicht über die Lebenswelt. Andererseits ist diese Individuation oder Begrenzung der Lebenswelt niemals gänzlich vollendet und irreversibel: wäre das der Fall, dann könnte die Vielfalt der anthropologischen Welten sich niemals schlussendlich in einer einzigen Lebenswelt auflösen. Denn selbst, wenn „die völlig fremde Kulturmenschheit [...] in einer völlig fremden Natur [lebt]", so „[hat sie] [i]mmerhin, wie fremd sie ist, [...] Gemeinsames, Erde und Himmel, Tag und Nacht, Steine und Bäume, Berg und Tal, mannigfaltige Tiere — all das im allgemeinsten Typus analogisch aufgefasst, obschon als Fremdes" (Husserl, 1973b, 632). Ohne diese gemeinsame Zugehörigkeit zu einer und derselben Lebenswelt wäre es ganz unverständlich, wie es Mitteilung oder schlechthin Einfühlung mit dem Fremden, mit dem anderen Mensch geben kann.
Freilich beginnt die geschichtliche Einheit der Menschheit, die sogleich die Figur der humanen Welt gestaltet, mit der ersten Form, die auch die Grundlage der Generativität oder „des generativen Daseins der Menschheit" (Husserl, 1973b, 140) ist: nämlich die Erstreckung des menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod. In der Tat nimmt jeder Mensch durch seine Geburt Platz innerhalb der totalen Menschheit, und verlässt wiederum die menschliche Gemeinschaft mit seinem Tod. Eine bemerkenswerte Besonderheit ist hierbei, dass es aus Sicht der Generativität eine völlige Symmetrie zwischen Geburt und Tod gibt: aus dieser Perspektive gäbe es keine Berechtigung, einer „Phänomenologie der Geburt" so etwas wie eine Analytik des Sein-zum-Tode entgegenzusetzen. Im Gegenteil sind Geburt und Tod gleichermaßen Ereignisse, die nicht nur empirische Bedeutung besitzen, sondern die darüber hinaus die eidetischen Grenzen meines weltlichen Werdens festsetzen. Und eben weil sie kein bloßes Faktum ist, hat diese Artikulation zwischen Geburt und Tod eine wichtige Bedeutung für die Bestimmung der Grenzen meiner Welt: „eine Welt und Menschen ohne Geburt und Tod [sind] undenkbar" (Husserl, 1973b, 172), so merkt Husserl in einem kurzen Text Anfang der dreißiger Jahren an, der als Beilage in den Husserliana XV veröffentlicht worden ist. Damit nicht genug, findet sich am Anfang dieser Beilage sogar folgende programmatische Behauptung: „Es muss gezeigt werden, dass Geburt und Tod als konstitutive Vorkommnisse für die Ermöglichung der Weltkonstitution — oder als Wesensstück für eine konstituierte Welt gelten müssen" (Husserl, 1973b, 171). Aber bedeutet das ebenfalls, dass Geburt und Tod auch das transzendentale Leben des egos betreffen?
4. DAS LEBEN VOR DER WELT
Ich kann jetzt zu meinem Startpunkt, der Frage nach der Gerechtigkeit sowie der tiefen Bedeutung des Begriffs der anthropologischen Welt, zurückkommen. Ich habe diesem Ausdruck eine höhere begriffliche Konsistenz zu geben versucht: so konnte aufgezeigt werden, dass für Husserl die Verweltlichung des transzendentalen egos sich mit dessen Selbstobjektivierung als Mensch deckt, und dass die transzendentale Konstitution nicht als „Entmenschung" (wie Eugen Fink überzeugt war) zu betrachten ist, sondern vielmehr als mit dem Prozess der Selbsthumanisierung verflochten aufzufassen ist. Des Weiteren ist die Selbstobjektivierung des egos im Menschen als Geburt, d. h. auch als Eintritt in die Welt zu verstehen. Und eben weil die Geburt Eintritt in die Welt oder Vermenschlichung ist, hat sie zu guter Letzt auch keinen Einfluss auf das transzendentale Leben selbst. Der Text von 1936, von dem Herausgeber „Die anthropologische Welt" überschrieben, macht unmissverständlich geltend, dass „Urtümliches Leben [...] nicht anfangen und aufhören [kann]", und dass folglich „Leben [...] nicht [stirbt]" (Husserl, 1993, 334). Das hat naturgemäß weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Todes, und infolgedessen auch für die Klärung bezüglich der Stellung Husserls gegenüber der Heideggerschen Analytik des Seins-zum-Todes. Eine berühmte Stelle desselben Arbeitsmanuskripts erkennt dies ganz deutlich an; so stellt Husserl fest: „Die blendenden, tiefsinnigen Weisen, in denen Heidegger mit dem Tode umspringt, wird sich der Tod schwerlich gefallen lassen. In der echten, der in der transzendentalen Reduktion begründeten Phänomenologie, in der Phänomenologie aus den absoluten Evidenzquellen [...] ist der Tod das Ausscheiden des transzendentalen Ego aus der Selbstobjektivation als Mensch" (Husserl, 1993, 332). Der Tod betrifft mitnichten das transzendentale ego selbst, sondern nur, wie auch die C-Manuskripte in noch radikalerer Weise zum Ausdruck bringen, sein „ganzes weltliches Dasein" (Husserl, 2006, 103). An dieser Stelle wird sodann dieselbe Gegenseitigkeit zwischen Weltlichkeit oder Weltlich-sein und Menschsein sichtbar. Das erklärt darüber hinaus, weshalb Husserl den Tod einerseits als „Ausscheiden des transzendentalen Ego aus der Selbstobjektivation als Mensch" (wie oben erläutert), andererseits aber auch als „ausscheiden aus der Welt" (Husserl, 1973a, 399; hierbei handelt es sich jedoch um einen früheren Text, der zwischen 1915 und 1917 geschrieben worden ist) definieren kann. Leben und Tod affizieren lediglich die weltliche, menschliche Existenz der Subjektivität, weshalb Husserl gegen Heidegger keine transzendentale, radikal ursprüngliche Bedeutung
der Sterblichkeit anerkennt. „Zur Welt gehört Leben und Tod der ihr zugehörigen Menschen", wie er in den C-Manuskripten noch betont (Husserl, 2006, 168). Das ist ein zusätzliches Zeugnis dafür, dass auch mit der späten Thematisierung der Lebenswelt der transzendentale Idealismus Husserls keineswegs verworfen worden ist. Ein Text der in Husserliana XXXVI, also im Band zum transzendentalen Idealismus, veröffentlicht wurde und von 1914 oder 1915 datiert ist, spricht sogar von einem vorweltlichen sowie einem nachweltlichen Leben der Subjektivität (vgl. Husserl (2003, 143): „Jedes Subjekt hat eine Lebensperiode vorweltlicher Subjektivität, dann eine Lebensphase in der Welt, und dann eine Phase nachweltlicher Subjektivität, die des Todes"), und hebt damit noch einmal anders hervor, dass transzendentales Leben weltliches ist nur, insofern es auch menschliches ist. Ebenfalls deswegen werden noch im Krisis-Buch Geburt und Tod, zusammen mit dem Unbewussten und mit dem Schlaf, als „Vorkommnisse der vorgegebenen Welt" begriffen, während das ego als „wirklich nichts in der Welt Vorkommende" aufgefasst wird (Husserl, 1954, 192, 410).
Was ist dann aber der eigentliche Sinn der anthropologischen Welt als ausgezeichnete Figur der Lebenswelt? Kommen wir hierfür ein letztes Mal zurück zu dem Arbeitsmanuskript von 1936, das ebendiese Überschrift trägt. Dessen Ausgangsfrage lautet: „Welche ganzheitliche Formstruktur muss die Welt, in der wir leben, haben — a priori?" (Husserl, 1993, 322). Diese Frage nach dem „A priori der Lebenswelt" fordert nun aber dazu auf, anzuerkennen, dass „Jede für mich und dann für jedermann erdenklich-anschauliche Welt [...] Menschenwelt [ist]" (Husserl, 1993, 324). Somit vermag die apriorische Bewertung der Lebenswelt nicht, ihre anthropologische Bedeutung vollständig einzuklammern. Doch was genau steht hier wider eine solche Einklammerung? Mit der Betrachtung der Menschenwelt „ergibt sich, dass menschliche Subjekte immer schon in Notwendigkeit in der Raum-Zeitlichkeit der Körper lokalisiert sind, nämlich in ihren Leibern" (Husserl, 1993, 324). Das aber heißt wiederum, dass die Beschreibung der Lebenswelt, obwohl sie sich nur auf ihr spezifisches Apriori richtet, trotzdem mit „empirische[n] Bedingungen der Möglichkeit" (Husserl, 1993, 325) rechnen muss. Und während die menschliche Faktizität als Unausstreichbare sich erweist, erscheint auch die Faktizität der Welt als unumgänglich: vielleicht liegt hierin die wichtigste Lehre, die dieser Begriff von der anthropologischen Welt bereithält. Denn offensichtlich ist „die Welt [... ] faktisch Welt für alle" (Husserl, 1993, 328); aber darüber hinaus ist „die faktische Welt [...] zur Evidenz gebracht als humane Lebenswelt" (Husserl, 1993, 328-
329). Die humane Welt ist dabei die Lebenswelt in ihrer immer residualen Faktizität, als Korrelat meiner leiblichen Erfahrung, somit also als von empirischen Bedingungen der Möglichkeit bestimmt. Folglich ist die „Ontologie der Lebenswelt" (Husserl, 1993, 329), streng genommen, auch als eine Ontologie der Faktizität zu verstehen.
Wenn er von der „transzendentale[n] Betrachtung der Lebenswelt" spricht, behauptet Husserl im Gegensatz dazu jedoch andererseits auch, dass „anders [... ] ein Apriori nicht zu gewinnen [ist]" (Husserl, 1993, 326). Ist dann aber dementsprechend die transzendentale Betrachtung der Lebenswelt notwendig als eine Ausschließung der Faktizität zu fassen? Nicht so sehr, als dass die transzendentale Sicht vielmehr die Möglichkeit der Variation ans Licht bringt, nämlich die Möglichkeit, die Welt in ihrer Wirklichkeit und Tatsächlichkeit zu variieren, um sie so als „eine von den offen möglichen Welten" (Husserl, 1993,
330) zu begreifen. Der Ausgang solcher Variation ist das, was Husserl bezeichnet als „die Wesensform, an die Welt gebunden ist" (Husserl, 1993, 330). Der Durchgang des Kreises des Transzendentalen und des Anthropologischen endet aber nicht hier, insofern als „Die Transzendentalphilosophie [...] notwendig auf mich und von mir aus auf eine, meine Menschheit bezogen [ist]". Das bedeutet wiederum, dass „die Welt [...] als Welt schon voraussetzt die transzendentale Intersubjektivität als apodiktisch seiende", und darin eben immer auch „Generativität" (Husserl, 1993, 332), oder, anders ausgedrückt, Geburt und Tod der Menschen. Damit aber scheint im selben Moment ein Widerspruch aufzutreten: einerseits ist „[m]eine Transzendentalität als waches Ich [...] Voraussetzung für das Sein dieser Welt"; andererseits jedoch „[h]abe ich eine Evidenz, dass ich vor der Geburt nichts war und nach dem Tode nichts sein werde". Sodann muss die Frage lauten: „Verschwindet die Welt, wenn ich sterbe?" (Husserl, 1993, 333).
Kann aber der transzendentale Idealismus in seinen Ansprüchen wirklich so weit gehen? Und wenn dies nicht der Fall sein sollte, was ist dann die präzise transzendentale Bedeutung dieser „Generativität, die fortläuft, während die Individuen sterben" (Husserl, 1993, 334)? Husserls Antwort auf diese Frage darf als nicht gänzlich befriedigend angesehen werden. So gibt er zu, dass „Leiblichkeit stirbt" (Husserl, 1993, 334), oder auch, dass „[d]er Mensch stirbt" (Husserl 1993, 338), aber im Gegensatz dazu das Leben eben nicht. Denn Husserl zufolge überlebt das Leben den Tod der Leiblichkeit, da „Urtümliches Leben [... ] nicht anfangen und aufhören kann" (Husserl, 1993, 334) (vgl.: „das strömende
Leben kann nicht aufhören" (Husserl, 1993, 338)). Noch grundsätzlicher deutlich wird das in folgendem Zitat:
Alles in eins ist Leben, und Welt ist Selbstobjektivierung des Lebens in Form von Pflanzen, Tieren und Menschen, die geboren werden und sterben. Leben stirbt nicht, weil Leben nur ist in einer Universalität und inneren Einheit des Lebens. (Husserl, 1993, 334)4
Dass Welt somit letztlich als Selbstobjektivierung des Lebens zu fassen sei, gibt dem Begriff der „Lebenswelt" eine radikal neue Bedeutung, und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit eines doppelten Einblicks: denn einerseits wäre demzufolge Welt vor ihrer Objektivation als humane Welt nichts anderes als reines (transzendentales) Leben, und andererseits wiederum wäre erlebte transzendentale Subjektivität vor ihrer Selbstobjektivierung als menschliche Person ein vorweltliches Leben. Ist man also dem Weg einer Auslegung der anthropologischen Welt erst einmal gefolgt, so erweist sich, dass die innere Spannung der Lebenswelt — nämlich die Spannung zwischen (transzendentalem) Leben und Welt — eben nicht neutralisiert, sondern vielmehr gesteigert ist.
REFERENCES
Blumenberg, H. (2006). Beschreibung des Menschen. Frankfurt-am-Main: Suhrkamp. Husserl, E. (1950). Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Hua I). La Haye: Martinus Nijhoff.
Husserl, E. (1954). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Hua VI). La Haye: Martinus Nijhoff. Husserl, E. (1973a). Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass.
Erster Teil: 1905-1920 (Hua XIII). La Haye: Martinus Nijhoff. Husserl, E. (1973b). Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass.
Dritter Teil: 1929-1935 (Hua XV). La Haye: Martinus Nijhoff. Husserl, E. (1989). Aufsätze und Vorträge (1922-1937) (Hua XXVII). Dordrecht, Boston,
London: Kluwer Academic Publishers. Husserl, E. (1993). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband: Texte aus dem Nachlass (1934-1937) (Hua XXIX). Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers.
4 Vgl. auch Husserl (1993, 338): „Aber das transzendentale urtümliche Leben, das letztlich weltschaffende Leben und dessen letztes Ich kann nicht aus dem Nichts werden und ins Nichts übergehen, es ist ,unsterblich', weil das Sterben dafür keinen Sinn hat".
Husserl, E. (2003). Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908-1921)
(Hua XXXVI). Dordrecht: Springer. Husserl, E. (2006). Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C-Manuskripte (Hua VIII). Dordrecht: Springer.