HORIZON 4 (2) 2015 : I. Research : A. Krioukov : 54-62
ФЕНОМЕНОЛОГИЧЕСКИЕ ИССЛЕДОВАНИЯ • STUDIES IN PHENOMENOLOGY • STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE • ETUDES PHENOMENOLOGIQUES
TRANSZENDENTALE ERFAHRUNG ALS GEDANKLICHES EXPERIMENT
ALEXEI KRIOUKOV
PhD in Philosophy, Senior Researcher, Research and Development Department at the St. Petersburg Institute of Hospitality, 194156 St. Petersburg, Russia. E-mail: akrum@ya.ru
TRANSCENDENTAL EXPERIENCE AS A THOUGHT EXPERIMENT
In my article I would like to discuss a topic concerning the idea of mental experience as an experiment in the transcendental philosophy. One of the main problems of the humanities is that one can see a big difference between two branches of knowledge: human sciences and «exact» sciences. The main difference consists in the fact that the experimental data of the exact sciences can be verified by other researchers, but mental data in the mind of one researcher in humanities cannot be repeated in the mind of another. It allows for the skeptics to say that human sciences and especially philosophy cannot be real sciences. In opposition to this, the contemporary German philosopher Lambert Wiesing asserts that in the field of transcendental philosophy we do have something similar to experience in experimental sciences. It is called the «eidetic variation» (eidetische Variation). Three principles of the method are of great value. They are: self-reflection, phantasy, and self-clarification. In my article I am going firstly to clarify the principles of «eidetic variation» in Husserl's phenomenology, and secondly to relate this to the methods found in German transcendental Idealism. I see three interpretations of the term «eidetic variation»: as a synonym of the transcendental reduction, as establishing the eidos of a thing and the transcendental ego itself, and as something that can be held in a phantasy. The same method is used in German idealism (by Fichte for example). The main outcome of my paper should be, that if we ac-cept an «eidetic variation» as a transcendental method, we can explain, or at least have an opportunity to build the abstract category and understand such abstract items as beauty as well as other general philosophical notions. Key words: Phenomenology of Husserl, German Idealism, Fichte, eidetic variation, transcendental ego, transcendental reduction.
ТРАНСЦЕНДЕНТАЛЬНЫЙ ОПЫТ КАК МЫСЛИТЕЛЬНЫЙ ЭКСПЕРИМЕНТ АЛЕКСЕЙ КРЮКОВ
Кандидат философских наук, старший научный сотрудник научно-исследовательского отдела Санкт-Петербургского института гостеприимства, 194156 Санкт-Петербург, Россия. E-mail: akrum@ya.ru
© Alexei Krioukov, 2015
В своей статье я хотел бы затронуть вопрос о мыслительном опыте как опыте, осуществляемом в трансцендентальной философии. Существует большое различие между двумя типами познания: гуманитарными науками и «точными» науками. Оно заключается в том, что экспериментальные данные точных наук могут быть верифицированы другими исследователями, в то время как ментальные данные в сознании одного исследователя в области гуманитарных наук, и в особенности философии, не могу быть повторены в сознании другого исследователя. Это позволяет утверждать скептикам, что гуманитарные науки в действительности не являются настоящими науками. Современный немецкий философ Ламбер Визинг утверждает, что в области трансцендентальной философии мы обладаем таким же методом, как и в обычных науках. Он называется «эйдетическая вариативность» (Eidetische Variation). Три важных принципа этого метода: са-мо-рефлексия, фантазия и само-прояснение. В своей статье я собираюсь, во-первых, прояснить принципы «эйдетической вариативности» в феноменологии Гуссерля, во-вторых, соотнести ее с методом, разработанным в немецком трансцендентальном идеализме. Я предлагаю три интерпретации понятия «эйдетическая вариативность»: как синоним трансцендентальной редукции, как достижение эйдоса вещи и самого трансцендентального эго, и как нечто, что может быть найдено в фантазии. Схожий метод применяется в немецком идеализме (к примеру, у Фихте). Главный результат моего исследования заключается в том, что если мы принимаем «эйдетическую вариативность» в качестве трансцендентального метода, то мы сможем объяснить, или, по крайней мере, у нас есть такая возможность, каким образом формируются абстрактные категории и как мы можем понять такие абстрактные понятия как прекрасное и философские понятия вообще.
Ключевые слова: Феноменология Гуссерля, немецкий идеализм, Фихте, эйдетическая вариативность, трансцендентальное эго, трансцендентальная редукция.
1. Ausgangsproblem
Ich möchte folgendes vielbekanntes Problem diskutieren: Es gibt einen großen Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Wissenschaften, zwischen den Geistwissenschaften auf der einen und den sogenannten exakten Wissenschaften auf der anderen Seite. An dieser Stelle lasse ich die wichtige Frage, welche Wissenschaften wir zu Geistes- und welche zu exakten Wissenschaften zählen können, beiseite. Gleiches gilt für die viel diskutierte Frage, was Wissenschaft eigentlich sei. Mir geht es vielmehr darum, dass man den Geisteswissenschaften vorwirft, sie seien keine exakten Wissenschaften, womit gemeint ist, dass das wissenschaftliche Experiment in den Geisteswissenschaften nicht im gleichen Sinne wie in den exakten Wissenschaften gedacht werden kann. Die Ergebnisse des Reflektierens eines Wissenschaftlers beziehungsweise einer Wissenschaftlerin leben nur in dessen/deren Kopf und können niemals von anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wiederholt werden.
Um prüfen zu können, ob die ausgearbeiteten Gesetze der Geisteswissenschaften für alle gültig sind, sollte man ein Experiment durchführen. Deswegen kann man die Frage so umformulieren, dass sie am Ende lautet: Ist das Gedankenexperiment überhaupt möglich? Ich starte meinen Vortrag mit einer kurzen Zusammenfassung eines
Vortrages von Lambert Wiesing, welcher «Phänomenologische und experimentelle Ästhetik» (Wiesing, 2012) heißt. Die Hauptidee des Vortrages sieht folgendermaßen aus: Herr Wiesing behauptet, es gäbe eine Methode in der Philosophie, die ein Experiment erlaube. Diese Methode nennt sich eidetische Variation. Die Transzendentalphilosophie nutzt sie, um die eigene Erfahrung rechtfertigen zu können. Wiesing meint, dass sowohl Husserl als auch z.B. Kant die gleiche Methode verwendeten. Ein Beispiel: Kant spricht in seiner «Kritik der reinen Vernunft» über die apriorischen Formen. Ob man mit Kant einig ist, das ist eine andere Frage. Allerdings fragt sich fast jeder, der kantianische Texte liest, woher dieser weiß, dass das transzendentale Subjekt über den apriorischen Raum und die Zeit, über apriorische Kategorien, verfügt. Ist das im Grunde genommen die richtige Frage, woraus der Philosoph seine Gesetze schöpft? Die Antwort lautet: Dank der Methode der eidetischen Variation. Wiesing schreibt: «Die Interpretation lautet: Kant begründet die These von den Anschauungsformen mittels eines Experiments, und zwar mittels eines Experiments, das ein Beispiel für eine eidetische Variation im Sinne Hus-serls ist» (Wiesing, 2012, 242, 243). Dabei handelt es sich um eine einfache, elegante und schwer zu verstehende Antwort...
Die eidetische Variation weist laut Wiesing folgende besonderen Merkmale auf, die man unbedingt berücksichtigen muss. Erstens vollzieht sich die eidetische Variation in der Phantasie. Wie wir noch sehen werden, ist das ein wichtiger Punkt bei Husserl, und das ist genau das Gebiet, auf dem die eidetische Variation vollzogen werden kann. Das zweite Merkmal besteht darin, dass derjenige, der diese Methode ausübt, dies selbstreflexiv vollzieht. Man legt sich selbst gegenüber Rechenschaft über eigene mentale Zustände ab. Drittens, und das scheint das Wichtigste bei dieser Methode zu sein, legt sich ein Subjekt selbst eigene Grenzen auf. «Durch das freie Variieren sollen die Grenzen der Variierbarkeit vom variierenden Subjekt selbst erfahren werden; ich muss selbst erfahren, was ich selbst nicht kann» (Wiesing, 2012, 244).
Fassen wir das oben Gesagte noch einmal zusammen. Es gibt ein Gedankenexperiment, welches dem Experiment der exakten Wissenschaften ähnlich ist. In diesem Experiment bin ich 1. selbstreflexiv, 2. vollziehe ich dieses in der Phantasie und 3. bestimme ich dadurch die Grenzen meiner eigenen Möglichkeiten. Mit dem Text von Lambert Wiesing als Ausgangspunkt möchten wir im Folgenden prüfen, wie diese Methode der eidetischen Variation eigentlich bei Husserl und bei den Klassischen Deutschen Philosophen Anwendung findet.
2. Wie funktioniert die eidetische Variation bei Husserl?
Im Grunde genommen verwendet man, wenn von der Husserl'schen Phänomenologie die Rede ist, den Begriff der eidetischen Variation relativ selten. Normalerweise spricht man von der sogenannten transzendentalen oder eidetischen Reduktion, von der
Struktur der Intentionalität des Bewusstseins oder vom Intersubjektivitätsproblem usw.
Man kann versuchen, die unterschiedlichen Textstellen aus dem Husserl'schen Nachlass zu verwenden, um die Deutung des Begriffs zu klären. Wie gesagt, handelt es sich hierbei nicht um einen häufig verwendeten Terminus, sehr wohl aber um einen der wichtigsten Begriffe in der Phänomenologie Husserls. Ich unterscheide drei Deutungen und Verwendungen des Begriffs bei Husserl.
Formale und transzendentale Logik (1929)
Wenn man mit Sachregistern gute Erfahrungen machte, könnte man sehr schnell herausfinden, dass Husserl den Begriff in diesem Werk in der Tat nicht oft verwendet. Er schreibt am Ende dieses Textes folgendes:
Es ist in unserem Zusammenhang schon ersichtlich geworden, daß sie [die mundane Ontologie — A. K.] das universale Apriori einer in reinem Sinne möglichen Welt überhaupt entfaltet, die als Eidos durch die Methode der eidetischen Variation von der uns faktisch gegebenen Welt aus, als dem dirigierenden «Exempel», konkret entspringen muß (Husserl, 1974, 296).
Von diesem Zitat ausgehend können wir den Schluss ziehen, dass die mundane On-tologie als Eidos der Welt nur durch die und dank der Methode der eidetischen Variation erreichbar ist. Der Zweck dieses Werkes ist global, da es um die Struktur der Welt geht. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen, dass der Sinn der eidetischen Variation jenem der eidetischen Reduktion methodisch ähnlich ist.
Cartesianische Meditationen (1929)
In diesem wohlbekannten Text von Husserl geht es um das Thema der eidetischen Variation, wenn Husserl sich über den Status und die Struktur des transzendentalen Egos Gedanken macht. Das ist eine Arbeit der sogenannten egologischen Periode in der Phänomenologie Husserls. Das transzendentale Ich oder das transzendentale Ego bezeichnet eine letzte Instanz, die a priori ist. Die Aufgabe der ganzen Arbeit besteht darin, zu zeigen, wie man durch Übung der transzendentalen Reduktion das Gebiet des apodiktischen ego cogito erreicht. Husserl geht dabei stufenweise vor. Zunächst einmal betrachtet er das Ego als Monade. Danach geht er zur Analyse der eidetischen Variation über. Zu diesem Thema hat er den kurzen Paragraphen 34 geschrieben. Wie funktioniert die Methode? Man abstrahiert von einem konkreten Gegenstand und erreicht durch die Variation in der reinen Phantasie das Verständnis des Sinnes eines Gegenstandes. Ander-
seits erreicht der Phänomenologe durch diese Methode das Gebiet eines reinen Ichs als Monade. Die Hauptthese lautet: «Hier ist der Umfang des Eidos durch Selbstvariation meines Egos bestimmt» (Husserl, 1973, 106). An dieser Stelle wird klar ersichtlich, dass Husserl die Methode der eidetischen Reduktion in diesem Text von einer anderen Seite übt. Er schreibt:
[Wir] erheben < . > uns zur methodischen Einsicht, daß neben der phänomenologischen Reduktion die eidetische Intuition die Grundform aller besonderen transzendentalen Methode ist, daß beide den rechtmäßigen Sinn einer transzendentalen Phänomenologie durchaus bestimmen (Husserl, 1973, 106).
Kurz gefasst: Durch das eidetische Variieren erreicht man einerseits das Eidos eines Dinges, anderseits wird dadurch schon der Sinn des transzendentalen Egos bestimmt.
Phänomenologische Psychologie (Vorlesungen 1925)
Ich betrachte die Husserl'schen Texte gerade nicht chronologisch. Dabei scheint mir dieser Text einer der wichtigsten für die Deutung der eidetischen Variation zu sein. Husserl schreibt:
Lassen wir uns von einem Faktum als Vorbild für die systematische Gestaltung reiner Phantasie leiten. Es sollen also immer neue ähnliche Bilder als Nachbilder, als Phantasiebilder, die sämtlich konkrete Ähnlichkeiten des Urbildes sind, gewonnen werden. < . > [W]ir stehen vor der Frage: was bleibt bei solchen freien Variationen eines Urbildes und, sagen wir, eines Dinges als die Invariante, die notwendige allgemeine Form erhalten, die Wesensform, ohne die ein derartiges, wie dieses Ding, als Exempel seiner Art überhaupt undenkbar wäre (Husserl, 1968, 72).
Man kann aus diesem Zitat folgendes entnehmen: Wir haben irgendeine Vorstellung und können diese gleichzeitig frei in unserer Phantasie variieren. Die Aufgabe besteht darin, zu zeigen, ob wir eine Invariante für diese Vorstellung haben können. In einem gewissen Sinn versucht Husserl, einen inneren Sinn der Sache zu gewinnen. Er erklärt seine Methode klar und deutlich: Zunächst einmal muss man eine Aktion ausführen, welche der Reduktion ähnlich ist. Man muss von den Daten der natürlichen Einstellung abstrahieren. Erst danach kann man die Invariante eines Dinges suchen. Husserl schreibt:
Wir stehen dann sozusagen in einer puren Phantasiewelt, einer Welt von absolut reinen Möglichkeiten; jede solche Möglichkeit kann dann das Zentralglied für mögliche reine Variationen im Modus der Beliebigkeit sein. Und von jeder aus ergibt sich dann ein absolut reines Eidos, von jeder anderen aber dasselbe nur dann, wenn sich die
Variationsreihen der einen und anderen zu einer in beschriebener Weise verknüpfen
(Husserl, 1968, 74).
Diese reine Möglichkeit beschreibt er auch «als beliebige Phantasiemöglichkeit». Diese Option bedeutet, sich alles Mögliche vorstellen zu können. Dies würde eine absolute Freiheit von Vorstellungen bedeuten. Dabei spricht Husserl von nichts anderem als dem Versuch, zwischen diesen frei schwebenden Vorstellungen etwas Unveränderliches zu suchen. Man kann den Phänomenologen Husserl nur unter Vorbehalt als einen Dialektiker bezeichnen. Aber in diesem Fall geht es eher um eine Dialektik zwischen «beliebiger Phantasiemöglichkeit» und «Unveränderlichem». Aus dem Zitat erkennen wir auch, dass die Aufgabe darin besteht, auch ein Eidos zu finden. Das Unveränderliche zu bestimmen, bedeutet, die Einheit bzw. das Identische der Sache zu erkennen. Ich erlaube mir, noch ein Zitat aus diesem Text anzuführen. Husserl schreibt am Ende des Paragraphen: «Wir können auch sagen, was in phantasiemäßigem Belieben <...> sich ineinander variieren läßt, trägt eine notwendige Struktur in sich, ein Eidos, und damit <ein> Gesetz der Notwendigkeit» (Husserl, 1968, 76). Meiner Meinung nach kommt dieses Zitat ein bisschen unerwartet. Früher schrieb Husserl über die Phantasieverschiebung und jetzt behauptet er, dass die Suche nach dem Unveränderlichen ein Gesetz der Notwendigkeit in sich trage! Diese These Husserls kann man zweideutig interpretieren. Einerseits geht es um etwas Stabiles an einer Sache. Trotz der vielfältigen Phantasievorstellungen besitzt eine Sache einen Kern, etwas Unveränderliches, ein Eidos ganz im platonischen Sinne. Diese Deutung steht ganz im Einklang mit der phänomenologischen Methode, da der Begriff des Horizontes genau dann einen «festen» Sinn voraussetzt, wenn es viele Abweichungen des Sinnes gibt. Die zweite Deutung ist von besonderer Tragweite. Diese wäre: Wenn ich mir trotz der Phantasieabweichung etwas vorstellen will, kann ich dies nur auf eine notwendige Weise machen. In dem Fall haben wir es mit einer Dialektik der phantasierenden Freiheit und der eidetischen Notwendigkeit zu tun. Und genau der Punkt ist nicht rein phänomenologisch.
Fassen wir zusammen: Die eidetische Variation bei Husserl kann bedeuten: die Ei-detik der Welt, das Eidos der Sache, auch des transzendentalen Ichs oder auch das Notwendige der phantasierenden Variation.
Vergleichen wir diese Ergebnisse mit einem kurzen Blick auf die Klassischen Deutschen Philosophen.
3. Wie wird die eidetische Variation bei den Klassischen Deutschen Philosophen vollzogen?
Wiesing meint, dass die Kantische Philosophie als Beispiel für die Verwendung der eidetischen Variation dienen kann. Ich starte gleich mit einem anderen Klassiker der
deutschen Philosophie, und zwar mit Fichte. Seine Grundlagen der Wissenschaftslehre sind wohlbekannt und ich möchte diese jetzt gar nicht referierend wiederholen. Dennoch ist die Frage unvermeidlich, woher Fichte weiß, dass es ein transzendentales Ich beziehungsweise die Grundlagen des transzendentalen Subjekts gibt?
Um das besser verstehen zu können, ziehen wir einen Text von Fichte mit dem Titel «Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre» (1797) heran. In diesem Text geht es nicht um eine raffinierte Detailbeschreibung und Begründung seiner Wissenschaftslehre. Stattdessen macht sich Fichte hier Gedanken über die Natur des Idealismus und Naturalismus. Man trifft dort auf eine recht allgemeine Argumentation, die für unsere Absicht, den Sinn der eidetischen Variation besser verstehen zu können, sehr wichtig ist. Der Hauptzweck des Textes ist es, den Unterschied zwischen dem Idealismus und dem Dogmatismus zu veranschaulichen. Fichte behauptet, sein System sei ein Kantisches System. Dies bedeutet für den Nachfolger von Kant, dass die einzige Realität der philosophischen Untersuchung die innere Realität des Subjektes ist. Dabei muss man die äußere Welt außer Acht lassen. Fichte schreibt: «Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst» (Fichte, 1967, 9). In einem gewissen Sinn ist dieses Vorgehen der transzendentalen Reduktion bei Husserl ähnlich. Wie wir schon oben gesehen haben, brachte Husserl die gleiche Einsicht zum Ausdruck: Zuerst sollte der Phänomenologe von der natürlichen Einstellung abstrahieren. Bei alldem muss man bedenken, dass es ein allgemeiner historisch-philosophischer Gedanke ist, dass ein Philosoph eher sich selbst als die äußere Welt erforscht. Die Ähnlichkeit zwischen Fichte und Husserl ist in dieser Hinsicht nur eine zufällige.
Dann erwähnt Fichte, dass jeder Versuch, die Welt zu erkennen, eine Erfahrung ist. Die Aufgabe des Philosophen besteht darin, diese Erfahrung rechtfertigen zu können. Dieser Zweck liegt genau im Rahmen unserer Untersuchung, da wir herauszufinden versuchen, ob in der Transzendentalphilosophie eine Erfahrung im Sinne der exakten Wissenschaften möglich ist. Diese Erfahrung ist laut Fichte zweiseitig. Sie besteht einerseits aus der Intelligenz, welche erkennt, und andererseits aus der Sache, die erkennbar ist. Fichte kommt zum Schluss, dass es nur zwei mögliche Philosophien gibt, und zwar den Idealismus und den Dogmatismus, je nachdem, welchen Ausgangspunkt man in der Erfahrung hat. Für unsere Zwecke ist dies in dem Sinne wichtig, dass Fichte damit das Gedankenexperiment begründet. Er stellt die Frage, wie das Experiment überhaupt möglich ist und wie der Bezug der Intelligenz zur Sache gerechtfertigt werden kann. Seine Hauptidee lautet wie folgt: Es gibt einen besonderen Gegenstand, der durch die Intelligenz erfasst werden kann. Dieser Gegenstand ist das Ich. Dieses Ich wird zum Objekt des Idealismus. Aber dieser ist nicht im Sinne des Kantischen Dings an sich zu verstehen. Fichte schreibt: «Jenes Selbstbewußtsein dringt sich selbst auf, und kommt nicht von selbst; man muß wirklich frei handeln, und dann vom Objekt abstrahieren, und lediglich auf sich selbst merken» (Fichte, 1967, 15). Hier sieht man die Spuren der Freiheitstheorie Fichtes, da das Ich in seiner Philosophie die absolute Freiheit und die absolute Tätigkeit darstellt.
Das Ich wird zum Objekt der Intelligenz und die Intelligenz beschäftigt sich reflexiv mit dem Ich. Fichte schreibt:
Er [der Idealismus — A. K.] zeigt, daß das zuerst als Grundsatz aufgestellte und unmittelbar im Bewußtsein nachgewiesene nicht möglich ist, ohne daß zugleich noch etwas anderes geschieht, und dieses andere nicht, ohne daß zugleich etwas Drittes geschieht; so lange, bis die Bedingungen des zuerst aufgewiesenen vollständig erschöpft, und dasselbe, seiner Möglichkeit nach, völlig begreiflich ist. Sein Gang ist ein ununterbrochenes Fortschreiten vom Bedingten zur Bedingung. Die Bedingung wird wieder ein Bedingtes, und es ist ihre Bedingung aufzusuchen (Fichte, 1967, 33).
Ich habe dieses lange Zitat deshalb angeführt, weil es von besonderer Wichtigkeit ist. Hier demonstriert Fichte, wie der Idealismus funktioniert. Sobald die erste Grundlage gefunden ist, kann man prinzipiell alles aus dieser Grundlage ableiten bzw. deduzieren. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass, sobald wir einen Ausgangspunkt gefunden haben, wir alles andere deduzieren können. Und das können wir unter dem Gesetz der Notwendigkeit machen.
Es kommt demnach dem Inhalt der Philosophie keine andere Realität zu, als die des notwendigen Denkens, unter der Bedingung, daß man über den Grund der Erfahrung etwas denken will. <. > Diese Realität ist ihr völlig hinreichend; denn es geht aus dieser Philosophie hervor, daß es überhaupt keine andere gibt (Fichte, 1967, 36).
4. Zusammenfassende Bemerkungen
(1) Die Bedeutung des Begriffs der eidetischen Variation ist bei Husserl dreigliedrig. Zum einen geht es um das Eidetische im Sinne der mundanen Ontologie; zum zweiten versucht Husserl, das Eidos einer einzelnen Sache zu bestimmen und zum dritten spricht Husserl auch von einem Eidos des Egos selbst.
(2) Wenn wir diese Husserl'sche Position mit der von Fichte vergleichen wollen, dann fällt folgendes auf: Ein prinzipieller Unterschied besteht darin, dass laut Fichte die Philosophie den Grund der eigenen Erfahrung schon im Voraus herausfinden bzw. begründen muss. Zunächst sucht der Philosoph die Gründe der eigenen Erfahrung, erst dann kann es im Rahmen dieser Erfahrung um die variierende Methode gehen. «Nun hat die Philosophie den Grund aller Erfahrung anzugeben; ihr Objekt liegt demnach notwendig außer aller Erfahrung» (Fichte, 1967, 11). Dieses Objekt ist das Ich, welches wiederum Objekt der eigenen Reflexion ist.
(3) Wir haben oben bereits gesehen, dass die eidetische Variation bei Husserl eng mit einer absoluten Möglichkeit verbunden ist. Gleichzeitig haben wir es hier mit einer bestimmten Dialektik zu tun. Die absolute Möglichkeit zu phantasieren, ist eng mit
einem festen Kern des Unveränderlichen, eines Eidos der Sache verbunden. Bei Fichte sieht es etwas anders aus. Damit der transzendentale Idealismus gerechtfertigt ist, müssen wir eine gut begründete Ausgangsthese haben. Alles andere entfaltet sich nach dem Gesetz der Notwendigkeit nur in einer bestimmten Weise, während bei Husserl umgekehrt das transzendentale Subjekt eigene Grenzen, die mit der Formel «ich kann» gekennzeichnet sind, sucht.
(4) Das Wichtigste besteht meiner Meinung nach jedoch darin, dass die eidetische Variation nicht für alle Philosophien gilt. Diese hat nur dann einen Wert, wenn es um ein philosophisches System geht. Ist das nicht der Fall und versucht man eine eidetische Variation zu üben, ohne ein System zu bilden, so kann man nur diese oder jene Stellungnahme abgeben. Das funktioniert auf die gleiche Weise wie ein Paradigma in der Wissenschaft. Existiert ein Paradigma, dann sind die bestimmten wissenschaftlichen Positionen entweder wahr oder falsch. Gibt es z.B. die Wissenschaftslehre Fichtes, dann kann man über eine bestimmte Theorie der menschlichen Freiheit sprechen. Ohne ausgearbeitete Wissenschaftslehre kann hingegen nur eine Stellungnahme oder eine Meinung zum Thema «menschliche Freiheit» abgegeben werden.
REFERENCES
Fichte, J. G. (1967). Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. Hamburg: Felix Meiner.
Husserl, E. (1968). Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Hua IX). Den Haag: Nijhoff.
Husserl, E. (1973). Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Hua I). Den Haag: Ni-jhoff.
Husserl, E. (1974). Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten (Hua XVII). Den Haag: Nijhoff.
Wiesing, L. (2012). Phänomenologische und experimentelle Ästhetik. In J. Früchtl, & M. Moog-Grünewald (Eds.), Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Hamburg: Felix Meiner.