M. Khorkov
Gottesgeburtslehre von Meister eckhart im Traktat Von dem ewigen wort (Hs. M I 476 der UB Salzburg, ff. 143v-147v)
Eines der wichtigsten Zeugnisse der Eckhartrezeption sind die Sammelhandschriften der mystischen Texte. Textsammlungen dieser Art finden sich in den Bibliotheken in fast unüberschaubarer Menge. Eine umfangreiche Sammlung, in der deutsche mystische Texte sowohl anonym überliefert als auch so bedeutenden Vertretern der deutschen Mystik wie Meister Eckhart, Heinrich Seuse oder Johannes Tauler zugeschrieben sind, befindet sich im Manuskript M I 476 in der Universitätsbibliothek Salzburg. Diese Handschrift wurde in der Mitte des 15. Jahrhunderts am Oberrhein verfasst (Lahr/Baden und Basel). Ursprünglich oder einige Zeit nach ihrer Abfassung war die Hs. in der Bibliothek des Franziskanerklosters in Basel vorhanden. Dies teilt der Vermerk des Besitzers des Buches auf dem Blatt 37r mit: ad minores basilee 16. Diese Tatsache an sich verdient bereits Aufmerksamkeit, weil die Werke der rheinischen Mystiker aus dem Predigerorden in den Bibliotheken der Franziskanerklöster nicht oft vorhanden waren. Nach der Reformation waren die Besitzer des Manuskriptes M I 476 der Universitätsbibliothek Salzburg auch Privatpersonen, die im Elsass, in Baden und in der Schweiz lebten.
Bemerkenswert für Inhalt und Komposition der Hs. M I 476 der UB Salzburg ist eine in der Form eines Traktats unter dem Titel Von dem ewigen wort (ff. 143v-147v) überlieferte systematische Ausarbeitung der Lehre von der Geburt des ewigen Wortes in der Seele (Jungreithmayr 1988: 90, Quint 1940: 146-148). Dieser Traktat weist eine Sonderform der Mystikrezeption auf, die aus sachlichen Gründen zu einer strukturierten Systematik gelangte und die dogmatisch korrekten Konfigurationen der Lehre Eckharts von der Gottesgeburt beleuchtete.
In einer nach Quellen und Fragestellungen variierenden katechismusartigen Zusammenstellung werden im Traktat weitere Themen systematisch behandelt: das ewige Wort als Prinzip des Seins und als Prinzip der Selbstmitteilung Gottes, das ewige Wort und die drei göttlichen Personen, die Wahrnehmung des ewigen Wortes in der
Seele, der «äußere», «innere» und «innerste» Mensch, Typologien der Geburt des ewigen Wortes, Gottesgeburt, Seligkeit und Gnade.
Zwei bekannte Versionen des Traktats stellen eine an Eckhart anklingende Lehre von der Gottesgeburt systematisch dar. Die erste, kürzere Version (Hs. 8° 18 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, ff. 205r-212v), die F. Pfeiffer im 2. Band seiner Edition «Deutscher Mystiker» veröffentlicht hat (Pfeiffer 1857: 478-483), ist unter dem Titel Von der geburt des ewigen wortes in der sele bekannt. Die zweite, umfangreichere und bis heute nicht veröffentlichte Version ist in der Sammelhandschrift M I 476 der Universitätsbibliothek Salzburg überliefert (ff. 143v-147v). Sie stellt in der Tat keine Ergänzung der ersten Version, sondern eine andere Kompilationsvariante dar, die sich nur teilweise mit der kürzeren Version deckt, die wenigen Paralleltexte stehen in einer anderen Reihenfolge.
Die Titel dieser zwei Versionen - Von der geburt des ewigen wortes in der sele bzw. Von dem ewigen wort - lassen erwarten, dass in beiden Texten die entsprechende Lehre von Meister Eckhart in gewisser Weise rezipiert sein sollte. Dafür spricht auch der Inhalt des Salzburger Manuskriptes, in dem anonyme deutsche mystische und erbauliche Texte zusammen mit den Texten großer Vertreter deutscher Mystik wie Meister Eckhart, Heinrich Seuse und Johannes Tauler zusammengebunden sind. Auch vier Predigtversionen des von Georg Steer herausgegebenen Predigtzyklus Von der ewigen geburt sind im Rahmen dieser Textsammlung überliefert (Pr. 101: Salzburg, UB, Ms. M I 476, ff. 154r-154v, DW IV 285-287; Pr. 102: Salzburg, UB, Ms. M I 476, ff. 154v-155v, DW IV 371-372; Pr. 103: Salzburg, UB, Ms. M I 476, ff. 156v - 157v, DW IV 429-431; Pr. 104 Fassung A: Salzburg, UB, Ms. M I 476, ff. 155v-156v, DW IV 497-500).
In den deutschen mystischen Kreisen kann man verschiedene Variationen des mit dem Weihnachtsfest assoziierten Themas Gottesgeburt nicht nur bei Meister Eckhart, sondern auch bei Johannes Tauler (Vetter 1968: 7-12, Predigt 1 Des Tauwelers bredie an dem winnaht tage von drien geburten), in der St. Georgener Predigtsammlung (Rieder 1908: 62-64, Predigt 25 Von vier hande geburt) und in den mittelhochdeutschen Übersetzungen der Werke des hl. Bonaventura (Ruh 1965: 272-279) finden. In dieser Perspektive bietet der anonyme Traktat Von dem ewigen wort ein breites Spektrum verschiedener Konzepte, die zwar thematisch - als Elemente einer Lehre von der Gottesgeburt verstanden - miteinander verknüpft sind, aber noch kein gemeinsames Zentrum aufweisen. Bemerkenswert für die Behandlung des Themas Gottesgeburt in diesem Traktat ist aber die Intention auf eine systematische
Ausarbeitung der Lehre von der Geburt des ewigen Wortes in der Seele.
Auf den ersten Blick steht die theologische Fachterminologie, die der anonyme Autor des Traktats verwendet, im bemerkenswerten sprachlichen Einklang mit Meister Eckhart. Mehrere Passagen in diesem Text klingen wohl nach Meister Eckhart; sie stammen aber nicht nur von Meister Eckhart, sondern - wie es J. Haubst (Haubst 1984), W. Preger (Preger 1881: 91-107), A. Spamer (Spamer 1909: 326, 381) und V. Mertens (Mertens 1978: 81-91) gezeigt haben -sind auch den Werken von Hartwig (oder Heinrich) von Erfurt und Hermann von Fritzlar entnommen.
Es ist auch bemerkenswert, dass der anonyme Verfasser des Traktats Von dem ewigen wort in seinem mystischen Denken und in seiner Theologie stark von den Topoi der Mystik der Gottesgeburt beeinflusst war, die sowohl für Jan van Ruusbroec als auch für Meister Eckhart typisch waren. Er bezieht sich oft auf diese beiden Autoren. Wie aus der Analyse seines Textes hervorgeht, hat der Autor die besagten Topoi in modifizierter Form auf die Tendenzen der augustinistischen Bußtheologie seiner Zeit anzuwenden versucht. So stellt er fest, dass sich Reue und Buße aus der wahren Liebe zu Gott in der gnadenhaften Einigung mit dem ewigen Wort vollenden. Den Texten Eckharts und Ruusbroecs hat er entnommen, was er für seine Zwecke verwerten konnte. Wenn die von Eckhart ausgedrückten Meinungen irgendwie mit Ruusbroecschen Ideen zusammenfielen, dann wurden sie in den Text eingeschoben, teils wörtlich, teils zusammengefasst oder um andere Sätze erweitert. Für seine Ziele hat er wohl die in den mystischen Kreisen am Oberrhein verbreitetsten und populärsten Texte gewählt und sich die Aufgabe gestellt, mittels Zitaten daraus eine augustinistische Spiritualität mit den Ideen Eckharts zu verbinden. Es handelt sich hier in keiner Weise um eine sklavische Wiedergabe des Originals, sondern um eine kritische und bewusste Überarbeitung, wobei der anonyme Autor ausgewählte Fragmente mit seinen eigenen Vorstellungen über das geistliche Leben in einem neuen Kontext verbunden und verflochten hat.
Der Traktat Von dem ewigen wort zeigt, in welchem Maße die Aufnahme der Texte und der Konzeptionen von Meister Eckhart in Sammlungen mystischer Texte thematisch auch vom praktisch-theologischen und pastoralen Kontext abhing. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Grundzügen nachzuspüren, welche die Rezeption der Gottesgeburtslehre von Meister Eckhart im 14. und 15. Jh. geprägt haben. Ihre Wirkung geht jedoch mehr auf die Themen zurück, die für die Rezeption der rheinischen Mystik im Spätmittelalter
inhaltlich sowie auch lokal entscheidend waren. Durch sie wurde die ganze Problematik von Gottesgeburt, Einheit und Trinität, Gotteserkenntnis und Gnade, Erbsünde, Tugend und Erlösung in besonderer Weise erneut aufgeworfen.
Diese Theorieelemente enthüllen aber kein vollendetes und einheitliches Bild, sondern zeigen eine Tendenz bzw. mehrere Tendenzen in der spätmittelalterlichen Meister Eckhart-Rezeption, die mittels der Interferenz von verschiedenen ordensspezifischen Schultheologien die Produktion neuer Konzepte und Textvarianten ermöglichen. Die Interferenz der dominikanischen Mystik (Eckhart, Seuse u.a.) und der augustinistischen Lehre von Sünde und Gnade zum Vorschein erlaubte es, Eckharts Erbe im Rahmen eines neuen theologischen Diskurses von freigeistigen oder pantheistischen Fehlinterpretationen zu befreien (ohne dadurch eine Dimension der Verinnerlichung zu verlieren) und es für das geistliche Leben am spätmittelalterlichen Oberrhein unersetzbar zu machen. Diese nicht immer sauber und geschlossen ausgearbeiteten Texte sind allerdings nur mit größter Vorsicht zu benutzen. Man muss sie immer wieder kritisch prüfen und auf ihren Kontext und Inhalt hin im Zusammenhang mit anderen Schriften analysieren: erst dann sind sie zur Rekonstruktion verwendbar. Trotzdem sind sie für die meisten Aspekte der spätmittelalterlichen Meister Eckhart-Rezeption nicht nur das wichtigste, sondern auch das einzelne Fundament der Forschung.
Wie kann man diese uminterpretierende Eckhart-Rezeption erklären? Wahrscheinlich ist sie als eine Nachwirkung der Verurteilung von Eckharts Lehre zu betrachten, nach der der Thomismus und spekulativer Neuplatonismus der dominikanischen Schule im 14. und 15. Jh. aufgehört hat, für die mystischen Gruppen aktuell zu sein: stattdessen wurde der Augustinismus der Franziskaner sowie auch der Augustiner-Eremiten und Augustiner-Kanoniker immer mehr bevorzugt.
Bibliographie
Haubst 1984 - Haubst J. Beiträge zur Literatur der deutschen Mystiker // WSB 76/2.
Jungreithmayr 1988 - Die deutschen Handschriften des Mittelalters der Universitätsbibliothek Salzburg, bearb. A. Jungreithmayr (Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters III, 2), Wien.
Mertens 1978 - Mertens V. Hartwig (Hartung/Heinrich) von Erfurt, Postille // Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur. Bd. CVII, Heft 1. S. 81-91.
Pfeiffer 1857 - Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hrsg. von F. Pfeiffer, Bd. II: Meister Eckhart, Leipzig 1857 (Nachdruck: Aalen, Scientia Verlag 1962).
Preger 1881 - Preger W. Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, II. Teil, Leipzig.
Quint 1940 - Quint J. Neue Handschriftenfunde zur Überlieferung Meister Eckharts und seiner Schule, Ein Reisebericht (Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, Untersuchungen 1), Stuttgart; Berlin.
Rieder 1908 - Der sogenannte St. Georgener Prediger, aus der Freiburger und der Karlsruher Handschrift, hrsg. von Karl Rieder, Berlin, Weidmann.
Ruh 1965 - Ruh K. Franziskanisches Schrifttum im deutschen Mittelalter, Bd. I: Texte, München, Beck.
Spamer 1909 - Spamer A. Zur Überlieferung der Pfeifferschen Eckharttexte // PBB 34.
Vetter 1968 - Die Predigten Taulers, aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften hrsg. von Ferdinand Vetter, Dublin, Zürich, Weidmann.