A. Patkul
(Saint-Petersburg)
DER VORRANG DES SEINS UBER DAS DENKEN IN DER SPATPHILOSOPHIE SCHELLINGS
Man sagt jetzt sehr oft — ja auch im russischsprachigen intellektu-ellen Raum, — dass Schelling besonders in der spaten Periode seines Denkens Vorlaufer des modernen Philosophierens sei. Das wird mit dem sogenannten Irrationalismus identifiziert, der schon nach Schelling bei Schopenhauer, Nitzsche, Bergson und zahlreichenden Denkern des XX Jahrhunderts — darunter bei so einem bedeutenden Denker wie Heidegger — kulminiert. Der Irrationalismus Schellings ist dabei mit seiner Behauptung der Prioritat des Willens gegen die Vernunft durch solche Deutungen verbunden. Schelling bekampft ja den blofien Rationalismus. Es ist noch die Frage: ob eine solche Einschatzung der Philosophie Schel-lings als Irrationalismus historisch ausreichend und sachlich rechtfertigt ist. Der Grund dieser Frage liegt darin, dass Erorterungen des Willens und dessen Prioritat bei Schelling einen ganz bestimmten Kontext haben, ohne den zu berucksichtigen, kann man schliefien, dass dieser Philosoph etwas Triviales ausspricht; etwas, was vielleicht z. B. durch psychologi-sche Beschaffenheit dessen Person vollig determiniert ist. Doch ist das Denken Schellings nicht personlich-psychologisch, sondern, abgesehen davon, dass er den Name Ontologie im Bezug auf Ch. Wolff ironisch kri-tisiert hatte, im eigentlichsten Sinne ontologisch.
Es sei behauptet: Die sogenannte Prioritat des Willens bei Schelling ist unzertrennbar mit der Uminterpretation des Verhaltnisses zwischen dem Sein und dem Denken, und dadurch mit der des Sinnes vom Sein selbst, verbunden. Diese in ihrer Fulle geschieht in der spaten Philosophie von Schelling, die somit kein Regress und Denkverfall, sondern umgekehrt das Reife des grofien, die Tradition fortfuhrenden und um-bildenden Denken ist.
Um die These uber den Vorrang des Seins uber das Denken zu erkla-ren, moge man sich auf den spaten Vortrag Schellings wenden, der am 17.
Januar 1850 in der Gesamtsitzung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gelesen und spater unter dem Name „Abhandlung uber die Quelle der ewigen Wahrheiten” veroffentlicht wurde.
Hier behandelt Schelling das alte philosophische Thema, das seit der Philosophie des Mittelalters und gar fruher seit Plato und Aristoteles bekannt ist; und zwar das Thema der ewigen oder somit notwendigen Wahrheiten. D. h. es geht im Vortrag um origine essentiarum, idearum, possibilium, veritatum aeternarum. Zusammenfassend nennt Schelling alle diesen als „mehr oder weniger platonisch gedachten Ideen”.1 Die Frage nach dem Wesen solcher Ideen war, wie Schelling mit Recht meint, auch fur die Philosophie der Neuzeit aktuell und auf neuer Weise on Descartes, Leibniz u.a. bis zu Kant gestellt.
Also erortert der Philosoph diese Wahrheiten als ideelle Wesenheiten, die keine Zufalligkeit in sich erhalten. Das Wesen von Etwas ist dement-sprechend, was es an sich selbst ist; es ist unveranderlich, d. h. ewig. Als solches ist das Wesen auch durch die Vernunft begreifbar und somit im Begriff wissenschaftlich ausdruckbar. Demgegenuber ist die wirkliche Existenz eines Dinges, die man zur dessen Idee nicht reduzieren kann, ganz zufallig. Schelling, indem er hier der von Leibniz gehenden Tradition folgt, assoziiert die Idee eines Dinges mit der dessen Moglichkeit und anderseits das Existieren von solchem mit der dessen Wirklichkeit. Er schliefit aber daraus, dass der Inbegriff der Wesenheiten, der ewigen Wahrheiten mit dem Reich der Moglichkeiten, des Moglichen uberhaupt gleich sei. Er sagt:
„Da ferner bei der Wesenheit die Wirklichkeit nicht in Betracht kommt, indem die Wesenheit dieselbe bleibt, die Sache mag wirklich vorhanden sein oder nicht, wie sich die Wesenheit eines Kreises nicht im Geringsten dadurch andert, dass ich einen Zirkel wirklich beschreibe: so ist hieraus begreiflich, dass das Reich der Wesenheiten auch das Reich der Moglichkeiten, und was nur so moglich, notwendig so ist”.2
Also sind die Moglichkeiten, das Mogliche dem Inhalt nach notwen-dig; sie sind so, wie sie sind, und konnen nicht anders sein; das Wirkliche
1 Schelling. 1998. S. 575.
2 Ebenda. S. 575-576.
als Wirkliche ist aber zufallig, es konnte anders sein, als es faktisch ist, und konnte doch uberhaupt nicht sein. Das ist die wichtigste These fur das Verstehen schellingscher Modifizierung der Behandlung des Verhalt-nisses zwischen dem Sein und dem Denken. Sie ist auch darum so wich-tig, weil Schelling die Frage nicht nur nach der Wirklichkeit der einzelnen Dinge, sondern auch nach dem Wirklichsein der Welt und schliefilich dem Gottes selbst stellt. Daraus folgen fur Schelling die entschliefienden Fragen nach der Freiheit Gottes bezuglich der Schopfung der wirklichen Welt sowie der Freiheit Gottes, bezuglich sich selbst und seines wirkli-chen Existierens (nach der Beziehung zwischen der Notwendigkeit des gottlichen Wesens und der wirklichen Existenz Gottes als Einzelwesen). Im letzten Fall geht es, um der Freiheit Gottes sein wirkliches und somit zufalliges Existieren aufzuheben, und zwar um die endliche Welt von seinem eigentlichen Grund zu schaffen und die endliche Freiheit dem Menschen zu verleihen. Das Sein Gottes ohne die Fahigkeit ein solches Sein aufzuheben ware dann ein nur notwendiges oder in der Sprache Schellings ein blindlings Sein. Dieses aber bestimmt Schelling ontolo-gisch in seinen Vorlesungen „Zur Geschichte der Neueren Philosophie” auf solche Weise:
„Das blind Seyende insbesondere ist das, dem keine Moglichkeit seiner selbst vorausgegangen ist”.3
Schelling meint darum, dass der Begriff Gottes als nur notwendiges und somit blindlings Wesen nicht ganz zureichend sei. Das kann man auf dem Beispiel der Schellingschen Kritik des ontologischen Gottesbe-weises bei Descartes illustrieren, die Schelling in demselben Text entwik-kelt. Er behauptet hier:
„Wir haben eben das notwendig Existierende zugleich als das blind-lings Existierende erwiesen. Nun ist aber nichts der Natur Gottes, wie sie im allgemeinen Glauben gedacht wird — und nur aus diesem hat Carte-sius, haben also auch wir bis jetzt diesen Begriff aufgenommen — nichts ist der Natur Gottes mehr entgegen als das blinde Seyn. Denn das Erste im Begriff des blindlings Seyenden ist doch, dafi es gegen sein Seyn ohne alle Freiheit ist, dafi es weder au&eben noch verandern oder modifizieren
3 Schelling. 1976 (2). S. 301.
kann. Was aber gegen sein eignes Seyn keine Freiheit hat — ist absolut unfrei. Ware also Gott das notwendig existierende Wesen, so konnte er zugleich als das starre, unbewegliche, schlechthin unfreie, keines freien Thuns, Fortschreitens, oder von sich selbst Ausgehens Fahige bestimmt werden”.4
Indem wir zur „Abhandlung uber die Quelle der ewigen Moglichkeiten” zuruckkehren, konnen wir abgesehen von Schellings Rekon-struktion der Betrachtung des Problems der ewigen Wahrheiten in der Philosophie des Mittelalters und bei den spateren Denkern, die genannte „Abhandlung” erhalt, sagen, dass er das Reich der ewigen Wahrheiten mit dem, was Kant der Inbegriff aller Moglichkeiten genannt hatte, iden-tifiziert.
Schelling aber setzt sich mit Kant auseinander, indem er mit Kants Kritik von der Existenz des transzendentalen Ideals nicht einverstanden ist. Schelling meint der aristotelischen Tradition folgend, dass dem Be-griff aller Begriffe, d. h. dem Inbegriff aller Moglichkeiten ein einzelne Existenz des Seienden ontologisch vorausgehen muss. Hubert Beckers bemerkt in dieser Hinsicht:
„Das Mogliche hat also nicht das Wirkliche , nur das Wirkliche hat das Mogliche in seiner Macht, und dies ist der Sinn der obigen Worte Schelling’s, dass, weil Gott nicht in seinem Wesen, d. h. in der Indifferenz aller seiner Moglichkeiten, sondern in seinem reinen Actus existiere, ihm auch das Wesen frei bleibe, d. h. er vermoge seiner absoluten Wirklich-keit Herr seiner absoluten Vermoglichung sei und darum auch dieser ge-genuber in sich Freiheit befinde”.5
Auf diesem Weg kritisiert Schelling die Gestalten der deutschen Phi-losophie nach Kant — vermutlich insbesondere die hegelsche, ohne des-sen Name zu erwahnen, — weil man in diesen Gestalten versucht hat, die aktuelle Existenz des Subjektes des Reiches der ewigen Wahrheiten, das fur Schelling der Idee gleich ist, rein rational, d. h. aus dem Inhalt der Idee, der ewigen Wahrheiten zu deduzieren. Das Dass des Seienden ist aber Schellings Gedanken nach nicht vom dessen Was, gar das absoluten,
4 Ebenda. S. 302-303.
5 Beckers. 1856. S. 723.
zu deduzieren, ein Was, eine Begriff ist fur ein Wirklichkeit vollig nicht-zureichend. Walter Schulz betont, bei Schelling ist die Wirklichkeit „na-turlich mehr als der blofie Wesensbezug <...> und die Wirklichkeit geht immer uber den Begriff hinaus. Begriff und Wirklichkeit gegeneinander abheben, dass heifit ja im Grunde schon immer, den Begriff als «weniger» auslegen...”6
Schelling selbst sagt in diesem Bezug auch so:
„Kant zeigt also, dafi zur verstandesmafiigen Bestimmung der Dinge die Idee der gesamten Moglichkeit oder eines Inbegriffs aller Pradikate gehort. Dies versteht die nachkantische Philosophie, wenn sie von der Idee schlechthin ohne weitere Bestimmung spricht; diese Idee selbst nun aber existiert nicht, sie ist eben, wie man zu sagen pflegt, blofie Idee; es existiert uberhaupt nichts Allgemeines, sondern nur Einzelnes, und das allgemeine Wesen existiert nur, wenn das absolute Einzelwesen es ist”.7
Es wird daraus klar, dass Schelling umgekehrt meint, dass der In-begriff aller Moglichkeiten eine reelle Folgerung der Selbstrealisation von etwas sei, was schon im Voraus existieren musste. Solches „etwas” ist Schelling nach der Gott selbst, aber nicht als ein allgemeines We-sen, sondern als das absolut Einzelwesen, als das Individuellste, d. h. als т о ^аккла xwpMnov?
Aber es taucht die Frage auf, welche ist die konkrete Beziehung zwi-schen dem Gott als individuellstes der Indifferenz aller Moglichkeiten im Voraus existierendes Wesen und dem Gott als allgemeinstes Wesen, als Inbegriff aller Moglichkeiten. Es ist gewiss, dass das Reich der ewigen Wahrheiten nach Schelling nicht aufier Gott sein kann. Aber welche ist dann die Seinsweise solches Inbegriffes an sich? Auf welche Weise existiert dieser Inbegriff selbst, indem er die absolute Existenz des individu-ellsten Wesens fur das Existieren voraussetzen muss?
Die wohl klare Beantwortung dieser Fragen gibt in seinem Vortrag zur Schellings „Abhandlung” Al. v. Schmid:
„Und was stellt er (d. h. Schelling. — A. P.) als seine eigene Lehre auf? Folgendes. Gott ist die Quelle der ewigen Wahrheiten nicht wie Thomas
6 Schulz. 1975. S. 22.
7 Schelling. 1998. S. 585-586.
8 Vgl. ebenda. S. 587.
will, seinen gottlichen Wesen nach, sondern sofern er das Allgemeinwe-sen, die Allmoglichkeit der Dinge, Stoff oder Materie zu allem Mogli-chen, die potentia universalis rerum ist. Seiner reinen Gottheit nach als actus purus ist er zwar das absolute Einzelwesen, um dieses aber zu sein, das Allgemeinwesen, die Allmoglichkeit der Dinge. Das Dass Gottes als actus purus ist das Erste, das Was Gottes als das alles begreifende, all-gemeine Wesen, als Indifferenz aller Moglichkeiten, ist das Zweite, das Folgende”.9
Auf welcher Weise aber denkt Schelling dieses Folgen selbst des Was vom Dass Gottes? Die Beantwortung dieser Frage ist in der „Abhandlung der ewigen Wahrheiten” von Schelling auch gegeben. Also spricht der Philosoph hier:
„Wieder an Leibniz anzuknupfen, — so ist offenbar: Um das gleich Unmogliche einer vollkommenen Abhangigkeit und einer volligen Un-abhangigkeit zu vermeiden, nimmt Leibniz zwei verschiedene Fakulta-ten in Gott an; aber ware es nicht einfacher und naturlicher, die Ursache der verschiedenen Verhaltnisses zu Gott in der Natur jenes nescio quod selbst zu suchen, das den Grund aller Moglichkeit und gleichsam den Stoff, die Materie zu allen Moglichkeiten enthalten soll, demgemafi aber selbst nur Moglichkeit, also nur die potentia universalis sein kann, die als solche toto coelo von Gott verschieden, soweit auch ihrem Wesen nach, also blofi logisch betrachtet, unabhangig von dem sein mufi, von dem alle Lehren ubereinstimmend sagen, dass er reine Wirklichkeit ist, Wirklich-keit, in der nichts von Potenz ist. Soweit ist das Verhaltnis noch ein blofi logisches. Aber wie wird sich nun das reale Verhaltnis darstellen? Ein-fach so: Jenes alle Moglichkeit begreifende, selbst blofi Mogliche wird des selbst-Seyns unfahig, nur auf die Weise sein konnen, dass es sich als blo-fie Materie eines andern verhalt, das ihm das Seyn ist, und gegen das es als das selbst nicht Seyende erscheint. Ich gebe diese Bestimmungen ohne weitere Motivierung, weil sie sich alle auf bekannte aristotelische Satze grunden. To vXikov ovSenoTe кав’ avrov Хектеоу, „das Hylische, das blofi eines materiellen Seyns Fahige, kann nicht von sich selbst, es kann nur von einem andern gesagt werden”, welches andere demnach es ist.
9 Schmid v. 1901. S. 367-368.
Denn wenn ich B von A sage (pradiziere), so sage ich, dass A B ist. Dieses andere aber, das dieses, des selbst-Seyns Unfahige, ist, dieses mufite das selbst-Seyende und zwar das im hochsten Sinn selbst-Seyende sein — Gott. Das reale Verhaltnis also ware, dass Gott jenes fur sich selbst nicht Seyende ist, das nun, inwiefern es ist — namlich auf die Weise Ist, wie es allein sein kann — als das ens universale, als das Wesen, in dem alle Wesen, d.h. alle Moglichkeiten sind, erscheinen wird”.10
So kommentiert es Al. v. Schmid:
„Zwar kommt es ihm nothwendig zu, dieses Zweite (und zwar das „Was”. — A. P.) zu sein, aber es kommt ihm nicht zu kraft seines gottli-chen Wesens, ist insofern also ein zufallig oder ката Zu-
kommendes , wie es z. B. nach Aristoteles dem Dreiecke zukommt, gleich 2 R zu sein, ohne dass letzteres im Wesensbegriffe oder in der Definition des Dreieckes liegen wurde”.11
Solche Beziehung wird durch diesen Interpret als „relative Unabhan-gigkeit” charakterisiert, insofern das Was dem Gott notwendig aber nicht wesentlich geeignet ist. V. Schmid sieht auch sehr merkwurdige Analogie der Schellingschen Lehre vom Was Gottes als materia ex qua omnium, als Materie aller Bestimmungen der Dinge in der dessen Lehre von dem relativ von Gott unabhangigen gottlichen Willen, die schon mehr fruher in der Abhandlung „Uber das Wesen der menschlichen Freiheit und da-mit zusammenhangenden Gegenstande” (1809) von Schelling dargestellt wurde. Dieser Wille wird von Schelling mit dem Grund der Existenz Gottes, der derselbe Grund ist wie der Grund der Existenz von der ge-schopften Welt, assoziiert.
In der „Freiheitsschrift” sagt Schelling:
„Die Naturphilosophie unsrer Zeit hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es blofi Grund von Existenz ist <...> Da nichts vor oder aufier Gott ist, so mufi er den Grund seiner Existenz in sich selbst haben. Das sagen alle Philosophen; aber sie reden von diesem Grund als einem blofien Begriff, ohne ihn zu etwas Reellem und Wirklichem zu
10 Schelling. 1998. S. 584-585.
11 Schmid von. 1901. S. 368.
machen. Dieser Grund seiner Existenz, den Gott in sich hat, ist nicht Gott absolut betrachtet, d. h. sofern er existiert; denn er ist ja nur der Grund seiner Existenz, Er ist die Natur — in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen”.12
Also ist der Inbegriff aller Moglichkeiten fur Gott „relativ unabhan-gig”, wie der von Schelling in der „Freiheitsschrift” beschriebene Wille. Es bleibt aber dabei ganz fragwurdig, ob und inwiefern solches „zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen” das Reich der ewigen Wahrheiten, der Inbegriff aller Moglichkeiten sein kann, weil es eigent-lich als Grund durch Schelling gedacht ist — solcher Grund, der der ak-tuellen Existenz Gottes im bestimmten Sinn vorausgesetzt sein muss. Aufierdem ist es uberhaupt moglich das Reich der ewigen Wahrheiten, die absolute Washeit als im Sinne des Willens verstandenen Grund zu betrachten? In der Wahrheit — und das betont Schelling in seiner „Ab-handlung uber die Quelle der ewigen Wahrheiten” — ist es erforder-lich, dass Gott als das reine Dass ein Wille haben kann, sich selbst in seinem absoluten Was zu realisieren (vom res im scholastischen Sinne); und zwar sich selbst fur sich selbst in seinem Sein begreiflich erfassbar machen kann. Es ist vorauszusetzen, dass Schelling nach nur dadurch Gott sein blindlings Sein aufheben konnte und seine absolute Freiheit verwirkliche.
Also erortert Schelling diese Richtung seines Denkens auf solche Weise:
„Gott enthalt in sich nichts als das reine Dafi des eigenen Seyns; aber dieses, dass er Ist, ware keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas ware — Etwas freilich nicht im Sinn eines Seyenden, aber des alles Seyenden, — wenn er nicht ein Verhaltnis zum Denken hatte, ein Verhaltnis nicht: zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee. Hier ist die wahre Stelle fur jene Einheit des Seyns und des Denkens, die einmal ausgespro-chen auf sehr verschiedene Weise angewendet worden. Denn es ist leicht von einem System, das man nicht ubersieht und das vielleicht ubrigens auch noch weit entfernt ist von der notigen Ausfuhrung, einzelne Fetzen abzureifien, aber es ist schwer, mit solchen Fetzen seine Blofie zu decken
12 Schelling. 1976 (1). S. 301.
und sie darum nicht an der unrechten Stelle anzuwenden. Es ist ein wei-ter Weg bis zum hochsten Gegensatz, und jeder, der von diesem sprechen will, sollte sich zweimal fragen, ob er diesen Weg zurucklegt”.13
Das aktuelle Sein hat somit den ontologischen Vorrang gegen das Denken als Bezug auf ewigen Wahrheiten. Das ist offensichtlich die Wie-derherstellung des s. g. ontologischen Arguments, jedoch im Kontext der absoluten Subjektivitat, die als Subjektivitat der Indifferenz aller Mog-lichkeiten (dem Materiellen) ontologisch vorausgesetzt ist:
Also Schelling sagt:
„In dieser Einheit aber ist die Prioritat nicht auf Seiten des Denkens; das Seyn ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende... Es ist dieser Gegensatz zugleich der des Allgemeinen und des schlechthin Ein-zelnen... Aber nicht vom Allgemeinen zum Einzelnen geht der Weg, wie man heutzutag allgemein dafur zu halten scheint <...> Es mochte schwer sein zu sagen, woher dem Allgemeinen die Mittel und die Macht komme, sich zu realisieren. Zu sagen ist vielmehr: dafi das Individuelle, und zwar am meisten das es im hochsten Sinne ist, dafi das individuelle sich reali-siert, d.h. sich intelligibel macht, in den Kreis der Vernunft und des Er-kennens eintritt, indem es sich generalisiert, d. h. indem es das allgemei-ne, das alles begreifende Wesen zu Sich macht, sich mit ihm bekleidet”.14
Es ist z. B. mit hegelscher Interpretation von der Existenz als logischer Folgerung von dem zum Wesen gehorten Widerspruch zu vergleichen, die er in der „Wissenschaft der Logik” so ausgedruckt hatte:
”...das Wesen ist in die Existenz ubergegangen; die Existenz ist seine absolute Entaufierung, jenseits derer es nicht zuruckgeblieben ist”.15
Fur Schelling ist das Verhaltnis zwischen dem Wesen und der aktuel-len Existenz keine logische Folgerung, wie bei Hegel. Jedoch lehnt Schelling auch das Rationale uberhaupt nicht, sondern er vertritt die These, dass jedem denkenden Bezug auf das Mogliche (auf Wesen, auf ewige Wahrheit) das aktuelle Sein vorausgegangen sein muss. Und das Rationale ist nach Schelling nur das Produkt der Realisation des schon Existie-renden, dass seinerseits den Wille fordert um realisiert zu sein.
13 Schelling. 1998. S. 587.
14 Ebenda. S. 587-588.
15 Hegel. 1986. S. 128.
Literatur
Beckers H. Historisch-kritische Erlauterungen zu Schelling’s Abhandlungen uber die Quelle der ewigen Wahrheiten und Kant’s der reinen Vernunft // Abhandlungen der philosoph.-philologschen Classe der Koniglich Bayrischen Akademie der Wissenschaften. 8. Bd. 1. Abteilung. Munchen: Verlag der Ko-niglichen Akademie in Comission bei G. Franz, 1856.
Hegel G. W. F. Wissenschaft der Logik. Bd. II // Werke in 20 Banden. Bd. 6. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag, 1986.
Schelling F. W. J. Abhandlung uber die Quelle der ewigen Wahrheiten // Schel-ling F. W. J. Ausgewahlte Werke. Bd. 1. Darmstadt: WBG Verlag, 1998.
Schelling F. W. J. Philosophische Untersuchungen uber das Wesen der menschli-chen Freiheit und die damit zusammenhangenden Gegenstande // Schel-ling F. W. J. Ausgewahlte Werke. Bd. 9. Darmstadt: WBG Verlag, 1976.
SchellingF. W. J. Zur Geschichte der neueren Philosophie // Schelling F. W. J. Ausgewahlte Werke. Bd. 10. Darmstadt: WBG Verlag, 1976.
Schmid Al. von. Die Lehre Schelling’s von der Quelle der ewigen Wahrheiten // Phi-losophisches Jahrbuch. Auf Veranlassung und Unterschutzung von Gorres-Gesellschaft / Hrsg. v. Dr. Const. Gutberlet. 14. Bd. Fulda: Druck und Comis-sions-Verlag der Fuldaer Actiendruckerei, 1901.
Schulz W. Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spatphilosophie Schel-lings. 2. Aufl. Pfullingen: Gunter Neske Verlag, 1975.