УДК 141.82
Manfred Sohn
(Doktor der Sozialwissenschaften) Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung e.V. (Wuppertal, Bundesrepublik Deutschland)
DER CHARAKTER UNSERER EPOCHE
Anmerkung. Ausgehend vom „ Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie " von Karl Marx charakterisiert der Autor unsere Epoche als Teil des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus. Dieser Prozess dauert nur ein wenig länger als von Marx und Engels vermutet und benötigt einige Umwege. Der Kampf des USA/NATO/EU-Blocks gegen Russland und möglicherweise China werden in die komplizierte aber im Kern unabwendbare Ablösung der alten durch die neue Formationen ebenso eingeordnet wie die Bewegungen für eine Elektrifizierung der Energieversorgung.
Schlüsselwörter: Epoche - Übergang Kapitalismus zum Sozialismus -USA/NATO/EU/Japan - BRICS
Manfred Sohn
(Doctor of Social Sciences) Chairman of the Marx-Engels-Stiftung e.V. (Wuppertal, Federal Republic of Germany)
THE CHARACTER OF OUR ERA
Abstract. Based on the preface to «A contribution to the Critique of Political Economy» written by Karl Marx the author characterises our age als the epoche of the change from capitalismus to socialism worldwide. But this process lasts a little bit longer as presumed by Marx and Engels and it takes some detours. The current wars - included economic wars - of USA/EU/NATO/Japan against Russia and maybe China are seen as part of this complicated but in its core uncontested change.
Key word: Epoche (Age) - Change from capitalism to sozialism and communism -USA/NATO/EU/Japan - BRICS.
Zuweilen wird in Europa - Russland als dem größten auf dem europäischen Kontinent liegenden Land eingeschlossen - von der Zeit um 1989/90 herum als der Zeit des „Scheiterns" des Sozialismus gesprochen. Das trifft selbst auf Kreise zu, die sich in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels sehen. Diese Begrifflichkeit führt in die Sümpfe. Es ist ein Riesenunterschied, ob wir von „Scheitern" oder „Niederlage" sprechen. Jeder Mensch würde sich lächerlich machen, der nach einer Niederlage seiner Mannschaft oder seines Lieblingsspielers etwa bei einem Fußball- oder Schachturnier vom „Scheitern" spricht anstelle von einer Niederlage. Nach einem Scheitern ist Schluß. Nach einer Niederlage werden ihre Gründe ausgewertet und dann geht der Kampf weiter.
Die Ereignisse von 1989/90 waren kein Scheitern des Sozialismus. Sie waren eine
Niederlage in einem (relativ kleinen) Teil der Welt - mehr nicht.
Um die Hauptrichtung, in der sich die Welt entwickelt, zu begreifen, mögen drei Zahlen zunächst reichen. Das „Kommunistische Manifest" ist 1848 entstanden, das Kapital wurde 1867 erstmals veröffentlicht. Die Anhänger des von Karl Marx und Friedrich Engels begründeten wissenschaftlichen Sozialismus passten anfangs in ein paar Hinterzimmer in Londoner Kneipen, wuchsen dann zu einer Bewegung, um erstmals mit der „Pariser Kommune" 1871 die Möglichkeit praktischer Umgestaltung des Alltags von Millionen zu bekommen. Unter dem Banner dieser und auch einiger anderer revolutionärer Ideen versammelten sich damals 1,8 Millionen Menschen. 30.000 von ihnen wurden nach der Niederschlagung der Kommune 72 Tage später hinweggemetzelt. Am zweiten Anlauf, den Sozialismus zur Realität werden zu lassen, der in Russland mit den Schüssen der Aurora begann, beteiligten sich bereits 180 Millionen Menschen. Weitere dutzende und hunderte Millionen kam 1945/49 nach dem Sieg über den deutschen Faschismus und den japanischen Militarismus in Europa und Asien dazu. Trotz der Niederlage des ost- und mitteleuropäischen Sozialismus 1989/90, der nicht 72 Tage, sondern 72 Jahre Bestand hatte, leben heute nicht 1,8 Millionen und nicht 180 Millionen, sondern gut 1,5 Milliarden Menschen in Ländern, deren in ihren Verfassungen niedergelegtes Ziel die Errichtung des Sozialismus entsprechend der Lehren von Marx und Engels ist.
Und das soll eine gescheiterte Bewegung sein?
Es gab und gibt in der menschlichen Geschichte viele politische und religiöse Bewegungen, die in mehreren Ländern Fuß fassten und fassen. Es gibt aber seit Anbeginn der Menschheit nur eine einzige Bewegung, die in allen Ländern der Erde eine politisch aktive Partei hervorgebracht hat - manche illegal, die meisten legal, viele klein, einige groß, manche sogar an der Macht. Die in diesen Parteien zusammengeschlossenen Menschen sind diejenigen, die weltweit den komplizierten und recht langwierigen Prozess des Epochenübergangs von der Klassengesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft an führender Stelle organisieren.
Das Wesen dieses komplexen Prozesses hat Karl Marx in der ihm eigenen Klarheit so niedergeschrieben: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlagen wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder
rascher um."29
In dieser Epoche befinden wir uns. Marx und Engels hatten mit einigen guten Gründen angenommen, diese Umwälzung würde beginnen in den Ländern mit der am weitesten entwickelten Industrie und der politisch bewußtesten Arbeiterklasse. Die Formulierung „rascher" in dem Text enthält eine Hoffnung. Angeführt von einer kommunistischen Partei etwa in England, Frankreich, vielleicht auch in Deutschland und den USA würde das Proletariat dieser Länder den Anfang machen, die Macht ergreifen und so den anderen, rückständigeren Ländern etwa in Russland, Indien, China und anderswo den Weg ebnen, auch dort einige Jahrzehnte später den Sozialismus errichten zu können.
Das ist, wie wir wissen, nicht so gekommen. Den russischen Kommunistinnen und Kommunisten gebührt das große, unauslöschliche Verdienst, nicht schematisch auf die Revolution in Westeuropa gewartet zu haben, sondern mitten im Blutbad des 1. Weltkriegs die Möglichkeit ergriffen zu haben, die Kette der imperialistischen Barbarei an ihrem schwächsten Glied zu zerbrechen und in der Errichtung des Sozialismus jahrzehntelange die Führung zu übernehmen und trotz des blutigsten Krieges der Menschheitsgeschichte zu behaupten.
Wütend bekämpft von den alle internen Streitigkeit hinten anstellenden imperialistischen Staaten der Welt ist dieser zweite Anlauf schließlich zwischen Elbe und Wladiwostok der gegnerischen Übermacht und den eigenen Fehlern unterlegen. Im Kern ist er deshalb dort zum Stehen gekommen, weil es bis 1989 nicht gelungen ist, die Eigentumsverhältnisse so umzugestalten, dass die sich in ihnen bewegenden Produktivkräfte denen des imperialistischen Lagers überlegen wurden. Die Gesellschaften, die sich im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (RGW) zusammengeschlossen hatten, haben punktuell ihr Potential zur Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus unter Beweis gestellt - etwa durch den „Sputnik" und die anderen Pioniertaten bei der Eroberung des Weltalls, militärtechnisch schon vorher durch den „T 34" und kulturell durch ein Aufblühen von Literatur, Theater, Musik und anderer Bereichen der Kultur, gegenüber dem bis heute die zunehmend pervertierte Kultur des Wertewestens verblasst. Aber es hat nicht gereicht, es beißt - wie wir Deutschen sagen - keine Maus den Faden ab: Auf breiter Front waren die Staaten unter Führung der Sowjetunion gegenüber den Staaten unter Führung der USA in der Entwicklung der Produktivkräfte mit der Entwicklung der Arbeitsproduktivität als ihrem Kern immer zweiter Sieger. Also haben sie verloren.
Die der Entwicklung der Menschheit zugrunde liegenden Prozesse wirken aber weiter. Zu ihnen gehört die Arbeitsteilung und damit der Austausch von Produkten und Ideen zunächst über die Grenzen einzelner menschlicher Horden, dann einzelner Regionen, dann einzelner Länder, schließlich ganzer Kontinente hinweg. Das
29Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 13, Berlin 1975,
S. 8f
Zusammenwachsen der Menschheit zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft ist ein objektiver Prozess. Er wirkt trotz der Unfähigkeit des westeuropäischen und USAamerikanischen Proletariats, im 19. Jahrhundert die Macht zu übernehmen und trotz der Niederlage des osteuropäisch/russisch-asiatischen Proletariats im 20. Jahrhundert weiter. Weil sich das Zusammenwachsen der Menschheit zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft aber nun nicht, wie von Marx und Engels und Rosa und Wladimir erhofft, unter sozialistischem, sondern unter kapitalistischen Banner vollzog und stellenweise immer noch vollzieht, findet es in deformierter Form statt. Imperialismus ist pervertierter Sozialismus. Was als Zusammenwachsen der Völker friedlich hätte vonstatten gehen können, wird mit Gewehren, Panzern und Raketen kriegerisch erzwungen. Aus Produktivkräften werden Destruktivkräfte, vor denen sich die Menschen ängstlich ducken statt sie selbstbewußt zu beherrschen. Sie verkennen sie als fremde, sie beherrschende Macht statt sie stolz als Ergebnis ihrer eigenen Schöpferkraft zu genießen und sich dienbar zu machen.
So lauern auf dem Weg, den die Menschheit in dieser Epoche des Übergangs vom Kapitalismus über den Sozialismus zum Kommunismus gehen wird, zur Zeit zwei Katastrophen, den Höllenhunden in den Märchen der deutschen Gebrüder Grimm gleich. Die eine Katastrophe ist der drohende dritte Weltkrieg. Seine Hauptursache ist die dumpfe Ahnung der unter Führung der USA in der NATO zusammengeschlossenen imperialistischen Länder, dass sie die Möglichkeit, die Welt nach ihren Vorstellungen zu beherrschen, auf Dauer verlieren, wenn sie das gegenwärtige Erstarken des globalen Südens unter der Führung der in den BRICS-Staaten zusammengeschlossenen Milliardenmassen zulassen. Insbesondere die Tatsache, dass diese Erhebung gegen ihre Vorherrschaft faktisch unter Führung einer kommunistischen Partei stattfindet, die das ökonomisch mittlerweile wahrscheinlichste stärkste Land der Welt, also China, anführt, vermehrt in den dortigen Eliten die finstere Entschlossenheit, eher - wie der französische Adel 1789 - alles mit ihnen untergehen zu lassen als das zuzulassen.
Also steht der Kampf um den Frieden an erster Stelle des Kampfes um den Epochenübergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Die Menschen des Donbass - ob sich das nun, um Marx erneut zu zitieren, in ihrem „Bewußtsein" klar ablagern oder nicht - stehen in diesem Kampf an vorderster Front. Gelänge es den militärisch in der NATO zusammengeschlossenen imperialistischen Mächten nicht nur, wie in den Jahrzehnten nach 1949, Länder der Größe und Stärke des Irak, Indonesiens oder noch kleinerer Länder und anders als Kuba oder Vietnam von einem den Interessen der USA-Führung widerstrebenden Kurs abzuhalten, sondern auch an Russland das biblische Exempel zu statuieren, „und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich Dir den Schädel ein", dann würde das Imperium mit der geballten Macht und diesem Sieg im Rücken versuchen, den Aufstieg Chinas militärisch zu unterbinden und damit den Übergang zu einer neuen Epoche der Menschheit um Jahrzehnte, wenn nicht um Jahrhunderte zurückzuwerfen. Auch deshalb stehen alle ernsthaft an Marx und Engels geschulten
Deutschen (viele sind es zur Zeit leider nicht) fest an der Seite der Menschen im Donbass.
Nehmen wir an, es gelänge, den großen Krieg abzuwenden. Dann lauert auf uns der zweite Höllenhund. Der große Lenin hat zuweilen Losungen formuliert, die noch prophetischer waren als er vermutlich selbst angenommen hat. Seine Formel „Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes" ist so eine Losung, die von fast unheimlicher Klarheit ist.
Denn klar ist: Stiege die weltweite Temperatur auf diesem Planeten, die jetzt schon 1,5 Grad über der Durchschnittstemperatur vor der Industrialisierung liegt, weiter an auf vielleicht sogar zwei, drei oder gar vier Grad über dem vorindustriellen Niveau, würde das Leben nicht nur für zehntausende, sondern für Millionen oder gar Milliarden Menschen nicht mehr möglich sein. Also muss die Menschheit - und auch hier ist das kommunistisch regierte China nicht zufällig führend - in der Perspektive seine Energie nicht mehr als dem Verbrennen fossiler Energieträger, sondern aus der klugen Nutzung von Wind- und vor allem Sonnenenergie nutzen. „Bei einem Anteil von 80 Prozent an der Versorgung und einer Weltbevölkerung von zehn Milliarden, die etwa auf dem europäischen Wohlstandsniveau lebt, würden dafür Solaranlagen mit einer Leistung von 100 Terrawatt (100.000 Gigawatt) benötigt... Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) waren Ende 2023 insgesamt 1,6 Terrawatt installiert" 30 Eine solche globale Elektrifizierung der Welt braucht weltweit die Sowjetmacht, also den Kommunismus - imperialistisch wird sie niemals gelingen. Und in dieser Lage marschiert die NATO an den Grenzen der russischen Föderation auf, jagt ihre Rüstungshaushalte auf Kosten der Menschen in ihren eigenen Ländern in die Höhe und faselt von chinesischen „Überkapazitäten" in der Solarindustrie, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte statt eine weltweite Bewegung zur Elektrifizierung unserer energetischen Basis gemeinsam mit allen Völkern dieser Welt zu starten.
Kurz und gut: Wir kämpfen weiter unseren großen Kampf um den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wir haben Rückschläge erlitten. Unser Helm trägt auch Beulen, die nicht vom Gegner kommen. Aber wir sind auf Kurs.
Und was die deutschen und die russischen Kommunistinnen und Kommunisten anlangt: Wir haben das zweifelhafte Privileg, dass uns das Banner des Fortschritts, das wir zeitweilig an der Spitze der für ihre Befreiung kämpfenden Menschheit getragen haben, im Eifer der Gefechte auch mal aus den Händen geglitten ist. Die Deutschen hatten das Privileg, dass in ihrem Land die beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus geboren und aufgewachsen sind und sie haben bis heute das Privileg, ihre Werke in ihrer Muttersprache lesen zu können. Bis auf die historisch kurze Zeitspanne von 1949 bis 1989 und auch hier nur auf dem Teil Deutschlands, der dank der Hilfe der Roten Armee der Sowjetunion als DDR einen sozialistischen Weg einschlagen konnte,
30 Wolfgang Pomrehm, Solarausbau mit Faktor zehn, in: junge welt, 18. September 2024, Sonderbeilage „Kampf ums Klima". 88
haben die Deutschen dieses wertvollste Erbe ihrer Geschichte ausgeschlagen.
Die Russen hatten das Privileg, unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin den ersten über viele Jahrzehnte existierenden Arbeiter- und Bauernstaat zu errichten - und 1990 wieder zu verlieren. Umsonst war davon kein Jahr und keine Tat und vergessen auch nicht. Und so reihen wir uns ein in die Generationen, die in dieser „Epoche sozialer Revolution" leben und kämpfen.
Literaturverzeichnis:
1. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, in: Marx Engels Werke (MEW), Band 13, Berlin 1975, S. 8f.
2. Wolfgang Pomrehm, Solarausbau mit Faktor zehn, in: junge welt, 18. September 2024, Sonderbeilage «Kampf ums Klima».
R e f e r e n c e s:
1. Carolus Marx, Zur Kritik Der Politischen Ökonomie, Praefatio, in: Marx Engels Werke (MEW), Volumen 13, Berolinensis 1975, p. 8f.
2. Wolfgangus Pomrehm, expansio Solaris cum factore decem, in: junge welt, 18 septembris 2024, Supplementum Speciale "Pro climate Pugnare".